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HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 160

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 285/23, Beschluss v. 25.10.2023, HRRS 2024 Nr. 160


BGH 2 StR 285/23 - Beschluss vom 25. Oktober 2023 (LG Erfurt)

Beweiswürdigung (belastende Angaben eines Zeugen: Beruhen mehrerer Tatvorwürfe, Teileinstellung bei mehreren Taten, Glaubhaftigkeit der Bekundungen, Erörterungsmangel); sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen (Anvertrautsein: Zusammenleben in häuslicher Gemeinschaft, Obhutsverhältnis; Vornahme einer sexuellen Handlung: unmittelbarer Körperkontakt); sexuelle Missbrauch von Kindern (pornographische Abbildungen oder Darstellungen; Einwirken: psychische Einflussnahme tiefergehender Art).

§ 261 StPO; § 154 Abs. 2 StPO; § 174 StGB; § 176 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Beruhen mehrere Tatvorwürfe auf den belastenden Angaben eines Zeugen und stellt das Tatgericht das Verfahren wegen eines Teils dieser Vorwürfe nach § 154 Abs. 2 StPO ein, kann den Gründen für die Teileinstellung des Verfahrens nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Bedeutung für die Beweiswürdigung zu den verbleibenden Vorwürfen insbesondere hinsichtlich der Frage der Glaubhaftigkeit der Bekundungen des Belastungszeugen zukommen. Ist dies nach der konkret gegebenen Beweissituation der Fall, ist der Tatrichter aus Gründen sachlichen Rechts gehalten, die Gründe für die Teileinstellung im Urteil mitzuteilen und sich mit deren Beweisbedeutung auseinanderzusetzen.

2. Der Tatbestand des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB alter Fassung setzt voraus, dass zwischen Täter und Opfer ein Verhältnis besteht, kraft dessen eine Person unter 16 Jahren dem Täter zur Erziehung, zur Ausbildung oder zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut ist. Erforderlich hierfür ist ein Abhängigkeitsverhältnis im Sinne einer Unter- und Überordnung, die den persönlichen, allgemein menschlichen Bereich umfasst, in welchem einer Person das Recht und die Pflicht obliegt, die Lebensführung des Jugendlichen und damit dessen geistig-seelische Entwicklung zu überwachen und zu leiten. Dabei kann allein aus dem Zusammenleben in häuslicher Gemeinschaft noch kein Obhutsverhältnis im Sinne des § 174 StGB a.F. hergeleitet werden. Auch eine nur ganz kurzfristige Verantwortlichkeit während der Abwesenheit des Erziehungsberechtigten reicht nicht aus, um ein Obhutsverhältnis im Sinne des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB a.F. zu begründen. Zudem genügt es nicht, dass sich das Kind oder der Jugendliche lediglich sehr oft bei dem Täter zu Besuch aufhält und der Täter sich um ihn kümmert, da diese Umstände nicht zur Begründung eines dem Schutzzweck des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB a.F. entsprechenden Abhängigkeitsverhältnisses genügen.

3. Einwirken erfordert eine psychische Einflussnahme tiefergehender Art, die etwa beim bloßen Vorzeigen pornographischer Bilder in aller Regel nicht vorliegt. Eine solche Einwirkung kann indes dann angenommen werden, wenn das Vorspielen mit sexualbezogenen Nachrichten oder körperlichen sexuellen Übergriffen verbunden ist, zudem, wenn einer vier- bis fünfjährigen ein Film mit Darstellungen harter Pornographie gezeigt wird, um sich sexuell zu erregen.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Erfurt vom 4. April 2023 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere für Jugendschutzsachen zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen, jeweils tateinheitlich mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, und sexuellen Missbrauchs von Kindern in fünf Fällen, jeweils tateinheitlich mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt und ausgesprochen, dass ein Monat der Gesamtfreiheitsstrafe wegen überlanger Verfahrensdauer als vollstreckt gilt.

Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).

I.

Das Landgericht hat - soweit hier von Bedeutung - folgende Feststellungen und Wertungen getroffen.

1. a) Bei dem Angeklagten handelt es sich um den ehemaligen Lebensgefährten der Zeugin E. K., der Tante der Zeugin P. K., die wiederum die Mutter der Nebenklägerin ist.

Nach der Trennung von E. K. lebte der Angeklagte in einer Ein-Zimmer-Wohnung in Erfurt. Sein Kontakt zu der Familie K. blieb auch nach dem Beziehungsende bestehen und er besuchte unter anderem Geburtstagsfeiern der Nebenklägerin. Auf Bitten der P. K. übernahm er, wenn diese verhindert war, auch die Betreuung des Kindes. Dabei kam es „öfters“, insbesondere an Wochenenden, zu Übernachtungen der Nebenklägerin beim Angeklagten, der das Mädchen bei diesen Gelegenheiten „beaufsichtigen“ und „ernähren“, außerdem „Erziehungsaufgaben“ wahrnehmen sollte.

b) Bei der Wahrnehmung dieser Betreuungsaufgaben kam es im Tatzeitraum vom 1. Dezember 2006 bis zum 10. Juni 2007 an nicht näher bestimmbaren Tagen in der Wohnung des Angeklagten zu nachfolgenden Tathandlungen gegenüber der zu dieser Zeit vier bis fünf Jahre alten Nebenklägerin:

Der Angeklagte schaute mit dem Kind einen pornografischen Zeichentrickfilm mit dem Titel „Schneeflittchen“, in dem unter anderem zu sehen ist, wie sich eine weibliche Hauptfigur mit einem „goldenen Dildo“ selbst befriedigt (Fall 1 der Urteilsgründe). Außerdem schaute er mit der Nebenklägerin „einen weiteren pornografischen Film an, welcher von Pinocchio handelte“ (Fall 2 der Urteilsgründe).

Bei einer weiteren Gelegenheit befanden sich der Angeklagte und die Nebenklägerin gemeinsam in der Badewanne. Der Angeklagte zog das Mädchen zu sich zwischen seine Beine, zog sie sodann nach hinten und rieb sein Glied an ihrem Hinterkopf und Ohr, um sich sexuell zu erregen (Fall 3 der Urteilsgründe).

An einem weiteren Tag sahen sich der Angeklagte und die Nebenklägerin eine Tierdokumentation an. Nachdem das Mädchen die Frage, ob sie wisse, wie Hühner entstehen, verneint hatte, wollte der Angeklagte ihr zeigen „wie Hühner poppen“. Hierzu begab sich die Nebenklägerin nach Aufforderung in den Vierfüßlerstand auf den Boden. Der Angeklagte positionierte sich hinter ihr und simulierte bekleidet den Geschlechtsverkehr, indem er wiederholt mit seinem Unterleib gegen das Gesäß des Kindes stieß, was ihn sexuell erregte (Fall 4 der Urteilsgründe).

Bei anderer Gelegenheit schliefen der Angeklagte und die Nebenklägerin gemeinsam im Bett. Der Angeklagte berührte den Körper und den Intimbereich des Mädchens, rieb sein erigiertes Glied zwischen deren Beinen und drang erst mit seinem Finger und dann mit seinem Penis vaginal in die Nebenklägerin ein (Fall 5 der Urteilsgründe). In einem weiteren Fall drang der Angeklagte erneut vaginal mit seinem erigierten Penis in die Nebenklägerin ein (Fall 6 der Urteilsgründe). Schließlich forderte er sie ein anderes Mal auf, sein Glied in die Hand zu nehmen, was diese auch tat (Fall 7 der Urteilsgründe).

