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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 166

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 378/19, Beschluss v. 19.11.2019, HRRS 2020 Nr. 166


BGH 2 StR 378/19 - Beschluss vom 19. November 2019 (LG Hanau)

Minder schwerer Fall des Totschlags (erforderlicher Zusammenhang zwischen Provokation und Tatbegehung).

§ 213 1. Alt. StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Die Provokation und der durch die Misshandlung hervorgerufene Zorn müssen im Zeitpunkt der Tatbegehung noch anhalten und als nicht durch rationale Abwägung unterbrochene Gefühlsaufwallung fortwirken.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hanau vom 21. Mai 2019 im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Köperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge hinsichtlich des Strafausspruchs Erfolg; im Übrigen ist sie offensichtlich unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

I.

Die Rüge der Verletzung formellen Rechts ist nicht ausgeführt und deshalb unzulässig (§ 344 Abs. 2 StPO).

II.

Die Überprüfung der angegriffenen Entscheidung aufgrund der ausgeführten Sachrüge hat hinsichtlich des Strafausspruchs Erfolg; hinsichtlich des Schuldspruchs haben sich Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten nicht ergeben.

1. Das Landgericht hat einen „minder schweren Fall im Sinne des § 213 StGB“ mit der Begründung verneint, es lägen keine Gründe objektiver oder subjektiver Art vor, die die Anwendung des Regelstrafrahmens des § 212 Abs. 1 StGB als unangemessen erscheinen lassen würden. Es hat im Folgenden der konkreten Strafzumessung den gemäß den §§ 21, 23 Abs. 2, 49 Abs. 1 StGB zweifach gemilderten Strafrahmen des § 212 Abs. 1 StGB, der Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu acht Jahren und fünf Monaten vorsieht, zugrunde gelegt. Diese Strafrahmenwahl begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

2. Das Landgericht hat zwar ? wie sich aus der Begründung der Verneinung des § 213 StGB entnehmen lässt ? einen minder schweren Fall nach § 213 2. Alt. StGB verneint, hat es aber rechtsfehlerhaft versäumt zu erörtern, ob die Voraussetzungen des § 213 1. Alt. StGB vorliegen. Aus diesem Grund kann auch dahin stehen, ob auch die Prüfung des § 213 2. Alt. StGB durchgreifenden rechtlichen Bedenken unterliegt, weil dabei die beiden gesetzlich vertypten Milderungsgründe (§ 21 StGB bzw. § 23 StGB) unberücksichtigt geblieben sind.

a) Nach den Feststellungen des Landgerichts begann der Geschädigte im Vorfeld der Tat eine anfangs verbal geführte Auseinandersetzung mit dem aus Somalia stammenden Angeklagten, indem er ihm am 26. August 2018 gegen 1.45 Uhr beim Verlassen des Festzeltes auf einem Musikfest in B. abfällig zurief: „Geht doch dorthin, wo ihr herkommt“. Sodann „schnipste“ er ihm mit dem Finger die Kappe von dessen Kopf, um ihn weiter zu provozieren. Der Angeklagte geriet in Rage und rief mehrfach „Don‘t touch me, I kill you!“. Im Rahmen der nun folgenden körperlichen Auseinandersetzung schubste der Geschädigte den Angeklagten. Es kam zudem zu gegenseitigen Faustschlägen ins Gesicht. Dabei platzte die Oberlippe des Angeklagten auf. Nachdem die Ehefrau des Geschädigten ihren Ehemann weggezogen hatte, rief der Angeklagte hinterher: „I kill you!“. Er war sehr wütend und wollte die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Deshalb suchte er auf dem Gelände vor dem Festzelt nach Gegenständen, um sich zu bewaffnen. Dabei fand er eine Glasflasche, die er so abschlug, dass eine scharfe Schnittkante entstand. Der Angeklagte sammelte seine Begleiter ein und forderte sie auf, ihm zu folgen, um sich moralische Unterstützung zu sichern. Daraufhin rannte er ? mehrere Minuten nach der Auseinandersetzung vor dem Zelt ? dem Geschädigten hinterher. Als der Angeklagte mit seinen Begleitern den Geschädigten erreicht hatte, umstellten sie diesen. Dessen Frau warnte ihren Ehemann noch mit den Worten „Pass auf, er hat eine Flasche“. Ungeachtet dessen und obwohl einer der Begleiter des Angeklagten diesen noch abzuhalten versuchte, ging der Angeklagte wutentbrannt auf den Geschädigten in der Absicht zu, diesen zu töten. Er schlug ihm mit der rechten Faust ins Gesicht und stach zweimal mit dem abgebrochenen Flaschenhals direkt hintereinander in den Oberkörper seines Opfers.

