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HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 317

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 373/11, Beschluss v. 12.01.2012, HRRS 2012 Nr. 317


BGH 1 StR 373/11 - Beschluss vom 12. Januar 2012 (LG Potsdam)

Angriffsrichtung der Verfahrensrüge; Konzentrationsmaxime (Fristen); Ablehnung eines Beweisantrages wegen Prozessverschleppung (Verdunkelungsversuch; Beweisantizipation); wesentliche Beschränkung der Verteidigung (Ablehnung einer Unterbrechung bei Erkrankung einer Wahlverteidigerin; Beschleunigungsgrundsatz); Rüge der fehlerhaften Besetzung (Angriffsrichtung; Übergehen eines Besetzungseinwandes); verweigerte Beiordnung eines Wahlverteidigers als Pflichtverteidiger (Sicherungsverteidiger; Recht auf einen Verteidiger des Vertrauens).

§ 229 Abs. 2 und 3 StPO; § 244 Abs. 3 StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 258 StPO; § 338 Nr. 1, Nr. 8 StPO; Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 lit. c EMRK; § 141 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Eine Rüge des Verstoß gegen § 229 Abs. 2 i.V.m. Abs. 3 StPO darf nicht auf einen Alternativsachverhalt gestützt werden, nach dem kein bestimmter Verfahrensverstoß behauptet wird. Das Revisionsgericht darf nicht lediglich aufgefordert werden, zu prüfen, ob in irgendeiner Richtung ein Verstoß gegen die Vorschrift des § 229 StPO vorliege. Das Revisionsvorbringen muss eine bestimmte Angriffsrichtung erkennen lassen.

2. Einzelfall eines Schlusses auf die Prozessverschleppungsabsicht bei dem Versuch, die Aussage eines Zeugen als sachnäherem Beweismittel zu verhindern.

3. Wird dem Angeklagten zusätzlich zu seinen beiden Wahlverteidigern eine weitere Pflichtverteidigerin beigeordnet, liegt darin - wenn die Wahlverteidiger trotz der ausgebliebenen Beiordnung als Pflichtverteidiger ihr Mandat nicht niederlegen - für den Angeklagten kein Nachteil.

Entscheidungstenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Potsdam vom 24. September 2010 wird als unbegründet verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO).

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten, einen Rechtsanwalt, wegen Betruges in zwei Fällen, Subventionsbetruges und versuchter Steuerhinterziehung - unter Einbeziehung einer zur Bewährung ausgesetzten rechtskräftigen Freiheitsstrafe von zehn Monaten wegen Veruntreuung von Mandantengeldern - zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Zur Kompensation einer konventionswidrigen Verfahrensverzögerung hat es hiervon sechs Monate für vollstreckt erklärt.

Die auf mehrere Verfahrensrügen und die ausgeführte Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten ist aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 30. August 2011 dargelegten Gründen unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO. Ergänzend bemerkt der Senat zu den nachfolgend näher bezeichneten Verfahrensrügen Folgendes:

1. Rüge eines Verstoßes gegen § 229 Abs. 2 i.V.m. Abs. 3 StPO (RB Ziffer VI)

a) Die Revision macht einen Verstoß gegen § 229 Abs. 2 i.V.m. Abs. 3 StPO geltend, der darin liege, dass "die dort gesetzlich vorgeschriebenen Fristen nicht eingehalten" worden seien. Gegenstand der Rüge ist eine Unterbrechung der Hauptverhandlung wegen einer vom Angeklagten behaupteten Erkrankung im Bereich der Lendenwirbelsäule. Die Revision stützt den von ihr angenommenen Verstoß auf einen Alternativsachverhalt. Entweder sei der Angeklagte zum Zeitpunkt der Fortsetzung der Hauptverhandlung noch nicht gesund oder aber sei er gar nicht krank gewesen, und habe seine Krankheit nur vorgetäuscht (RB S. 267).

b) Die Rüge entspricht nicht den Voraussetzungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO und ist deshalb bereits unzulässig, denn mit ihr wird kein bestimmter Verfahrensverstoß behauptet. Wie der Generalbundesanwalt zutreffend ausgeführt hat, schließen sich beide Sachverhaltsvarianten gegenseitig aus.

