HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 191
Bearbeiter: Felix Fischer/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 290/24, Urteil v. 06.11.2024, HRRS 2025 Nr. 191
1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Erfurt vom 8. Februar 2024 mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben,
a) soweit der Angeklagte freigesprochen worden ist,
b) im Strafausspruch.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch Łber die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklšgerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere als Jugendkammer zustšndige Strafkammer des Landgerichts zurŁckverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren Raubes in Tateinheit mit KŲrperverletzung, schwerer Vergewaltigung, schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fšllen, Freiheitsberaubung, gefšhrlicher KŲrperverletzung und Beleidigung in Tateinheit mit tštlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte zu einer Einheitsjugendstrafe von vier Jahren und neun Monaten verurteilt und Einziehungsentscheidungen getroffen. Im ‹brigen hat es den Angeklagten freigesprochen.
Gegen dieses Urteil wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer auf die RŁge der Verletzung materiellen Rechts gestŁtzten Revision, mit der sie den Teilfreispruch des Angeklagten und den Strafausspruch angreift. Das Rechtsmittel hat im Umfang der Anfechtung Erfolg, wobei die Aufhebung des Strafausspruchs auch zugunsten des Angeklagten erfolgt (ß 301 StPO).
Das Landgericht hat - soweit fŁr das Rechtsmittel von Bedeutung - unter anderem folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
Anfang September 2022 lernte der Angeklagte, der spštestens am 1. August 2022 sein 21. Lebensjahr vollendet hatte, die am 20. August 2010 geborene Nebenklšgerin kennen, mit der er in Kenntnis ihres Alters bis Ende des Jahres 2022 eine - von Konflikten und Gewalt gegenŁber der Nebenklšgerin gepršgte -Beziehung fŁhrte. Unter anderem vollzog der Angeklagte im Oktober 2022 mit der Nebenklšgerin an zwei Tagen jeweils den vaginalen Geschlechtsverkehr.
DarŁber hinaus lag dem Angeklagten mit unveršndert zur Hauptverhandlung zugelassener Anklage zur Last, Anfang November 2022 in einer Wohnung eines Freundes in E., in der sich der Angeklagte mit der Nebenklšgerin aufhielt, seine Hose heruntergezogen, den Kopf der Nebenklšgerin ergriffen und diese aufgefordert zu haben, ihn oral zu befriedigen. Die Nebenklšgerin habe dies nicht gewollt, ihren Mund zugehalten und den Angeklagten weggestoŖen. Dieser habe von ihr abgelassen, weil sie eine Freundin angerufen habe.
Von diesem Vorwurf hat das Landgericht den Angeklagten freigesprochen. In der Hauptverhandlung habe nicht geklšrt werden kŲnnen, weshalb es nicht zu dem vom Angeklagten ĄgewŁnschtenď Oralverkehr gekommen sei. Die Nebenklšgerin habe bei ihrer richterlichen Vernehmung am 23. Mai 2023 angegeben, der Angeklagte habe zu ihr gesagt, sie solle ihn oral befriedigen. Er habe ihren Kopf genommen und es versucht. Sie habe ihn aber wegdrŁcken kŲnnen. Im Rahmen der zuvor am 6. Januar 2023 durchgefŁhrten polizeilichen Vernehmung habe die Nebenklšgerin ausgesagt, es sei nicht zum Oralverkehr gekommen, weil sie ihr Mobiltelefon in die Hand genommen habe, um ihre Freundin anzurufen. Der Angeklagte habe damit freiwillig die weitere AusfŁhrung der Tat aufgegeben und sei strafbefreiend vom Versuch des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern zurŁckgetreten.
Wegen sonst zulasten der Nebenklšgerin verŁbter Taten und weiterer Taten zum Nachteil einer anderen Geschšdigten - davon die beiden ersten zeitlich frŁher im Juli 2022 - hat das Landgericht auf eine Einheitsjugendstrafe erkannt. Dabei hat es gesehen, dass der Angeklagte nur die beiden ersten abgeurteilten Taten und diese nur wenige Tage vor Vollendung des 21. Lebensjahres begangen habe. Auf diese beiden Taten hat die Jugendkammer Jugendstrafrecht angewandt, weil Ąauf Grund des brŁchigen Lebenslaufs des Angeklagten und seine[r] instabilen Lebensverhšltnisse [Ö] wšhrend der Jugendzeit erhebliche EntwicklungsverzŲgerungen und Reifedefiziteď vorlšgen. Sie hat fŁnf weitere, sicher im Erwachsenenalter begangene Taten nach Jugendstrafrecht abgeurteilt, weil Ądie Straftaten des Angeklagten, auch soweit sie nach seinem 21. Lebensjahr begangen wurden, maŖgeblich auf Erziehungsdefizite im Jugend- und Heranwachsendenalter zurŁckzufŁhrenď seien. Bei der Entscheidung der Frage, ob gegen den Angeklagten eine Jugendstrafe zu verhšngen sei, hat das Landgericht allein auf das Vorhandensein schšdlicher Neigungen abgestellt.
Die Revision der Staatsanwaltschaft ist zulšssig und wirksam auf den Teilfreispruch und den Strafausspruch beschršnkt.
Zwar hat die BeschwerdefŁhrerin die SachrŁge ausdrŁcklich ohne Einschršnkungen erhoben. Hinsichtlich des Angriffsziels ist aber der Sinn der RevisionsbegrŁndung maŖgeblich, ausweislich derer die Staatsanwaltschaft ausschlieŖlich den Teilfreispruch und den Strafausspruch beanstandet. Unter BerŁcksichtigung von Nr. 156 Abs. 2 RiStBV (vgl. nur BGH, Urteil vom 8. Mai 2024 - 5 StR 445/23, Rn. 15 mwN) versteht der Senat das Revisionsvorbringen dahin, dass die Staatsanwaltschaft den Schuldspruch, soweit der Angeklagte verurteilt ist, und die Einziehungsentscheidung nicht angreifen will.
Das zum Nachteil des Angeklagten gefŁhrte Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hat in vollem Umfang Erfolg.
1. Das angefochtene Urteil hšlt, soweit der Angeklagte vom Vorwurf des Versuchs des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern freigesprochen wurde (Fall II.5 der UrteilsgrŁnde), rechtlicher ‹berprŁfung nicht stand.
a) Die AusfŁhrungen des Landgerichts werden insoweit den gemšŖ ß 267 Abs. 5 Satz 1 StPO an ein freisprechendes Urteil zu stellenden Anforderungen nicht gerecht.
Bei einem Freispruch aus tatsšchlichen GrŁnden muss der Tatrichter zunšchst in einer geschlossenen Darstellung diejenigen Tatsachen feststellen, die er fŁr erwiesen hšlt, bevor er in der BeweiswŁrdigung darlegt, aus welchen GrŁnden die fŁr einen Schuldspruch erforderlichen - zusštzlichen - Feststellungen nicht getroffen werden kŲnnen. Die BegrŁndung muss so abgefasst sein, dass das Revisionsgericht prŁfen kann, ob dem Tatrichter bei der BeweiswŁrdigung Rechtsfehler unterlaufen sind (vgl. BGH, Urteil vom 14. Februar 2008 - 4 StR 317/07, Rn. 10 mwN). Dem genŁgt das angefochtene Urteil nicht.
Soweit in den UrteilsgrŁnden mitgeteilt wird, es sei in der Hauptverhandlung ungeklšrt geblieben, weshalb es nicht zu dem von dem Angeklagten ĄgewŁnschtenď Oralverkehr gekommen sei, ist bereits nicht nachvollziehbar, welche tatsšchlichen Feststellungen die Jugendkammer zu diesem Sachverhalt getroffen hat. Die šuŖerst verkŁrzte Darstellung der Aussage der im Ermittlungsverfahren mehrfach vernommenen Nebenklšgerin ist insoweit nicht ausreichend. Welche den Angeklagten - gegebenenfalls - belastenden Umstšnde die Nebenklšgerin zu diesem Sachverhalt in der Hauptverhandlung gemacht hat, lassen die UrteilsgrŁnde nicht erkennen. Bereits dieser Darlegungsmangel nŲtigt zur Aufhebung des (Teil-)Freispruchs, da der Senat nicht prŁfen kann, ob die Jugendkammer zu Recht die Voraussetzungen eines strafbefreienden RŁcktritts vom Versuch gemšŖ ß 24 Abs. 1 Satz 1 StGB bejaht hat.
b) Das Landgericht hat darŁber hinaus seine sich aus ß 264 StPO ergebende umfassende Kognitionspflicht verletzt. Diese gebietet es, die Anklage, wie sie im ErŲffnungsbeschluss zugelassen ist, zu erschŲpfen, also die den Untersuchungsgegenstand bildende angeklagte Tat restlos nach allen tatsšchlichen (ß 244 Abs. 2 StPO) und denkbaren rechtlichen (ß 265 StPO) Gesichtspunkten aufzuklšren und abzuurteilen, ohne RŁcksicht auf die der Anklage und dem ErŲffnungsbeschluss zugrunde gelegte rechtliche Bewertung (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteile vom 12. Februar 2014 ? 2 StR 308/13, NStZ 2014, 599, 600; vom 26. Januar 2017 - 3 StR 482/16, Rn. 10; vom 11. Januar 2024 - 3 StR 254/23, Rn. 8 jeweils mwN). Das Landgericht hat sich lediglich damit befasst, ob der Angeklagte vom Versuch eines schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern durch ein freiwilliges Aufgeben der Tat zurŁckgetreten ist. Es bleibt indes unerŲrtert, ob sich der Angeklagte unter Zugrundelegung der wiedergegebenen Angaben der Nebenklšgerin in ihrer richterlichen Vernehmung (ĄEr habe ihren Kopf genommen und es versuchtď) eines vollendeten sexuellen Missbrauchs von Kindern ggf. in Tateinheit mit einer sexuellen NŲtigung gemšŖ ß 176 Abs. 1 Nr. 1, ß 177 Abs. 5 Nr. 1, ß 52 Abs. 1 StGB (vgl. zum Konkurrenzverhšltnis BGH, Urteil vom 13. Februar 2019 - 2 StR 301/18, Rn. 42, insoweit nicht abgedruckt in BGHSt 64, 55) schuldig gemacht haben kŲnnte.
2. Der Strafausspruch unterliegt schon wegen der erfolgreichen Anfechtung des Freispruchs im Fall II.5 der UrteilsgrŁnde der Aufhebung. Er weist aber zudem auch Rechtsfehler zum Vorteil des Angeklagten auf.
a) Bereits die BegrŁndung, mit der die Jugendkammer im Hinblick auf die Fšlle II.1 und II.2 der UrteilsgrŁnde auf den Angeklagten gemšŖ ß 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG Jugendstrafrecht angewandt hat, hšlt der rechtlichen PrŁfung nicht stand.
FŁr die Gleichstellung eines Heranwachsenden mit einem Jugendlichen im Sinne von ß 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG ist nicht entscheidend, ob er das Bild eines noch nicht 18-Jšhrigen bietet; vielmehr ist maŖgebend, ob in dem Tšter noch in grŲŖerem Umfang Entwicklungskršfte wirksam sind (vgl. BGH, Urteil vom 29. Mai 2002 - 2 StR 2/02, BGHR JGG ß 105 Abs. 1 Nr. 1 Entwicklungsstand 8 mwN). Gemessen an diesem PrŁfungsmaŖstab ist zu besorgen, dass der Jugendkammer bei der von ihr vorgenommenen GesamtwŁrdigung, die vornehmlich auf die instabilen Lebensverhšltnisse des Angeklagten wšhrend seiner Jugendzeit abstellt, aus dem Blick geraten ist, dass der Angeklagte die den Fšllen II.1 und II.2 der UrteilsgrŁnde zugrundeliegenden Taten am 28. und 29. Juli 2022 und damit nur wenige Tage vor der spštestens am 1. August 2022 eingetretenen Vollendung seines 21. Lebensjahrs begangen hat.
b) Auch die Entscheidung des Landgerichts, gemšŖ ß 32 Satz 1 JGG einheitlich Jugendstrafrecht anzuwenden, ist nicht frei von Rechtsfehlern.
Zwar ist die Beurteilung, bei welchen Straftaten das Schwergewicht liegt, im Wesentlichen Tatfrage, die der Tatrichter nach seinem pflichtgemšŖen Ermessen zu entscheiden hat, und daher der NachprŁfung des Revisionsgerichts grundsštzlich entzogen. MaŖgeblich fŁr die Bestimmung des Schwergewichts ist, ob sich die spšteren Straftaten als in den frŁheren bereits angelegt darstellen, ob sie bei Betrachtung der PersŲnlichkeitsentwicklung ihren Ursprung im Jugendalter haben bzw. wo die ĄTatwurzelnď liegen (vgl. BGH, Urteil vom 29. November 2017 - 2 StR 460/16, Rn. 13 mwN).
Bei der Wertung des Schwergewichts hat das Landgericht zwar geprŁft, ob die Wurzeln der dem Angeklagten zur Last gelegten Taten im Jugend- und (insoweit rechtsfehlerhaft) im Heranwachsendenalter liegen, dabei aber wiederum nicht bedacht, dass die Taten zu II.1 und II.2 der UrteilsgrŁnde unmittelbar vor der festgestellten, spštestens am 1. August 2022 eingetretenen Vollendung des 21. Lebensjahres des Angeklagten begangen wurden. Eine delinquente PersŲnlichkeitsentwicklung des Angeklagten, die ihren Ursprung bereits im Jugendalter hatte, ist darin gerade nicht zu sehen.
c) Weiter hat die Jugendkammer mit den schšdlichen Neigungen nur einen der beiden GrŁnde, die die Anordnung von Jugendstrafe rechtfertigen, erŲrtert. Die Schwere der Schuld hat sie nicht in den Blick genommen. Dies erweist sich als lŁckenhaft. Denn die Schwere der Schuld ist immer dann zu erŲrtern und in einer umfassenden Abwšgung nach jugendspezifischen Kriterien zu bestimmen, wenn nach dem maŖgeblichen AnknŁpfungspunkt der inneren Tatseite und dem hierfŁr relevanten šuŖeren Unrechtsgehalt der Tat(en) die Verhšngung von Jugendstrafe wegen der Schwere der Schuld in Betracht kommt, so unter anderem bei schweren Gewaltdelikten. Diesen Anforderungen ist das Landgericht mit seinen knappen, den šuŖeren Unrechtsgehalt der Tat allenfalls plakativ beschreibenden AusfŁhrungen nicht gerecht geworden. Der Strafausspruch beruht auch auf dem aufgezeigten Rechtsfehler, da nicht auszuschlieŖen ist, dass das Landgericht bei Beachtung der aufgezeigten MaŖstšbe die Schwere der Schuld im Sinne von ß 17 Abs. 2 JGG bejaht und im Folgenden auf eine hŲhere Jugendstrafe erkannt hštte (vgl. BGH, Urteil vom 7. Mšrz 2024 - 3 StR 220/23, NStZ 2024, 621, 622).
3. Von der Aufhebung des Freispruchs sind auch die zugehŲrigen Feststellungen betroffen (ß 353 Abs. 2 StPO). Bei Aufhebung eines freisprechenden Urteils durch das Revisionsgericht kŲnnen Feststellungen, deren rechtsfehlerfreies Zustandekommen der Angeklagte vom Revisionsgericht mangels Beschwer nicht ŁberprŁfen lassen konnte, bei einem bestreitenden Angeklagten nicht als Grundlage einer mŲglichen Verurteilung bestehen bleiben (vgl. BGH, Urteil vom 19. Juni 2024 - 2 StR 2/24, Rn. 18 mwN). Um dem neuen Tatgericht eine in sich stimmige Strafzumessung zu ermŲglichen, hebt der Senat auch die insoweit getroffenen Feststellungen auf.
Die auf die Revision der Staatsanwaltschaft im Umfang des Rechtsmittelangriffs nach ß 301 StPO veranlasste ‹berprŁfung des Urteils auf Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten fŁhrt ebenfalls zur Aufhebung des Strafausspruchs. Insoweit nimmt der Senat Bezug auf seinen die Revision des Angeklagten betreffenden Beschluss vom heutigen Tage.
HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 191
Bearbeiter: Felix Fischer/Karsten Gaede