HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 201
Bearbeiter: Felix Fischer/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 401/24, Beschluss v. 23.10.2024, HRRS 2025 Nr. 201
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 29. Januar 2024 im Strafausspruch aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt und eine Einziehungsentscheidung getroffen. Die gegen dieses Urteil gerichtete, auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg, im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet.
1. Nach den rechtsfehlerfreien Feststellungen rempelte der Angeklagte den späteren Geschädigten, der mit einem Begleiter an der Nordseite des F. Hauptbahnhofs unterwegs war, absichtlich mit der Schulter an. Auf die Nachfrage des Geschädigten, was das solle, es gebe genug Platz und dem Angeklagten gehöre nicht die Straße, antwortete dieser sinngemäß, der Geschädigte könne ja nach Hause gehen, wenn ihm das nicht passe. Unmittelbar nach dem verbalen Schlagabtausch packte der Geschädigte den Angeklagten mit der linken Hand am Kragen seiner Jacke und am Hals. Sofort packte auch der Angeklagte den Geschädigten mit seiner linken Hand an Kragen und Hals. Der Begleiter des Geschädigten versuchte vergeblich, die beiden zu trennen.
Der Geschädigte wollte sich losreißen und fliehen. Der Angeklagte hielt ihn fest. Der Geschädigte zog daraufhin ein Cuttermesser mit einer Klingenlänge von 1,5 cm hervor und fügte dem Angeklagten an der Außenseite von dessen linker Hand eine 5 cm lange tiefe Schnittwunde zu, wobei er drei Strecksehnen vollständig und eine vierte Strecksehne teilweise durchtrennte. Ferner verletzte er eine Vene, was bei dem Angeklagten eine deutlich sichtbare Blutung hervorrief. Infolge der Verletzung der Sehnen war dem Angeklagten die Streckung der Finger seiner linken Hand nicht mehr möglich. Wie vom Geschädigten beabsichtigt, ließ der Angeklagte ihn daraufhin los.
Der Geschädigte ergriff die Flucht in Richtung Hauptbahnhof. Der Angeklagte lief ihm hinterher und rief, er werde den Geschädigten umbringen. Während der Flucht des Geschädigten durch den Hauptbahnhof sowie später in einer eingefahrenen S-Bahn stach der Angeklagte mit einer Schere sowie einem Messer mehrfach auf den Geschädigten mit Tötungsvorsatz ein, wodurch er diesen erheblich verletzte. Der Angeklagte konnte letztlich von Sicherheitskräften überwältigt und an der weiteren Tatausführung gehindert werden.
2. Während die Überprüfung des Schuldspruchs und der Einziehungsentscheidung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat, unterfällt der Strafausspruch der Aufhebung. Die Ablehnung der Voraussetzung eines minder schweren Falles des Totschlags gemäß § 213 Alt. 1. StGB begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Das Landgericht meint, die Anwendung der Vorschrift scheide aus, weil der Angeklagte das spätere Tatopfer „absichtlich und ohne jeden Grund auf offener Straße angerempelt“ habe. „Da diese initiale Aggression von dem Angeklagten“ ausgegangen sei, sei es „unerheblich, dass er wiederum durch die ihm im weiteren Verlauf“ von dem Geschädigten „zugefügte Verletzung zur Tat hingerissen wurde“. Dies ist rechtsfehlerhaft.
a) Eigene Schuld des Täters schließt die Annahme einer strafmildernden Provokation im Sinne des § 213 Alt. 1. StGB nur aus, wenn sie sich gerade auf die ihm vom Opfer zugefügte tatauslösende Misshandlung oder schwere Beleidigung bezieht. Die Annahme eigener Schuld am Entstehen der tatauslösenden Lage setzt voraus, dass der Täter dem Opfer genügende Veranlassung zur Provokation gegeben hat. Dieses Vorverhalten muss dem Täter vorwerfbar und in qualitativer Hinsicht geeignet sein, die darauf fußende Provokation des Opfers als verständliche Reaktion erscheinen zu lassen. Zu prüfen ist daher, ob die dem Täter zugefügte Misshandlung ihrerseits Ausfluss einer angemessenen Reaktion des Opfers auf die ihm zuvor durch den Täter zuteil gewordene Behandlung war. Fehlt es an der Proportionalität zwischen vorausgegangenem Fehlverhalten des Täters und der nachfolgenden Opferreaktion, ist die Schuld des Totschlägers an der Provokation mangels genügender Veranlassung zu verneinen. Die Prüfung der Angemessenheit des Opferverhaltens ist auf der Grundlage einer Würdigung aller für das Vorgehen des Tatopfers maßgeblichen Umstände vorzunehmen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 16. Januar 2018 - 4 StR 580/18, NStZ 2019, 409 mwN und vom 19. November 2019 - 2 StR 378/19, NStZ 2020, 88, 89; MüKoStGB/Schneider, 4. Aufl., § 213 Rn. 40).
b) Hieran gemessen ist die Begründung des Landgerichts lückenhaft. Es hat sich mit der Frage, ob der Messerangriff des Geschädigten noch eine angemessene Reaktion auf das Verhalten des Angeklagten war, nicht befasst. Eine Erörterung drängte sich hier auf, da ein zu einer erheblichen Schnittverletzung führender Angriff mit einem Messer jedenfalls nicht ohne Weiteres als verständliche und angemessene Reaktion auf das „Packen“ des Geschädigten „mit der linken Hand an Kragen und Hals“ des fluchtwilligen Geschädigten angesehen werden kann, nachdem er zuvor seinerseits den Angeklagten „mit der linken Hand am Kragen seiner Jacke und am Hals“ gepackt hatte.
c) Auf diesem Rechtsfehler beruht der Strafausspruch. Die Annahme eines minder schweren Falles nach § 213 Alt. 1. StGB hätte unter Berücksichtigung der von der Strafkammer vorgenommenen Milderung über § 23 Abs. 2, § 49 Abs. 1 StGB in die Anwendung des dann maßgeblichen Strafrahmens der tateinheitlich vollendeten gefährlichen Körperverletzung (Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren) geführt, der den von der Strafkammer ihrer konkreten Zumessung zugrunde gelegten Strafrahmen (Freiheitsstrafe von zwei Jahren bis zu elf Jahren und drei Monaten) deutlich unterschreitet. Angesichts dessen ist es auch ohne Belang, dass die Strafkammer bei der konkreten Strafzumessung den Eskalationsbeitrag des Geschädigten und die Verletzung des Angeklagten zu dessen Gunsten berücksichtigt hat.
3. Die Sache bedarf im Umfang der Aufhebung neuer Verhandlung und Entscheidung. Die Feststellungen sind von dem Wertungsfehler nicht betroffen und können bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO). Sie können, wie stets, um solche, die den bisherigen nicht widersprechen, ergänzt werden.
4. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass das nachvollziehbare Entsetzen von Passanten und Sicherheitsmitarbeitern über die von ihnen beobachtete Tat in einem stark frequentierten Hauptbahnhof nicht belegt, dass sich diese „auch negativ auf das Sicherheitsempfinden der Allgemeinheit bei der Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln“ ausgewirkt hat. Auf die Vermutung über mögliche Folgen der Tat darf die Strafzumessung aber nicht gestützt werden (vgl. BGH, Beschluss vom 30. Juli 2019 - 4 StR 194/19, NStZ 2020, 345).
HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 201
Bearbeiter: Felix Fischer/Karsten Gaede