b) Bei diesem Geschehensablauf wäre das Landgericht gehalten gewesen, sich mit den Voraussetzungen des § 213 1. Alt. StGB auseinanderzusetzen.

aa) Dabei mag dahinstehen, ob die Provokationen zu Beginn der Auseinandersetzung bereits als schwere Beleidigung gemäß § 213 1. Alt. StGB angesehen werden können. Jedenfalls stellt der zum Aufplatzen der Oberlippe führende Faustschlag gegen den Angeklagten eine (erhebliche) Misshandlung im Sinne der Vorschrift dar.

bb) Dadurch ist der Angeklagte auch ? wie es § 213 1. Alt. StGB voraussetzt ? zum Zorn gereizt und auf der Stelle zur Tat hingerissen worden. Der Angeklagte war nach den Feststellungen aufgrund der Provokationen des Geschädigten in Rage geraten, war sehr wütend und wollte die Sache auch nicht auf sich beruhen lassen, nachdem die Ehefrau des Geschädigten diesen weggezogen hatte. Zur Tat entschlossen suchte er nach einer „Waffe“ und rannte schließlich ? mehrere Minuten nach der Auseinandersetzung ? dem Geschädigten hinterher, um ihn zu töten. Dieser Geschehensablauf belegt zwar einen gewissen zeitlichen Abstand zwischen der den Zorn des Angeklagten auslösenden Auseinandersetzung und dem eigentlichen Tatgeschehen. Er unterbricht aber nicht den erforderlichen Zusammenhang, der insoweit bestehen muss, als der durch die Provokation und die Misshandlung hervorgerufene Zorn im Zeitpunkt der Tatbegehung noch angehalten und als nicht durch rationale Abwägung unterbrochene Gefühlsaufwallung fortgewirkt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Januar 2019 ? 1 StR 585/18, NStZ 2019, 471). Davon ist hier auszugehen, wenn der Angeklagte ? „weiter wutentbrannt“ und auch nicht von seinem zuvor gefassten Tötungsentschluss abzuhalten ? auf den Geschädigten zustürmte, ihm mit der Faust ins Gesicht schlug und schließlich mit dem Flaschenhals auf ihn einstach. Dass dies mehrere Minuten nach dem Beginn der Auseinandersetzung geschehen ist, stellt insoweit keine relevante Zäsur dar.

cc) Schließlich ist es nach den getroffenen Feststellungen zu den Provokationen und der Misshandlung des Angeklagten auch ohne dessen eigene Schuld gekommen. Der Angeklagte hat dem Geschädigten hierzu keine genügende Veranlassung gegeben (vgl. hierzu BGH aaO). Dies wäre nur dann der Fall, wenn das Verhalten des Geschädigten seinerseits eine verständliche und verhältnismäßige Reaktion auf vorangegangenes Tun des Täters gewesen wäre. So liegt es hier aber nicht, auch wenn der Angeklagte den Geschädigten im Zuge der Auseinandersetzung seinerseits mit dem Tode bedroht und ihn ebenfalls mit der Faust ins Gesicht geschlagen hatte. Denn aus dem Zusammenhang der Urteilsgründe ergibt sich, dass der Geschädigte die Auseinandersetzung begonnen und den Angeklagten verbal und körperlich angegriffen hatte (UA S. 31). In Anbetracht dessen kann der Faustschlag gegen den Angeklagten nicht als angemessene Reaktion auf das Verhalten des Angeklagten angesehen werden.

dd) Der Strafausspruch beruht auf diesem Rechtsfehler. Es ist nicht auszuschließen, dass das Landgericht bei Annahme der Voraussetzungen des § 213 1. Alt StGB den damit eröffneten, milderen Strafrahmen wiederum zweifach gemäß den §§ 21, 23 Abs. 2, 49 Abs. 1 StGB gemildert und auch hinsichtlich des tateinheitlich verwirkten Straftatbestands des § 224 StGB einen minder schweren Fall angenommen hätte und innerhalb des neu bestimmten Strafrahmens zu einer milderen Strafe gelangt wäre.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 166

Externe Fundstellen: NStZ 2020, 88; StV 2020, 295

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner