hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 749

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 32/24, Beschluss v. 12.03.2024, HRRS 2024 Nr. 749


BGH 5 StR 32/24 - Beschluss vom 12. März 2024 (LG Hamburg)

Rechtsfehlerhafte Ablehnung einer schuldrelevanten psychischen Störung (Schuldfähigkeit; tiefgreifende Bewusstseinsstörung; krankhafte seelische Störung; Intoxikation; Rauschmittel; Psychose; Sachverständiger).

§ 20 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Eine eigene Sachkunde des Gerichts betreffend die Diagnose einer psychischen Störung des Angeklagten folgt regelmäßig nicht daraus, dass der rechtsmedizinische Sachverständige den Befund einer chemisch-toxikologischen Untersuchung der tatzeitnahen Blutprobe des Angeklagten bewertet hat. Zur Vermittlung der medizinisch-psychiatrischen Anknüpfungstatsachen im Hinblick auf die Diagnose einer psychischen Störung, deren Schweregrad und deren innerer Beziehung zur Tat wird das Tatgericht vielmehr regelmäßig auf die sachverständige Hilfe eines Psychiaters angewiesen sein.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 16. August 2023 mit den Feststellungen aufgehoben; ausgenommen sind diejenigen zum äußeren Tatgeschehen.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit Körperverletzung unter Einbeziehung von Einzelstrafen einer Vorverurteilung und Aufrechterhaltung dort getroffener Einziehungsentscheidungen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Die Revision des Angeklagten erzielt mit der Sachrüge den aus der Beschussformel ersichtlichen Erfolg und ist im Übrigen unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

I.

Der Schuldspruch kann keinen Bestand haben. Die Beurteilung der Schuldfähigkeit des Angeklagten hält revisionsgerichtlicher Überprüfung nicht stand.

1. Das Landgericht hat, soweit für die Schuldfrage relevant, folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

a) Der dreißigjährige, mehrfach vorbestrafte Angeklagte leidet seit seinem ersten Lebensjahr an der seltenen Stoffwechselerkrankung Glykogenose Typ 3a und konsumierte in der Vergangenheit - insbesondere zur Tatzeit - Marihuana und Kokain in nicht unerheblichen Mengen. Alkohol, den er nicht gut verträgt, trinkt er nur gelegentlich. Er hatte die Nebenklägerin Anfang November 2021 über ein soziales Netzwerk kennengelernt, mit ihr gemeinsam den Tag verbracht und übernachtete anschließend in ihrer Wohnung. Dort kam es im Schlafzimmer zum einverständlichen Geschlechtsverkehr. Nachdem die Nebenklägerin die vom Angeklagten nachdrücklich eingeforderte Fortsetzung sexueller Handlungen deutlich abgelehnt hatte, begab er sich in ein anderes Zimmer und rauchte mindestens einen „Joint“. Zudem nahm er eine nicht näher festgestellte Menge Kokain zu sich und trank möglicherweise alkoholische Getränke. Unter Einfluss der halluzinogenen Wirkung des Marihuanas und Kokains änderte sich seine psychische Befindlichkeit. Durch den Kokainkonsum war er „agitiert“, hatte Herzrasen sowie ein gesteigertes sexuelles Verlangen. Er betrat das Zimmer der schlafenden Nebenklägerin, baute sich vor ihrem Bett auf und begann, als diese erwachte, unter dem Eindruck des infolge Marihuana- und Kokainkonsums paranoid gefärbten Erlebens „wirr“ auf sie einzureden. Er äußerte, dass sie von „seinen Feinden geschickt“ worden sei, in ihrer Wohnung „Kameras installiert“ seien und er „beim Sex gefilmt“ worden sei. Plötzlich würgte er die Nebenklägerin, die hierdurch in Panik geriet und Schmerzen verspürte. Er zog sie gegen ihren Willen aus und vergewaltigte sie über mehrere Stunden, anfangs unter weiterer Anwendung von Gewalt („Schwitzkasten“). Während des Tatgeschehens drang er zweimal mit mindestens einem Finger in ihre Vagina ein und vollzog dreimal mit jeweils kurzer Unterbrechung den ungeschützten vaginalen Geschlechtsverkehr. Auf die von der Nebenklägerin wiederholt geäußerten Hinweise, dies nicht zu wollen und Schmerzen zu haben, reagierte der Angeklagte nicht. Im Anschluss, nach zwischenzeitlich weiterem Konsum von Kokain, zwang er die Nebenklägerin, sich nackt in seinem Arm auf seine Brust zu legen, wo sie aus Erschöpfung einschlief. Als sie nach etwa zwei Stunden erwachte, verließ sie, nur mit einer Schlafanzughose und einem T-Shirt bekleidet, die Wohnung und verständigte die Polizei.

