HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 363
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 632/18, Urteil v. 10.10.2019, HRRS 2020 Nr. 363
1. Auf die Revision des Angeklagten P. wird das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 22. Februar 2018, soweit dieser Angeklagte verurteilt wurde, im Strafausspruch und im Ausspruch über die Dauer des Vorwegvollzugs aufgehoben.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten P. wegen bandenmäßigen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen dem schriftlichen Urteil zufolge zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 13 Jahren verurteilt und seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Im Übrigen hat es ihn freigesprochen.
Gegen diese Verurteilung wendet sich der Angeklagte nur mit der nicht ausgeführten Sachrüge. Die Revision des Angeklagten hat im Strafausspruch Erfolg.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts schlossen sich der Angeklagte und weitere Tatbeteiligte im Sommer 2016 zu einer Bande zusammen, um im Raum N. Heroin zu verkaufen, wobei der Angeklagte die ausschließliche Befehlsgewalt hatte und die Bandenmitglieder auch dann kontrollierte, wenn er sich nicht vor Ort aufhielt. Er beschaffte das Heroin, sorgte für dessen Lagerung in verschiedenen Bunkern der Gruppierung, rekrutierte die Verkäufer (sog. „Läufer“) und brachte sie in Pensionen in N. unter. Bandenmitglieder übernahmen das Heroin zu einem vom Angeklagten festgesetzten Kaufpreis, streckten und portionierten es in Plomben zu je fünf Gramm und versorgten sodann die Läufer. Die Läufer verkauften die Plomben zu den vom Angeklagten vorgegebenen Preisen an von ihm bestimmten Orten an die von ihm genannten Abnehmer.
Der Angeklagte führte in dieser Weise Heroin aus drei getrennten Vorratsmengen - 378,3 Gramm (Wirkstoffgehalt 10 % Heroinhydrochlorid) von Anfang bis Mitte Juli 2016, 368,6 Gramm (Wirkstoffgehalt 10 % Heroinhydrochlorid) vom 21. Oktober 2016 bis 20. November 2016 und 970 Gramm (Wirkstoffgehalt 15 % Heroinhydrochlorid) vom 21. November 2016 bis 20. Dezember 2016 - dem Verkauf zu.
2. Das schriftliche Urteil weist hinsichtlich des Angeklagten P. im Tenor und in den Strafzumessungsgründen - in sich widerspruchsfrei - eine Gesamtfreiheitsstrafe von 13 Jahren aus. Dagegen nennt das Hauptverhandlungsprotokoll als verkündeten Tenor eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Jahren. Der dem Protokoll angefügte Urteilstenor, den Berufsrichter und Schöffen unterschrieben haben, bekundet wiederum eine Gesamtfreiheitsstrafe von 13 Jahren, ebenso wie die im Protokoll wiedergegebene Haftentscheidung und der dem Protokoll angehängte Haftbefehl.
Die Nachprüfung des angefochtenen Urteils aufgrund der Sachrüge hat zum Schuldspruch und zur Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Indes hat der Strafausspruch keinen Bestand.
1. Zwar ist die Strafzumessung grundsätzlich Sache des Tatgerichts. Das Revisionsgericht kann jedoch eingreifen, wenn ein Rechtsfehler vorliegt, namentlich die tatrichterlichen Zumessungserwägungen defizitär oder in sich fehlerhaft sind.
Ein solcher Rechtsfehler liegt hier vor. Angesichts der beträchtlichen Höhe der verhängten Einzelstrafen hätte es einer eingehenderen Begründung bedurft (vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 2. Dezember 2015 - 2 StR 317/15 Rn. 4; vom 29. November 2012 - 5 StR 522/12 Rn. 4; vom 19. Juni 2012 - 5 StR 264/12 Rn. 3 und vom 20. September 2010 - 4 StR 278/10 Rn. 5; jeweils mwN; vgl. auch BGH, Urteil vom 1. September 1993 - 2 StR 308/93, BGHR BtMG § 29 Strafzumessung 26). Die Strafkammer beschränkt sich lediglich darauf mitzuteilen, um wieviel die nicht geringe Menge überschritten ist, dass es sich bei Heroin um eine gefährliche Droge handelt und der Angeklagte nicht einschlägig vorbestraft ist. Vor allem die nur rudimentär dargestellten Strafschärfungsgründe lassen die verhängten Strafen nicht ohne weiteres nachvollziehbar erscheinen.
