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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 993

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 58/23, Beschluss v. 20.06.2023, HRRS 2023 Nr. 993


BGH 5 StR 58/23 - Beschluss vom 20. Juni 2023 (LG Berlin)

Affektive Erregung als tiefgreifende Bewusstseinsstörung (Schuldunfähigkeit; Gesamtwürdigung; Affektabbau; Erinnerungslücken; starke affektive Erregung kein Regelfall bei Tötungsdelikten).

§ 20 StGB; § 21 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Ob eine affektive Erregung einen solchen Grad erreicht hat, dass sie zu einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung und damit zu einem Eingangsmerkmal im Sinne von § 20 StGB geführt hat, ist anhand von tat- und täterbezogenen Merkmalen zu beurteilen, die als Indizien für und gegen die Annahme eines schuldrelevanten Affekts sprechen können. Diese Indizien sind dabei im Rahmen einer umfassenden Gesamtwürdigung zu beurteilen. Für eine affektbedingte Bewusstseinsstörung kann zum Beispiel ein schneller Affektabbau sprechen, ebenso wie durch einen „rauschähnlichen“ Zustand verursachte Erinnerungslücken.

2. Eine „starke“ affektive Erregung ist bei einem (ggf. versuchten) Tötungsdelikts nicht ohne Weiteres der Normalfall. Richtig ist allein, dass vorsätzliche Tötungsdelikte, bei denen gefühlsmäßige Regungen eine Rolle spielen, regelmäßig mit einer affektiven Erregung einhergehen.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 7. November 2022 im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die mit der Sachrüge geführte Revision hat zum Strafausspruch Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

Der Erörterung bedarf lediglich die Frage der verminderten Schuldfähigkeit. Deren Ablehnung hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

1. Das Landgericht hat insoweit folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

a) Der Angeklagte und die Nebenklägerin waren seit Sommer 2020 liiert und lebten in einer aus einem Schlafzimmer, einer Wohnküche und einem Bad bestehenden Wohnung. Zunächst stellte sich das Zusammenleben harmonisch dar. Im weiteren Verlauf kam es aber zu Streitigkeiten, da der Angeklagte vermutete, die Nebenklägerin betrüge ihn. Dabei äußerte diese des öfteren, dass sie sich trennen sollten, wenn sie nicht zusammenpassten.

Am Tatabend begann der Angeklagte, der wie üblich etwa drei Gläser Whisky zu je 4 cl getrunken hatte, im Beisein eines Gastes einen Streit mit der Nebenklägerin. Als die Nebenklägerin erneut eine Trennung in den Raum stellte, wurde er noch wütender und forderte den Gast auf, die Wohnung zu verlassen. Daraufhin erklärte ihm die Nebenklägerin, dass sie dann ebenfalls gehen werde. Außer sich vor Zorn und „womöglich auch infolge einer gewissen alkoholischen Enthemmung“, stand der Angeklagte vom Tisch auf, holte eine auf der nur zwei Meter entfernten Küchenzeile liegende Fischschere und stach damit in die linke Flanke der Nebenklägerin. Anschließend brachte er sie zu Boden und schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht. Als der Gast den Angeklagten von hinten anfasste und ihn aufforderte, von der Geschädigten abzulassen, kam der Angeklagte „zur Besinnung und realisierte, … was er getan hatte.“ Er holte ein Handtuch aus dem Schlafzimmer und band es der Geschädigten um den Bauch. Währenddessen weinte er und sagte zur Nebenklägerin, man solle einen Krankenwagen rufen. Die Geschädigte wollte dies jedoch zunächst nicht, weil sie meinte, sich illegal in der Wohnung aufzuhalten, und negative Konsequenzen fürchtete. Nachdem sich ihr Zustand verschlechtert hatte, bat der Angeklagte den - unmittelbar nach der Tat verschwundenen - Gast telefonisch erfolglos, einen Krankenwagen für die Nebenklägerin zu rufen, da er sich mangels Deutschkenntnissen hierzu nicht in der Lage sah. Letztlich gelangte die Geschädigte mit einem Taxi in ein Krankenhaus, wo sie notfallmedizinisch versorgt und operiert wurde. Der Angeklagte, der sich bis dahin ununterbrochen um die Nebenklägerin gekümmert hatte, begleitete sie auf deren Bitten hin nicht.

b) Das nicht sachverständig beratene Landgericht hat die Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB verneint und dies damit begründet, dass „keinerlei Anhaltspunkte für eine aufgehobene oder verminderte Schuldfähigkeit“ bestanden hätten. Zwar habe der Angeklagte unmittelbar vor der Tat einige Gläser Whisky getrunken. Er sei aber Alkohol gewöhnt gewesen und habe keine alkoholbedingten Ausfallerscheinungen gezeigt. Der Angeklagte habe auch nicht in einem die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit beeinträchtigenden Zustand affektiver Erregung gehandelt, zumal eine „starke“ affektive Erregung bei einem - wegen eines Rücktritts nach § 24 Abs. 1 StGB hier straflosen - versuchten Tötungsdelikt den Normalfall darstelle.