b) Ohne einen psychiatrischen Sachverständigen hinzuzuziehen, hat das Landgericht angenommen, die Schuldfähigkeit des im Tatzeitpunkt durch den Konsum von Marihuana und Kokain, möglicherweise auch Alkohol, enthemmten Angeklagten sei nicht erheblich beeinträchtigt gewesen. Ein forensisch relevanter Effekt des Substanzkonsums auf seine Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen oder sein Verhalten entsprechend dieser Einsicht zu steuern, sei tatzeitbezogen nicht feststellbar. Insbesondere sei nicht ersichtlich, dass die Tat einen Zusammenhang mit dem sich „zwischenzeitlich manifestierenden, psychotisch gefärbten Beeinträchtigungserleben“ aufweisen würde. Die Unterordnung des sexuellen Selbstbestimmungsrechts der Nebenklägerin unter das - möglicherweise durch Kokainkonsum gesteigerte - sexuelle Verlangen des Angeklagten sei vielmehr „vollständig normalpsychologisch erklärbar“. Vom „Vorliegen einer Psychose als Indiz einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung“ im Sinne der §§ 20, 21 StGB sei auch vor dem Hintergrund der akuten Intoxikation mit Kokain und Cannabis zur Tatzeit nicht auszugehen. Dies folge „insbesondere“ daraus, dass der Angeklagte das mehraktige Tatgeschehen, namentlich hinsichtlich „der charakteristischen Verknüpfung von Gewalthandlung und Geschlechtsakt, zielgerichtet verwirklicht“ habe. Dass die Schuldfähigkeit trotz Rauschmittelkonsums aufgrund der erheblichen Gewöhnung des Angeklagten vollständig erhalten gewesen sei, werde auch dadurch untermauert, dass er bei seiner Verhaftung am Morgen nach der Tat, trotz chemisch-toxikologisch nachgewiesenen Einflusses erheblicher Mengen Kokain (20 ng/ml Kokainhydrochlorid), auf die Polizeibeamten unauffällig gewirkt und sich mit einer „Schutzbehauptung“ zum gegen ihn erhobenen Tatvorwurf eingelassen habe.

2. Diese Begründung wird den Anforderungen an die Ablehnung einer schuldrelevanten Störung im Sinne des § 20 StGB in mehrfacher Hinsicht nicht gerecht.

a) Das Landgericht hat schon nicht rechtsfehlerfrei das Vorliegen eines Eingangsmerkmals geprüft.

Es hat das nach den getroffenen Feststellungen in Betracht kommende Eingangsmerkmal einer krankhaften seelischen Störung nicht erörtert. Stattdessen hat es das sich beim Angeklagten tatzeitbezogen „manifestierende, psychotisch gefärbte Beeinträchtigungserleben“ dem Bereich des zweiten Eingangsmerkmals des § 20 StGB zugeordnet und aus eigener Sachkunde eine „Psychose als Indiz einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung“ verneint. Dies erweist sich als durchgreifend rechtsfehlerhaft.