2. Das Landgericht hat den bestreitenden Angeklagten auf Grundlage dieser Feststellungen, die es zum eigentlichen Tatgeschehen allein auf die Bekundungen der Nebenklägerin stützt, wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern gemäß § 176 Abs. 4 Nr. 4 StGB (Fälle 1 und 2 der Urteilsgründe), wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern gemäß § 176 Abs. 1 StGB (Fälle 3, 4 und 7 der Urteilsgründe) und wegen schweren sexuellen Missbrauchs gemäß § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB (Fälle 5 und 6 der Urteilsgründe), in sämtlichen Fällen tateinheitlich wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen gemäß § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB, jeweils in den Fassungen des Gesetzes vom 27. Dezember 2003, verurteilt.

In den Fällen 1 und 2 der Urteilsgründe hat es das Verfahren gemäß § 154a Abs. 2 in Verbindung mit Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO „auf das Anschauen eines pornografischen Zeichentrickfilms“ beschränkt. Außerdem hat es die Taten zu den Ziffern 3, 5, 9, 10, „14“ (gemeint: 12), 13 und 14 der Anklageschrift gemäß § 154 Abs. 2 StPO vorläufig eingestellt.

II.

Die Revision des Angeklagten ist begründet.

1. Die Beweiswürdigung des Landgerichts hält - auch eingedenk des eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 2. März 2023 ? 2 StR 119/22, NStZ-RR 2023, 185, 186 mwN) - sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

a) Die Beweissituation ist hinsichtlich sämtlicher abgeurteilter Fälle dadurch gekennzeichnet, dass die getroffenen Feststellungen maßgeblich auf der Aussage der Nebenklägerin beruhen. Für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit war insoweit von Belang, welche Angaben die Zeugin zu den weiteren gleichgelagerten Tatvorwürfen 3, 5, 9 und 10 der Anklage gemacht hat und wieso es insoweit zu den Verfahrenseinstellungen sowie den Beschränkungen in den Fällen 1 und 2 der Urteilsgründe kam. Das Tatgericht teilt indes nur mit, dass das Verfahren hinsichtlich dieser Tatvorwürfe nach § 154 Abs. 2, § 154a Abs. 2 StPO eingestellt bzw. beschränkt worden sei. Darin liegt ein durchgreifender Erörterungsmangel.

aa) Beruhen mehrere Tatvorwürfe auf den belastenden Angaben eines Zeugen und stellt das Tatgericht das Verfahren wegen eines Teils dieser Vorwürfe nach § 154 Abs. 2 StPO ein, kann den Gründen für die Teileinstellung des Verfahrens nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Bedeutung für die Beweiswürdigung zu den verbleibenden Vorwürfen insbesondere hinsichtlich der Frage der Glaubhaftigkeit der Bekundungen des Belastungszeugen zukommen (vgl. BGH, Urteil vom 29. Juli 1998 - 1 StR 94/98, BGHSt 44, 153, 160; BGH, Beschlüsse vom 2. November 2022 - 6 StR 281/22; vom 13. Februar 2018 ? 4 StR 346/17, NStZ 2018, 618; BeckOK StPO/Eschelbach, 48. Ed., § 261 Rn. 61). Ist dies nach der konkret gegebenen Beweissituation der Fall, ist der Tatrichter aus Gründen sachlichen Rechts gehalten, die Gründe für die Teileinstellung im Urteil mitzuteilen und sich mit deren Beweisbedeutung auseinanderzusetzen (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Februar 2018 ? 4 StR 346/17, NStZ 2018, 618).

bb) Hiervon ausgehend liegt in der fehlenden Mitteilung der Gründe für die Beschränkungen der Tatvorwürfe und der teilweisen Verfahrenseinstellungen ein Erörterungsmangel.