2. Diese Begründung wird den Anforderungen an die Verneinung eines schuldrelevanten Affekts nicht gerecht.

a) Ob die affektive Erregung einen solchen Grad erreicht hat, dass sie zu einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung und damit zu einem Eingangsmerkmal im Sinne von § 20 StGB geführt hat, ist anhand von tat- und täterbezogenen Merkmalen zu beurteilen, die als Indizien für und gegen die Annahme eines schuldrelevanten Affekts sprechen können. Diese Indizien sind dabei im Rahmen einer umfassenden Gesamtwürdigung zu beurteilen (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 28. Februar 2013 - 4 StR 357/12, NStZ 2013, 538, 540; siehe auch Beschluss vom 12. Oktober 2021 - 5 StR 271/21).

b) Daran fehlt es hier. Insbesondere hätte sich das Landgericht damit auseinandersetzen müssen, dass der Angeklagte unmittelbar nach der Intervention des Gastes „zur Besinnung kam“, der Nebenklägerin sofort zur Hilfe kam, weinte und weder bei noch nach der Tat Sicherungstendenzen zeigte. Dies aber könnte auf einen für eine affektbedingte Bewusstseinsstörung charakteristischen Affektabbau hindeuten (vgl. BGH, Urteil vom 28. September 2004 - 1 StR 317/04, NStZ 2005, 149, 150; siehe zum Affektaufbau Urteil vom 23. Januar 2020 - 3 StR 332/19 Rn. 13 ff.). Darüber hinaus hätte es sich mit der Einlassung des Angeklagten auseinandersetzen müssen, er habe sich „in einer Art Rauschzustand“ befunden und könne sich kaum an das eigentliche Tatgeschehen erinnern. Denn auch dies könnte - sollte das Landgericht diese Angaben als glaubhaft bewertet haben - für die Frage des Vorliegens eines schuldrelevanten Affekts relevant sein (vgl. zu den möglichen Indizien Fischer, StGB, 70. Aufl., § 20 Rn. 32 f. mit zahlreichen Hinweisen auf die Rspr.).

Soweit das Landgericht sich darauf gestützt hat, dass eine „starke“ affektive Erregung bei einem (versuchten) Tötungsdelikts den Normalfall darstelle, ist es von einem unzutreffenden rechtlichen Maßstab ausgegangen. Zwar ist es zutreffend, dass vorsätzliche Tötungsdelikte, bei denen gefühlsmäßige Regungen eine Rolle spielen, regelmäßig mit einer affektiven Erregung einhergehen (vgl. nur BGH, Urteile vom 28. Februar 2013 - 4 StR 357/12, NStZ 2013, 538, 540; vom 27. Februar 2008 - 2 StR 603/07, NStZ 2008, 510, 512). Dass dies auch für eine „starke“ affektive Erregung gelte, entspricht - soweit ersichtlich - indes nicht der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, auch nicht den vom Landgericht zum Beleg seiner Auffassung herangezogenen Entscheidungen (BGH, Urteile vom 1. April 2009 - 2 StR 601/08, NStZ 2009, 571, 572; vom 18. September 2002 - 2 StR 125/02, NStZ-RR 2003, 8, 9).

Letztlich hat das Landgericht die Alkoholisierung des Angeklagten, ohne indes die ohne weiteres mögliche Berechnung der BAK vorzunehmen, lediglich isoliert in den Blick genommen und nicht als affektbegünstigenden Umstand bei der Prüfung des Eingangsmerkmals der tiefgreifenden Bewusstseinsstörung im Sinne des § 20 StGB einbezogen (vgl. BGH, Beschluss vom 31. Januar 2007 - 5 StR 504/06 Rn. 14).

3. Der Schuldspruch beruht nicht auf dem Rechtsfehler (§ 337 Abs. 1 StPO), weil der Senat aufgrund der gegebenen Umstände ausschließen kann, dass das Landgericht bei einem rechtsfehlerfreien Vorgehen zu einer Aufhebung der Schuldfähigkeit (§ 20 StGB) gelangt wäre. Hingegen kann nicht vollends ausgeschlossen werden, dass es eine verminderte Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB angenommen hätte. Über den Strafausspruch muss daher - naheliegend unter der Hinzuziehung eines Sachverständigen - neu verhandelt und entschieden werden (§ 353 Abs. 1 StPO).

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 993

Bearbeiter: Christian Becker