2. Da es sich insoweit nur um einen Wertungsfehler handelt, können die Feststellungen bestehen bleiben (vgl. § 353 Abs. 2 StPO). Allerdings zieht die Aufhebung des Strafausspruchs den Wegfall des angeordneten Vorwegvollzugs eines Teils der Strafe nach sich. Das neue Tatgericht kann ergänzende Feststellungen treffen, die mit den bisherigen nicht in Widerspruch stehen.
Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung. Im Übrigen merkt der Senat an:
Ungeachtet der Frage, ob eine Gesamtfreiheitsstrafe von deutlich über zehn Jahren überhaupt nach dem Vorgesagten rechtsfehlerfrei verhängt werden kann, ist zu beachten, ob unter dem Verbot der Schlechterstellung (§ 358 Abs. 2 Satz 1 StPO) eine Obergrenze von 13 Jahren Freiheitsstrafe, wie in der Formel und den Gründen (§ 267 StPO) im schriftlichen Urteil niedergelegt, oder eine solche von zwölf Jahren, wie im Hauptverhandlungsprotokoll dokumentiert (§ 268 Abs. 2 Satz 1, § 273 Abs. 1 Satz 1 StPO), zu wahren ist. Der Senat hat Bedenken, dem 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 3. Mai 2019 - 3 StR 462/18 Rn. 3-5) zu folgen, der eine Verfahrensrüge des Beschwerdeführers (§ 344 Abs. 2 Satz 1 Alternative 1, Satz 2 StPO) für erforderlich hält, um ein Abweichen des Urteilstenors aus der zu den Akten gebrachten Urteilsurkunde von der verkündeten Urteilsformel in der Revisionsinstanz zu erkennen (vgl. auch BGH, Beschlüsse vom 6. Februar 2013 - 1 StR 529/12; vom 9. Mai 2001 - 2 StR 42/01 und vom 4. Februar 1986 - 1 StR 643/85, BGHSt 34, 11, 12 f.; Urteil vom 19. Oktober 2011 - 1 StR 336/11 Rn. 6-8).
Dem vermag der Senat schon deshalb nicht zu folgen, weil das Rüge- und Vortragserfordernis nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO nur für Verfahrensverstöße gilt. Es erscheint geboten, die Übereinstimmung des Tenors aus der Urteilsurkunde mit der verkündeten Urteilsformel von Amts wegen zu prüfen. Deshalb können die Formalerfordernisse einer Verfahrensrüge hierfür nicht gelten. Dies ergibt sich - jenseits der Beschlüsse vom 15. Juni 2010 - 4 StR 151/10 Rn. 1; vom 20. Oktober 2009 - 4 StR 340/09 Rn. 1 f.; vom 14. Januar 2009 - 4 StR 579/08 Rn. 2 f.; vom 24. Juli 2007 - 4 StR 311/07 Rn. 1 und vom 13. September 1991 - 3 StR 315/91, BGHR StPO § 274 Beweiskraft 10 sowie Urteile vom 8. November 2017 - 2 StR 542/16 Rn. 1, 13-19; vom 11. November 1998 - 5 StR 325/98 Rn. 2 f. (insoweit in BGHSt 44, 251 nicht abgedruckt) und vom 5. September 2007 - 2 StR 306/07 Rn. 3 und der Verfahrenspraxis des Generalbundesanwalts - im Wesentlichen aus Folgendem:
1. Nur mit Verkündung der Urteilsformel nach § 268 Abs. 2 Satz 1 StPO ergeht „ein Urteil im Rechtssinne“ (BGH, Urteile vom 8. Juli 1955 - 5 StR 43/55, BGHSt 8, 41, 42; vom 2. Dezember 1960 - 4 StR 433/60, BGHSt 15, 263, 264 und vom 26. Juli 1961 - 2 StR 575/60, BGHSt 16, 178, 180; LR/Stuckenberg, StPO, 26. Aufl., § 268 Rn. 20 und § 260 Rn. 25; MüKo-StPO/Moldenhauer, § 268 Rn. 12; Kuckein/Bartel in KK-StPO, 8. Aufl., § 268 Rn. 3). Hingegen ist die Übernahme der Urteilsformel in die Urteilsurkunde keine Voraussetzung für die Existenz des Urteils (BGH, Urteil vom 5. September 2007 - 2 StR 306/07 Rn. 3; vgl. auch BGH, Urteil vom 11. November 1998 - 5 StR 325/98 Rn. 4 für den Fall der unvollständigen Aufnahme des verkündeten Schuldspruchs in die Urteilsurkunde).