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sieben festgestellter Taten verurteilt, wobei es zuvor in zwei Fällen (Fälle 1 und 2 der Urteilsgründe) gemäß § 154a Abs. 2 StPO eine Beschränkung vorgenommen hat. Sieben weitere angeklagte Taten hat es gemäß § 154 Abs. 2 StPO vorläufig eingestellt, von denen vier allein auf der Aussage der einzigen Belastungszeugin aufbauen und die nach der Anklageschrift von gleichem Gewicht wie Fall 3 der Urteilsgründe waren. Kommt es bei sechs von elf angeklagten Tatvorwürfen, die insoweit allein auf die Bekundungen der einzigen Belastungszeugin zurückgehen, zu Beschränkungen oder vorläufigen teilweisen Verfahrenseinstellungen, und nur in fünf Fällen zu einer im Vergleich zur Anklageschrift uneingeschränkten Verurteilung, ist eine Beweisbedeutung für die maßgeblich entscheidende Frage der Glaubwürdigkeit der einzigen Belastungszeugin und der Glaubhaftigkeit ihrer den Angeklagten belastenden Angaben nicht auszuschließen. Insbesondere legen die Urteilsgründe nahe, dass die Beschränkungen in den Fällen 1 und 2 der Urteilsgründe auf Widersprüche in den Aussagen der Nebenklägerin zurückgehen. So habe die Nebenklägerin in ihrer polizeilichen Vernehmung geschildert, dass es in beiden Fällen des Vorspielens pornografischer Filme „während des Anschauens zu sexuellen Handlungen gekommen sei“. Demgegenüber soll sie in der Hauptverhandlung bekundet haben, dass der Angeklagte „währenddessen“ seine Hand auf ihrem Bein gehabt habe, „sie glaube jedoch nicht, dass mehr passiert sei.“ Hiermit setzt sich das Landgericht nicht auseinander, sondern löst einen etwaigen Widerspruch in den Bekundungen der einzigen Belastungszeugin durch die Beschränkung gemäß § 154a Abs. 2 StPO auf. Der Senat kann so nicht nachvollziehen, ob die vorläufigen Verfahrenseinstellungen mit weiteren Widersprüchen oder Inkonstanzen in der Aussage der Nebenklägerin zusammenhängen, was von erheblicher Beweisbedeutung wäre.

Dies gilt auch, soweit das Landgericht nicht die Gründe für die vorläufige Verfahrenseinstellung in weiteren drei angeklagten Taten von vergleichbarem Gewicht (Fälle 12, 13 und 14 der Anklageschrift) mitteilt, in denen nach der Anklage ein weiteres Kind, in einem dieser Fälle (Fall 14 der Anklageschrift) sogar gemeinsam mit der Nebenklägerin, Opfer der Tathandlungen geworden sein soll.

b) Das Urteil beruht auf den aufgezeigten Beweiswürdigungsmängeln. Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Landgericht bei rechtsfehlerfreier Beweiswürdigung zu einem abweichenden Beweisergebnis gekommen wäre. Die Verurteilung ist daher insgesamt mit den Feststellungen aufzuheben (§ 353 Abs. 2 StPO). Hiervon umfasst ist auch der Ausspruch über die Kompensation wegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung.

2. Neben diesem bereits vollumfänglich durchgreifenden und zur Urteilsaufhebung führenden Erörterungsmängeln weist das Urteil weitere Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf.

a) So hält der Schuldspruch in Fall 2 der Urteilsgründe und in sämtlichen Fällen die tateinheitliche Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen rechtlicher Prüfung nicht stand.

aa) Der Schuldspruch jeweils wegen tateinheitlich verwirklichten sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen gemäß § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB in der Fassung des Gesetzes vom 23. Dezember 2003 findet in den Urteilsgründen keine Stütze.

(1) Die Feststellungen belegen kein Anvertrautsein im Sinne der Vorschrift.

(a) Der Tatbestand des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB alter Fassung setzt voraus, dass zwischen Täter und Opfer ein Verhältnis besteht, kraft dessen eine Person unter 16 Jahren dem Täter zur Erziehung, zur Ausbildung oder zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut ist. Erforderlich hierfür ist ein Abhängigkeitsverhältnis im Sinne einer Unter- und Überordnung, die den persönlichen, allgemein menschlichen Bereich umfasst, in welchem einer Person das Recht und die Pflicht obliegt, die Lebensführung des Jugendlichen und damit dessen geistig-seelische Entwicklung zu überwachen und zu leiten (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 5. November 1985 - 1 StR 491/85, BGHSt 33, 340, 344 f.; BGH, Beschlüsse vom 5. Juli 2017 - 4 StR 228/17; vom 30. März 2011 - 4 StR 97/11; vom 5. April 2011 - 3 StR 12/11). Dabei kann allein aus dem Zusammenleben in häuslicher Gemeinschaft noch kein Obhutsverhältnis im Sinne des § 174 StGB a.F. hergeleitet werden (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Dezember 2015 ? 2 StR 200/15, NStZ 2017, 155, 156; BGH, Urteil vom 2. Juni 1999 ? 5 StR 112/99; BGH, Beschluss vom 5. Juli 2017 - 4 StR 228/17). Auch eine nur ganz kurzfristige Verantwortlichkeit während der Abwesenheit des Erziehungsberechtigten reicht nicht aus, um ein Obhutsverhältnis im Sinne des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB a.F. zu begründen (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Juli 2017 - 4 StR 228/17). Zudem genügt es nicht, dass sich das Kind oder der Jugendliche lediglich sehr oft bei dem Täter zu Besuch aufhält und der Täter sich um ihn kümmert, da diese Umstände nicht zur Begründung eines dem Schutzzweck des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB a.F. entsprechenden Abhängigkeitsverhältnisses genügen (vgl. BGH, Beschluss vom 5. April 2011 - 3 StR 12/11).

(b) Davon ausgehend belegen die Feststellungen ein Anvertrautsein in diesem Sinne nicht. Zwar stellt das Landgericht fest, dass der Angeklagte „Erziehungsaufgaben“ gegenüber der Nebenklägerin wahrnahm. In welcher konkretisierenden Art und Weise und in welchem zeitlichen Umfang der nur „öfters“ die Nebenklägerin beaufsichtigende Angeklagte jedoch vor allem deren Erziehung unterstützte und ihre geistig-seelische Entwicklung überwachte und leitete, ist weder ausreichend festgestellt noch belegt. Gelegentliche kurze Besuche, auch wenn sie mit einer Übernachtung verbunden sind, genügen hierfür gerade nicht.

(2) Daneben tragen die Feststellungen in den Fällen 1 und 2 der Urteilsgründe die Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen aus einem weiteren Gesichtspunkt nicht. Denn zur Verwirklichung des objektiven Tatbestands bedarf es der Vornahme einer sexuellen Handlung am Schutzbefohlenen oder der Täter muss eine sexuelle Handlung vom Schutzbefohlenen an sich vornehmen lassen. Beide Tatbestandsalternativen erfordern unmittelbaren Körperkontakt (vgl. BGH, Urteil vom 7. September 1995 - 1 StR 236/95, BGHSt 41, 242, 243; MüKo-StGB/Renzikowski, 4. Aufl., § 174 Rn. 28; Schönke/Schröder/ Eisele, StGB, 30. Aufl., § 174 Rn. 14), der gerade nicht festgestellt, vielmehr aus nicht näher dargelegten Gründen wegbeschränkt worden ist.

bb) Darüber hinaus tragen die Feststellungen im Fall 2 der Urteilsgründe auch nicht die (tateinheitliche) Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern gemäß § 176 Abs. 4 Nr. 4 StGB in der Fassung des Gesetzes vom 27. Dezember 2003.

(1) Es ist nicht hinreichend belegt, dass der Nebenklägerin pornographische Abbildungen oder Darstellungen vorgezeigt wurden. Pornographisch sind Darstellungen, die sexualbezogenes Geschehen vergröbernd und ohne Sinnzusammenhang mit anderen Lebensäußerungen zeigen. Die - wie in Fall 2 der Urteilsgründe - pauschale Bezeichnung des Videos als „Pornofilm“ belegt dieses Tatbestandsmerkmal für sich gesehen nicht (vgl. BGH, Urteil vom 22. Oktober 2014 - 2 StR 509/13, NStZ-RR 2015, 74; BGH, Beschluss vom 22. Juni 2010 - 3 StR 177/10, NStZ 2011, 455).