Der rechtsmedizinische Sachverständige hat auf Grundlage der toxikologisch-chemischen Untersuchung einer nach der Tat entnommenen Blutprobe beim Angeklagten eine erhebliche Tatzeitintoxikation mit Cannabis und Kokain festgestellt. Das zu Tage getretene „paranoid gefärbte Beeinträchtigungserleben“ hat er auf die Wirkungen des Cannabiskonsums zurückgeführt und das „in der Tat zum Ausdruck kommende gesteigerte sexuelle Verlangen“ auf die Wirkungen des Kokains. Schon angesichts dessen, auch mit Blick auf den nicht ausschließbaren zusätzlichen Alkoholkonsum, erschließt sich nicht, weshalb das Landgericht das Bestehen des Eingangsmerkmals einer krankhaften seelischen Störung nicht geprüft hat (vgl. BGH, Urteile vom 29. April 1997 - 1 StR 511/95, BGHSt 43, 66, 69; MüKoStGB/Streng, 4. Aufl., § 20 Rn. 32; MüKoStGB/van Gemmeren, 4. Aufl., § 63 Rn. 20; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl., Teil 5 Rn. 946).

Aufgrund der hier gegebenen Besonderheiten ist es zudem rechtlich bedenklich, dass sich das Landgericht nicht der Hilfe eines psychiatrischen Sachverständigen bedient hat. Neben der tatzeitbezogen hohen Konzentration von Cannabis und Kokain beim Angeklagten und dem nicht ausschließbaren zusätzlichen Alkoholkonsum gab es deutliche psychische Auffälligkeiten („psychotisch gefärbtes Beeinträchtigungserleben“). Hinzu kommt, dass der Angeklagte nach den Feststellungen zu seinen persönlichen Verhältnissen Alkohol nur gelegentlich konsumiert und diesen „nicht gut verträgt“, was sich zusätzlich auf seine psychische Verfasstheit ausgewirkt haben könnte.

Angesichts dieser schwierigen Gemengelage ist eine eigene Sachkunde des Landgerichts nicht nachvollziehbar. Sie ist nicht dadurch begründet worden, dass der rechtsmedizinische Sachverständige den Befund der chemisch-toxikologischen Untersuchung der tatzeitnahen Blutprobe des Angeklagten bewertet hat. Sein Fachgebiet erfasst nicht die Diagnose psychiatrischer Störungen („Psychose“). Insoweit gilt: Zur Vermittlung der medizinisch-psychiatrischen Anknüpfungstatsachen im Hinblick auf die Diagnose einer psychischen Störung, deren Schweregrad und deren innerer Beziehung zur Tat wird das Tatgericht regelmäßig auf die sachverständige Hilfe eines Psychiaters angewiesen sein (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Dezember 2018 - 5 StR 385/18 Rn. 18; betreffend Wechselwirkung von Substanzen vgl. auch: BGH, Beschlüsse vom 7. August 2008 - 3 StR 274/08; vom 26. April 2000 - 3 StR 152/00, NStZ-RR 2000, 332).

b) Die von der Strafkammer unter dem Eingangsmerkmal einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung mitgeteilten Erwägungen leiden aber auch für sich genommen unter Rechtsfehlern, weil sie lückenhaft und widersprüchlich sind.

Die Strafkammer hat ihre Überzeugung von einer vollständig erhaltenen Steuerungsfähigkeit des Angeklagten „insbesondere“ auf dessen körperliche Leistungsfähigkeit gestützt (zielgerichtete Umsetzung eines mehraktigen Geschehens mit charakteristischer Verknüpfung von Gewalt und Geschlechtsakt). Gleichzeitig ist sie dem rechtsmedizinischen Sachverständigen gefolgt, wonach erst durch den Konsum von Kokain die körperliche Leistungsfähigkeit „kurzfristig angehoben“ worden sei, „um danach wieder rapide abzusinken“. Der sich hieraus ergebende Widerspruch wird im Urteil nicht aufgelöst.

Dessen ungeachtet erscheint der von der Strafkammer für ihre Überzeugungsbildung wesentliche Aspekt, der Angeklagte habe ein „mehraktiges Tatgeschehen, namentlich hinsichtlich der charakteristischen Verknüpfung von Gewalthandlung und Geschlechtsakt zielgerichtet verwirklicht“, rechtlich nicht unbedenklich. Das Landgericht hat insoweit nicht bedacht, dass die vom Angeklagten unter Gewalt durchgesetzten sexuellen Handlungen stereotyp, nach einem einfachen Muster abliefen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 29. Mai 2012 - 1 StR 59/12, BGHSt 57, 247, 250 ff.; vom 9. Februar 2022 - 1 StR 492/21, NStZ 2022, 473 f. mwN).

Im Übrigen steht die Annahme des Landgerichts, die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten sei nicht maßgeblich beeinträchtigt gewesen, in einem unaufgelösten Spannungsverhältnis zu den im Urteil festgestellten massiven Auswirkungen des Drogenkonsums in Form des sich manifestierenden paranoid gefärbten Erlebens, das noch am Morgen beim Eintreffen der Polizei andauerte. Denn auch gegenüber den Polizisten äußerte der Angeklagte, die Nebenklägerin sei eine Prostituierte, die von seinen Widersachern auf ihn angesetzt gewesen sei. Die Strafkammer hat hierin ein Nachwirken des drogenbedingten Beeinträchtigungserlebens gesehen. Dies hat sie aber außer Acht gelassen und stattdessen auf die Einschätzungen der Polizeibeamten abgestellt, er sei nicht beeinträchtigt gewesen. Erschwerend kommt hinzu, dass der Angeklagte nach den Angaben des Polizeibeamten G. einen „gebrechlichen“ Eindruck machte. Damit hat sich das Landgericht ebenso wenig befasst wie mit dem Umstand, dass die Polizeibeamten den Angeklagten erst mehrere Stunden nach dem Tatgeschehen antrafen und ihre Eindrücke mit dem Zustand zum Tatzeitpunkt nicht übereinstimmen mussten.

Zudem fehlt es für die Prüfung, ob ein schuldrelevanter Defekt vorliegt, an einer umfassenden Gesamtwürdigung (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 20. Juni 2023 - 5 StR 58/23; Urteil vom 28. Februar 2013 - 4 StR 357/12, NStZ 2013, 538, 540). Deshalb hätte hier neben dem plötzlichen Stimmungswechsel und der Änderung der „psychischen Befindlichkeit“ des nunmehr „agitiert“ wirkenden Angeklagten, seinem „gesteigerten sexuellen Verlangen“ und dem „psychotisch gefärbten Beeinträchtigungserleben“ auch eingestellt werden müssen, dass die Nebenklägerin schon nach dem ersten, noch einverständlichen Geschlechtsverkehr, mithin vor dem festgestellten Rauschmittelkonsum, ihrer Freundin schrieb: „… Dieser [. .] ich schwöre hat ein knax.“ Mit den Bekundungen der Nebenklägerin hat sich das Landgericht im Rahmen der Schuldfähigkeitsprüfung auch im Übrigen nicht ausreichend auseinandergesetzt. Diese hat angegeben, dass der Angeklagte „wirr“ geredet und geäußert habe, die Nebenklägerin hätte ihn im Auftrag seiner Widersacher in ihre Wohnung gelockt und dort beim gemeinsamen Sex gefilmt. Ein solches, wie vom Angeklagten geäußertes Geschehen hat das Landgericht ausgeschlossen.

3. Die aufgezeigten Rechtsfehler entziehen dem Schuldspruch die Grundlage. Der Senat hebt die Feststellungen mit Ausnahme derjenigen zum äußeren Tatgeschehen insgesamt auf, um dem neuen Tatgericht die Möglichkeit zu geben, die Schuldfähigkeit des Angeklagten umfassend neu zu prüfen.

II.

Das neue Tatgericht wird zu beachten haben, dass eine Aufrechterhaltung der Entscheidung über die auf „§ 73 StGB“ gestützte Einziehung eines „Betrages“ von 320 Euro aus dem Urteil des Amtsgerichts Hamburg St. Georg vom 22. März 2022 nicht in Betracht kommt (vgl. BGH, Beschluss vom 2. Januar 2024 - 5 StR 512/23 mwN).

HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 749

Bearbeiter: Christian Becker