Neben dem Vorliegen der Verfahrensvoraussetzungen einer wirksamen Anklageerhebung und eines wirksamen Eröffnungsbeschlusses (st. Rspr.; BGH, Urteil vom 28. Oktober 2009 - 1 StR 205/09 Rn. 91; Beschlüsse vom 14. Februar 2007 - 3 StR 459/06 Rn. 2 und vom 13. November 2003 - 5 StR 376/03 Rn. 14) sowie dem Fehlen von Verfahrenshindernissen (etwa Verjährung, vgl. BGH, Beschluss vom 7. März 2019 - 3 StR 192/18 Rn. 64 mwN) ist auch die Existenz eines erstinstanzlichen Urteils und dessen Inhalt vom Revisionsgericht von Amts wegen zu prüfen. Denn das Revisionsverfahren setzt ein auf Rechtsfehler zu prüfendes erstinstanzliches Urteil voraus. Das angefochtene Urteil ist damit nicht nur Gegenstand des Revisionsverfahrens, sondern Ausgangspunkt jeglicher revisionsrechtlichen Prüfung. Die wirksame Verkündung eines Urteils, die sich nur aus dem Hauptverhandlungsprotokoll ergeben kann und an dessen Beweiskraft teilnimmt (§ 274 Satz 1 StPO), ist damit gewissermaßen Verfahrensvoraussetzung für das Revisionsverfahren und als solche von Amts wegen zur Kenntnis zu nehmen und zu prüfen. Ohne Kenntnisnahme des verkündeten Urteils wäre auch die amtswegig gebotene Prüfung, ob das Urteil den angeklagten und vom Eröffnungsbeschluss umgrenzten Sachverhalt betrifft und erschöpft (vgl. dazu nur BGH, Beschluss vom 13. Februar 2019 - 4 StR 555/18 Rn. 8; Urteil vom 21. Januar 2010 - 4 StR 518/09 Rn. 1, 3, 6), unmöglich.
2. Bei Divergenz ist der „authentische“ Wortlaut der Urteilsformel aus der Sitzungsniederschrift gegenüber der Urteilsurkunde maßgeblich (BGH, Beschlüsse vom 6. Februar 2013 - 1 StR 529/12 Rn. 2; vom 20. Oktober 2009 - 4 StR 340/09 Rn. 2; vom 9. Mai 2001 - 2 StR 42/01 Rn. 2; vom 13. September 1991 - 3 StR 315/91, BGHR StPO § 274 Beweiskraft 10 und vom 4. Februar 1986 - 1 StR 643/85, BGHSt 34, 11, 12; Urteil vom 19. Oktober 2011 - 1 StR 336/11 Rn. 9). Denn allein das Protokoll beweist nach § 274 Satz 1 StPO, welche Urteilsformel der Vorsitzende tatsächlich verkündet hat.
Die Divergenz zwischen der Urteilsformel aus dem Protokoll und der aus der Urteilsurkunde begründet einen Rechtsfehler. Nur unter dem Gesichtspunkt des Beruhens (§ 337 Abs. 1 StPO) kann das Revisionsgericht auf die niedrigere Strafe durcherkennen (§ 354 Abs. 1 StPO entsprechend; BGH, Urteil vom 19. Oktober 2011 - 1 StR 336/11 Rn. 9; Beschluss vom 20. Oktober 2009 - 4 StR 340/09 Rn. 2). Dies scheidet hier aus.
HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 363
Externe Fundstellen: NStZ 2020, 371
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede