HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 778
Bearbeiter: Christoph Henckel
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 688/18, Urteil v. 09.05.2019, HRRS 2019 Nr. 778
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Heidelberg vom 10. August 2018 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Hiergegen richtet sich die auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.
Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
1. Der Angeklagte unterrichtete als Lehrer am Gymnasium im Fach Musik. Zu seinen Schülern gehörte bis 1. Februar 2017 auch die Nebenklägerin. Auf Vermittlung ihrer Mutter nahm die musikbegeisterte Nebenklägerin ab Januar 2017 privaten Klavierunterricht bei dem Angeklagten, der wöchentlich für 45 Minuten stattfinden sollte. Nach Aufnahme des Unterrichts lernten sich der Angeklagte und die Nebenklägerin in den folgenden Wochen näher kennen. Die Nebenklägerin, die damals 15 Jahre alt war, fühlte sich nach einiger Zeit immer mehr zu dem Angeklagten hingezogen. Auch dem Angeklagten machte der Unterricht mit dem musikinteressierten und überdurchschnittlich begabten Mädchen große Freude. Er fühlte sich von der für ihn erkennbaren Bewunderung durch die Nebenklägerin geschmeichelt und schließlich auch körperlich zu ihr hingezogen. In der Folge kam es zu den folgenden vier Taten, bei denen dem Angeklagten das Alter der Nebenklägerin jeweils bekannt war:
a) Zwischen Ende April und Anfang Mai 2017 (Fall 1) suchte der Angeklagte mit der Nebenklägerin die Auferstehungskirche in H. auf. Beide begaben sich auf die offen zugängliche Orgelempore und tauschten Zungenküsse aus. Dann legte der Angeklagte seine Jacke auf den Boden und forderte die Nebenklägerin auf, sich auf die Jacke zu legen. Er legte sich zu ihr und begann sie - unter weiterem Küssen - am Körper zu streicheln. Dabei führte er seine Hand unter der Kleidung der Nebenklägerin an deren Brust und Bauch. Nachdem er ihre Hose geöffnet hatte, führte er seine Hand in der Unterhose an die Genitalien der Nebenklägerin und schließlich seinen Finger in deren Vagina ein, um sich und das Mädchen sexuell zu erregen.
Nachdem sie sich 45 Minuten in der Kirche aufgehalten hatten, brachte der Angeklagte die Nebenklägerin wieder nach Hause.
b) Am Morgen des 13. Mai 2017 (Fall 2), einem Samstag, besuchte die Nebenklägerin den Angeklagten in seinem Haus, um mit ihm - wie am Vortag gemeinsam vereinbart - zu frühstücken. Ihrer Mutter gegenüber, die davon nichts erfahren sollte, hatte die Nebenklägerin erzählt, dass die am Vortag ausgefallene Klavierstunde nachgeholt werde. Als der Angeklagte das Mädchen in seinem Haus empfing, fragte er sofort, ob sie jetzt frühstücken oder etwas anderes machen sollten, was die Nebenklägerin mit einem Kuss beantwortete. Der Angeklagte führte die Nebenklägerin daraufhin in sein Arbeitszimmer, in welchem ein großes Sofa stand. Nachdem sie sich dort erst geküsst, am Körper gestreichelt und ausgezogen hatten, führte der Angeklagte zunächst wieder einen Finger in die Scheide des Mädchens ein. Danach vollzogen die beiden einvernehmlich den ungeschützten Geschlechtsverkehr, den der Angeklagte ohne Samenerguss beendete. Nach etwa 45 Minuten - der Dauer der vermeintlichen Klavierstunde - ging die Nebenklägerin nach Hause, damit ihre Mutter nichts bemerkte.
c) Am Morgen des 17. Mai 2017 (Fall 3) trafen sich der Angeklagte und die Nebenklägerin, nachdem sie sich an diesem Morgen per SMS verabredet hatten und beide in den ersten zwei Schulstunden keinen Unterricht hatten, gegen 8.00 Uhr im Haus des Angeklagten, in dem sich zu diesem Zeitpunkt niemand weiter aufhielt. Beide begaben sich wieder in das Arbeitszimmer des Angeklagten und vollzogen dort erneut - nach dem Austausch von Zärtlichkeiten - den ungeschützten Geschlechtsverkehr, den der Angeklagte ohne Samenerguss beendete.
d) Am Freitag, den 2. Juni 2017 (Fall 4), traf sich der Angeklagte um die Mittagszeit oder am frühen Nachmittag mit der Nebenklägerin in dem am Neckar gelegenen Naturschutzgebiet in N. an einer durch die dort am Uferbereich vorhandene Vegetation vor Blicken anderer Personen geschützten Stelle. Nachdem sie sich zunächst ihre Füße im Neckar abgekühlt hatten, begannen sie sich zu küssen und führten sodann für kurze Zeit den ungeschützten Geschlechtsverkehr durch, den der Angeklagte wiederum ohne Samenerguss beendete. Danach trennten sich die beiden, weil die Nebenklägerin sich noch auf ein Schulprojekt und der Angeklagte auf eine Musikaufführung vorzubereiten hatten.
2. Der Angeklagte hat die Taten in Abrede gestellt. Das Landgericht stützt seine Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten auf die glaubhaften Angaben der Nebenklägerin, welche vor allem durch den verlesenen SMS-Verkehr zwischen ihr und dem Angeklagten bestätigt würden.
1. Die Revision hat mit der zulässig erhobenen Verfahrensrüge der Verletzung von § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO Erfolg.
a) Der Rüge liegt folgender Verfahrensgang zu Grunde:
Die unverändert zur Hauptverhandlung zugelassene Anklage vom 1. März 2018 legt dem Angeklagten im Fall 3 zur Last, sich an einem nicht genau bekannten Tag um den 24. Mai 2017 mit der Nebenklägerin in seinem Haus verabredet zu haben. Hier soll er ein weiteres Mal auf dem Sofa im Büro einverständlichen, ungeschützten Geschlechtsverkehr ohne Samenerguss mit der Geschädigten durchgeführt haben.
Entsprechend dem Protokoll der Hauptverhandlung erteilte das Landgericht am 12. Juli 2017 in Bezug auf die Tat 3 folgenden tatsächlichen Hinweis gemäß § 265 StPO: „Der in der Anklageschrift angenommene Tatzeitraum für die Tat 3 ist nicht auf die Werktage in der Woche vom 22.05 bis 26.05.2017 beschränkt, sondern es kommen auch die Werktage in den anderen Wochen nach der Tat 2 und vor der Tat 4 in Betracht. Der Hinweis wurde sodann den Prozessbeteiligten näher erläutert.“ Nach dem Hinweis wurden die bisher verlesenen Stundenpläne der Nebenklägerin und des Angeklagten erörtert. Ein weiterer Hinweis darauf, dass die Tat - wie in den Feststellungen des Urteils angenommen - am 17. Mai 2017, dem Tag des Schulsportfestes, begangen sein soll, erfolgte nicht. Der Angeklagte ging deshalb davon aus, dass er für Tage mit verzeichnetem Unterricht kein Alibi beibringen müsse.
b) Durch § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO in der seit 24. August 2017 geltenden Fassung (Gesetz vom 17. August 2017, BGBl. I S. 3202) ist die Hinweispflicht des § 265 Abs. 1 StPO auf Fälle erweitert worden, in denen sich in der Hauptverhandlung die Sachlage gegenüber der Schilderung des Sachverhalts in der zugelassenen Anklage ändert und dies zur genügenden Verteidigung vor dem Hintergrund des Gebots rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) und des rechtsstaatlichen Grundsatzes des fairen Verfahrens (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Dezember 2005 - 2 BvR 1769/04) einen Hinweis erforderlich macht (vgl. BT-Drucks. 18/11277, S. 37).
aa) Der Gesetzgeber hat in § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO an die ständige Rechtsprechung angeknüpft, wonach eine Veränderung der Sachlage eine Hinweispflicht auslöst, wenn sie in ihrem Gewicht einer Veränderung eines rechtlichen Gesichtspunkts gleichsteht (BT-Drucks. 18/11277, S. 37 unter Hinweis auf BGH, Urteil vom 20. November 2014 - 4 StR 234/14 Rn. 13). Die durch den Bundesgerichtshof hierzu entwickelten Grundsätze (vgl. MüKo-StPO/Norouzi, § 265 Rn. 48 ff. mwN) wollte der Gesetzgeber kodifizieren, weitergehende Hinweispflichten hingegen nicht einführen (vgl. SSW-StPO/Rosenau, 3. Aufl., § 265 Rn. 31). Danach bestehen Hinweispflichten auf eine geänderte Sachlage bei einer wesentlichen Veränderung des Tatbildes beispielsweise betreffend die Tatzeit, den Tatort, das Tatobjekt, das Tatopfer, die Tatrichtung, eine Person des Beteiligten oder bei der Konkretisierung einer im Tatsächlichen ungenauen Fassung des Anklagesatzes (vgl. BGH, Beschlüsse vom 8. Mai 2018 - 5 StR 65/18 Rn. 4 und vom 12. Januar 2011 - 1 StR 582/10 Rn. 8 ff., BGHSt 56, 121, 123 ff.; Urteil vom 20. November 2014 - 4 StR 234/14 Rn. 13). Hingegen sind Hinweise etwa hinsichtlich der Bewertung von Indiztatsachen nach dem Willen des Gesetzgebers auch künftig nicht erforderlich. Ebenso wenig muss das Gericht unter dem Gesichtspunkt des fairen Verfahrens vor der Urteilsberatung seine Beweiswürdigung offenlegen oder sich zum Inhalt und Ergebnis einzelner Beweiserhebungen erklären (vgl. BGH, Beschluss vom 3. September 1997 - 5 StR 237/97 Rn. 12 f., BGHSt 43, 212, 214 f.).
bb) Das Landgericht hat durch seinen erteilten Hinweis nach § 265 StPO den Tatzeitraum für Fall 3 der Anklage nicht weiter konkretisiert, sondern in zeitlicher Hinsicht sogar noch erweitert. Obwohl in der Folge Stundenpläne der Nebenklägerin und des Angeklagten Gegenstand der Erörterung in der Hauptverhandlung waren und es darum ging, entsprechende Beweisanträge für alle Tage zu stellen, in denen der Stundenplan Freistunden aufwies, hat das Gericht keinen Hinweis dahingehend erteilt, dass es den 17. Mai 2017, den Tag des Schulsportfestes, als Tattag in Betracht zieht, obwohl keine Anhaltspunkte dafür bestanden, dass es an diesem Tag auch unterrichtsfreie Stunden gab. Eine solche weitere Konkretisierung des Tatzeitraums wäre aber erforderlich gewesen, da der Angeklagte nach den bisherigen Beweiserhebungen davon ausgehen konnte, dass an Tagen mit Unterricht bzw. schulischen Veranstaltungen keine Tatbegehung in Betracht kommt. Die Revision trägt insoweit auch vor, dass der Angeklagte durch die Nichterteilung des Hinweises in seiner Verteidigung beschränkt war und weitere Beweisanträge in Bezug auf ein Alibi zu der vom Landgericht im Urteil angenommenen Tatzeit nicht gestellt hat (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 14. Juni 2018 - 3 StR 206/18 Rn. 16, 19).
c) Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Urteil auf dem unzureichenden rechtlichen Hinweis beruht. Insoweit ist bereits der Revisionsschrift im Einzelnen zu entnehmen, was die Verteidigung bei einem ordnungsgemäßen Hinweis auf den vom Landgericht zu Grunde gelegten Tattag am 17. Mai 2017 noch vorgebracht hätte.
2. Auf Grund des Erfolgs der Verfahrensrüge nach § 265 StPO braucht der Senat nicht zu entscheiden, ob auch die übrigen Verfahrensrügen in Bezug auf die Ablehnung von Anträgen auf Einnahme eines Augenscheins Erfolg gehabt hätten.
3. Da der Senat nicht ausschließen kann, dass die nach erfolgtem rechtlichem Hinweis von der Verteidigung angekündigten Beweisanträge auf Vernehmung weiterer Zeugen zum Tattag im Fall 3 Einfluss auf die Glaubwürdigkeit der Nebenklägerin insgesamt gehabt hätten, kann auch der Schuldspruch mit den Feststellungen in den übrigen Fällen keinen Bestand haben.
HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 778
Externe Fundstellen: StV 2019, 818
Bearbeiter: Christoph Henckel