Letztlich wird das Revisionsgericht lediglich aufgefordert zu prüfen, ob in irgendeiner Richtung ein Verstoß gegen die Vorschrift des § 229 StPO vorliege. Damit lässt das Revisionsvorbringen eine bestimmte Angriffsrichtung nicht erkennen. Der Angeklagte war auch in der Lage, klar anzugeben, ob er seine Krankheit lediglich vorgetäuscht hatte oder nicht. Er wusste selbst am besten, welche Krankheitssymptome er verspürte, als er - wie im Observationsbericht und im daraufhin gegen ihn ergangenen Haftbefehl festgestellt - Müllsäcke mit einem Gewicht von 25 kg eine Treppe hinuntertrug, Einkaufs-, Schul- und Sporttaschen zwischen Auto und Haus hin- und herschleppte, täglich mit einem Porsche Carrera am Straßenverkehr teilnahm und über drei Stunden in gebückter Haltung den Garagenvorplatz reinigte.

2. Rüge der Verletzung des § 244 Abs. 3 StPO im Hinblick auf die Zurückweisung eines Beweisantrages wegen Prozessverschleppung (RB Ziffer II 3) Die Beanstandung der Revision, das Landgericht habe den Antrag auf Einholung eines Gutachtens eines Schriftsachverständigen, mit dem bewiesen werden sollte, der Zeuge C. habe bestimmte Schriftstücke eigenhändig unterschrieben, zu Unrecht wegen Prozessverschleppungsabsicht gemäß § 244 Abs. 3 StPO abgelehnt, dringt nicht durch. Ergänzend zu den Ausführungen des Generalbundesanwalts zum Vorliegen eines Beweisermittlungsantrags, zur Reichweite der Aufklärungspflicht und zum jedenfalls fehlenden Beruhen bemerkt der Senat Folgendes:

Die Erwägungen der Strafkammer tragen auch die von ihr gezogenen Schlüsse, der Antrag auf Einholung eines Schriftsachverständigengutachtens sei allein zum Zweck der Prozessverschleppung im Sinne von § 244 Abs. 3 Satz 2 Var. 6 StPO gestellt worden und die beantragte Beweiserhebung habe nichts Sachdienliches zu Gunsten des Angeklagten erbringen können. Die Strafkammer konnte hierbei dem Umstand, dass der Angeklagte zunächst versucht hatte, das Erscheinen des Zeugen C. - als sachnäheres Beweismittel - und dessen Aussage vor Gericht zu verhindern, und den Zeugen dazu sogar persönlich in Italien aufgesucht hatte, maßgebliche Bedeutung beimessen.

Nachdem dieser Verdunkelungsversuch gescheitert war und als nach einer Hauptverhandlung mit einer Dauer von über einem Jahr eine insgesamt erdrückende Beweislage gegen den Angeklagten bestand, durfte die Strafkammer den Antrag auf Einholung eines Gutachtens eines Schriftsachverständigen als allein zum Zwecke der Verfahrensverzögerung gestellt ansehen. Dabei konnte sie in ihre Bewertung einbeziehen, dass keiner der hierzu bisher vernommenen Zeugen - danach angefallene abweichende Erkenntnisse sind weder von der Revision behauptet worden noch aus den Urteilsgründen ersichtlich - Angaben im Sinne der Beweisbehauptung gemacht hatte und sowohl der Zeuge C. als auch der Zeuge V. vehement bestritten hatten, dass die Firma T. Vertragsverhältnisse mit deutschen Firmen bezüglich des Vorhabens der P. GmbH eingegangen waren. Hinzu kommt, dass der vom Beweisantrag umfasste Generalunternehmervertrag zwischen der Firma T. und der Firma Z. in der Ausfertigung des Zeugen Z. gerade keinen Firmenstempel der Firma T. und keine Unterschrift des Zeugen C. aufwies.

Nicht zu beanstanden ist auch die Überzeugung der Strafkammer, die Wahlverteidigerin - auf die es bei dem von ihr gestellten Antrag ankommt - habe die Nutzlosigkeit der beantragten Beweiserhebung sowie die damit verbundene Verfahrensverzögerung erkannt und sie habe mit ihrem Antrag auch ausschließlich die Verzögerung des Verfahrensabschlusses bezweckt (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 9. Mai 2007 - 1 StR 32/07 Rn. 16, BGHSt 51, 333, 336). Die Strafkammer durfte bei ihrer Würdigung den bisherigen Verfahrensverlauf berücksichtigen (BGH aaO Rn. 16).

3. Rüge eines Verstoßes gegen § 258 Abs. 1 StPO (RB Ziffer V)

a) Die Rüge, der Wahlverteidigerin sei keine Gelegenheit gegeben worden, einen Schlussvortrag zu halten (§ 258 Abs. 1 StPO), greift nicht durch.

Wie die Revision selbst vorträgt, war die Wahlverteidigerin, Rechtsanwältin R., an dem Hauptverhandlungstag, für den die Plädoyers der Verteidigung geplant waren, erkrankt. Damit scheidet ein Verstoß gegen § 258 Abs. 1 StPO aus; denn einem in der Hauptverhandlung nicht anwesenden Verteidiger kann keine Gelegenheit zum Schlussvortrag gegeben werden (vgl. auch BayObLG - Urteil vom 20. März 1981 - RReg. 1 St 13/81, VRS 61, 128; Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 258 Rn. 12).

b) Die Verfahrensbeanstandung bleibt auch dann ohne Erfolg, wenn mit ihr zugleich ein Verstoß gegen § 338 Nr. 8 StPO geltend gemacht werden sollte, der darin liegen soll, dass der im Hinblick auf die Erkrankung der Wahlverteidigerin gestellte Antrag der Pflichtverteidigerin auf Unterbrechung der Hauptverhandlung durch Gerichtsbeschluss zurückgewiesen wurde.

aa) Die Rüge wäre mit dieser Angriffsrichtung bereits unzulässig, weil sie dann den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO nicht entspräche.

Es fehlen jegliche Angaben zu Art, Umfang und tatsächlicher Dauer der Erkrankung der Wahlverteidigerin sowie dazu, ob innerhalb der Unterbrechungsfrist des § 229 Abs. 1 StPO eine Fortsetzung der Hauptverhandlung noch möglich gewesen wäre. Auch wird nicht mitgeteilt, aus welchem Grund der weitere Wahlverteidiger des Angeklagten, Rechtsanwalt Dr. E., nicht an der Stelle der erkrankten Wahlverteidigerin R. an der Hauptverhandlung hätte teilnehmen und einen Schlussvortrag halten können.

bb) Die Rüge wäre jedenfalls unbegründet, denn der Beschluss der Strafkammer, die Hauptverhandlung trotz der Erkrankung der Wahlverteidigerin nicht zu unterbrechen, hält rechtlicher Nachprüfung stand. Ein Zuwarten mit dem Abschluss der Hauptverhandlung, bis eine Sitzung mit der Wahlverteidigerin hätte durchgeführt werden können, war nicht geboten.

Der Angeklagte war durch die anwesende Pflichtverteidigerin, die auch einen Schlussvortrag gehalten hat, ordnungsgemäß verteidigt. Die Pflichtverteidigerin hatte, von wenigen Ausnahmen abgesehen, den Angeklagten an sämtlichen Hauptverhandlungstagen verteidigt, was für die Wahlverteidigerin gerade nicht zutrifft, denn sie war bereits vorher an mehr als der Hälfte der Hauptverhandlungstage nicht anwesend gewesen. Entgegen der Auffassung der Revision lässt sich weder aus der Länge des von der Pflichtverteidigerin gehaltenen Schlussvortrags noch aus dem von ihr gestellten Unterbrechungsantrag schließen, die Pflichtverteidigerin sei zu einem ordnungsgemäßen Schlussvortrag nicht in der Lage gewesen. Auch werden keine Gründe vorgetragen und sind auch sonst nicht ersichtlich, die einer Wahrnehmung dieses Sitzungstages und einem Schlussvortrag durch den weiteren Wahlverteidiger des Angeklagten, Rechtsanwalt Dr. E., entgegengestanden hätten. Dieser Verteidiger genoss, wie dem Revisionsvortrag zu entnehmen ist, ebenfalls das umfassende Vertrauen des Angeklagten.

Auch sonst lässt die vom Landgericht vorgenommene Abwägung zwischen dem Interesse des Angeklagten an einem Zuwarten und dem Beschleunigungsgrundsatz (vgl. Artikel 6 Abs. 1 Satz 1 MRK) bei der Ablehnung einer Unterbrechung der Hauptverhandlung bis zur Genesung der Wahlverteidigerin Rechtsfehler nicht erkennen. Das Landgericht weist in dem Ablehnungsbeschluss ausdrücklich darauf hin, dass es bereits die Unterbrechung bis zu dem Tag, an dem die Wahlverteidigerin wegen einer Erkrankung nicht teilnehmen konnte, mit Rücksicht auf deren Verhinderung am vorherigen Verhandlungstag vorgenommen hatte. Ein weiteres Zuwarten war dem Landgericht angesichts der ordnungsgemäßen Verteidigung durch die Pflichtverteidigerin auch schon deshalb nicht zumutbar, weil nicht absehbar war, wann ein neuer Hauptverhandlungstag mit der Wahlverteidigerin durchführbar sein würde (vgl. auch BGH, Beschluss vom 9. November 2006 - 1 StR 474/06, wistra 2007, 228).

4. Rüge eines Verstoßes gegen §§ 338 Nr. 8 i.V.m. § 141 StPO (RB Ziffer IV)

Die Rüge, das Landgericht habe dem Angeklagten zu Unrecht entgegen seinem ausdrücklichen Willen nicht seine beiden Wahlverteidiger, Rechtsanwältin R. und Rechtsanwalt Dr. E., sondern Rechtsanwältin Dr. S. als Pflichtverteidigerin beigeordnet, versagt ebenfalls.

a) Die Verfahrensrüge genügt aus den zutreffenden Erwägungen in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts bereits nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO und ist deshalb unzulässig.

b) Die Rüge könnte auch in der Sache keinen Erfolg haben. Denn die Beiordnung von Rechtsanwältin Dr. S. als Pflichtverteidigerin hatte nicht zur Folge, dass die Wahlverteidiger ihr Mandat niederlegten. Vielmehr wurde der Angeklagte nunmehr sogar durch drei Verteidiger, nämlich zwei Wahlverteidiger und eine Pflichtverteidigerin, verteidigt. Es ist nicht ersichtlich, dass die Verteidigung des Angeklagten durch drei statt einen Verteidiger für den Angeklagten von Nachteil gewesen sein könnte. Vielmehr bestätigen bereits die vielen Abwesenheitszeiten der beiden Wahlverteidiger, die während der von Juli 2009 bis September 2010 dauernden Hauptverhandlung jeweils von Frankfurt am Main nach Potsdam zu den Hauptverhandlungsterminen reisen mussten, dass die Beiordnung von Rechtsanwältin Dr. S. neben diesen beiden Wahlverteidigern sachgerecht war.

5. Rüge eines Verstoßes gegen § 222b StPO i.V.m. § 338 Nr. 1 Buchst. b StPO (RB Ziffer IV)

Die Revision rügt, es liege ein Verstoß gegen § 222b StPO i.V.m. § 338 Nr. 1 Buchst. b StPO vor, weil "über eine Besetzungsrüge nicht entschieden wurde." Sie meint, der absolute Revisionsgrund der fehlerhaften Besetzung des Gerichts liege bereits deswegen vor, weil der Einwand der vorschriftsmäßigen Besetzung im Sinne des § 338 Nr. 1 Buchst. b 1. Alt. StPO übergangen worden sei.

Mit dieser Angriffsrichtung versagt die Rüge, worauf der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift zutreffend hinweist, bereits im Ansatz. Denn das Übergehen eines Besetzungseinwandes stellt lediglich eine Zulässigkeitsvoraussetzung der Besetzungsrüge nach § 338 Nr. 1 StPO dar. Eine solche Rüge kann aber nur dann Erfolg haben, wenn die Besetzung tatsächlich vorschriftswidrig war. Dies wird hier indes gerade nicht behauptet. Vielmehr macht die Revision allein geltend, ein absoluter Revisionsgrund liege deshalb vor, weil über den erhobenen Besetzungseinwand nicht entschieden worden sei.

Etwaige Zweifel an der Angriffsrichtung dieser Rüge hat die Revision spätestens in ihrer Gegenerklärung zur Antragsschrift des Generalbundesanwalts ausgeräumt. Dort stellt die Revision nochmals klar, dass es in dem vorliegenden Fall, in dem das Gericht einen Besetzungseinwand übergangen habe (§ 338 Nr. 1 Buchst. b 1. Alt. StPO), "nicht um die Überprüfung der Entscheidung der erkennenden Kammer" gehe, sondern allein darum, dass der Besetzungseinwand übergangen worden sei. Die Revision vertritt dabei die (unzutreffende) Auffassung, eine "inhaltliche Überprüfung des Besetzungseinwandes" sei dem Revisionsgericht hier verwehrt, weil eine solche nur erfolgen könne, wenn die erkennende Strafkammer eine Entscheidung getroffen habe.

HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 317

Externe Fundstellen: NStZ 2012, 462

Bearbeiter: Karsten Gaede