(2) Aufgrund dieses Darstellungsmangels tragen die Feststellungen auch nicht die Annahme des Tatbestandsmerkmals „Einwirken“ im Sinne des § 176 Abs. 4 Nr. 4 StGB in der Fassung des Gesetzes vom 27. Dezember 2003. Ein solches erfordert eine psychische Einflussnahme tiefergehender Art (vgl. BGH, Urteil vom 22. Oktober 2014 - 2 StR 509/13, NStZ-RR 2015, 74; BGH, Beschluss vom 14. Juni 2018 - 3 StR 180/18 Rn. 6 mwN), die etwa beim bloßen Vorzeigen pornographischer Bilder in aller Regel nicht vorliegt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 20. September 2018 - 1 StR 190/18; vom 22. Januar 2015 - 3 StR 490/14, NStZ-RR 2015, 139, 140; BeckOK StGB/Ziegler, 58. Ed., § 176a Rn. 7). Eine solche Einwirkung kann indes dann angenommen werden, wenn das Vorspielen mit sexualbezogenen Nachrichten oder körperlichen sexuellen Übergriffen verbunden ist (vgl. BGH, Urteil vom 22. Oktober 2014 - 2 StR 509/13, NStZ-RR 2015, 74), zudem, wenn einer - wie hier - vier- bis fünfjährigen ein Film mit Darstellungen harter Pornographie gezeigt wird, um sich sexuell zu erregen (vgl. BGH, Beschluss vom 20. März 2019 - 2 StR 60/19).

Indes sind weder diese noch andere Fallgestaltungen in Fall 2 der Urteilsgründe hinreichend festgestellt und ergeben sich auch nicht aus dem Zusammenhang der Urteilsgründe. Neben der fehlenden Feststellung der vorgespielten Inhalte kann insbesondere ein zeitlicher Kontext zwischen dem Vorspielen des Videos und der weiteren festgestellten sexuellen Übergriffe aufgrund der insoweit nicht aussagekräftigen Urteilsgründe nicht hergestellt werden.

b) Schließlich begegnet auch der Strafausspruch für sich genommen durchgreifenden rechtlichen Bedenken. So hat das Landgericht in den Fällen 1 und 2 der Urteilsgründe Einzelstrafen von jeweils vier Monaten verhängt, indes die Voraussetzungen des § 47 StGB entgegen § 267 Abs. 3 Satz 2 StPO nicht erörtert. Die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe hat aber regelmäßig nur Bestand, wenn sie sich aufgrund einer Gesamtwürdigung aller die Tat und den Täter kennzeichnenden Umstände als unverzichtbar erweist und dies in den Urteilsgründen dargestellt wird. Die gleichzeitige Verurteilung eines Angeklagten zu einer hohen Freiheitsstrafe macht die Erörterung nicht entbehrlich; die Prüfung ist vielmehr für jede einzelne Tat vorzunehmen (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Juni 2020 - 3 StR 135/20, NStZ-RR 2020, 273). Eine Ausnahme, nach denen sich diese Voraussetzungen auch aus dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe ergeben können (vgl. BGH, Urteil vom 8. April 2004 ? 3 StR 465/03, NStZ 2004, 554), liegt bei dem nicht vorbestraften Angeklagten nicht vor.

III.

Die Sache bedarf daher insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung. Dabei wird das neue Tatgericht Gelegenheit haben, sich sorgfältiger als bisher mit der Frage der Konstanz der Angaben der Nebenklägerin auseinanderzusetzen haben. Darüber hinaus wird es aufgrund der Besonderheiten der Beweissituation die Anforderungen an die Darlegung der Aussageinhalte und -entwicklung zu beachten haben (vgl. nur BGH, Beschluss vom 13. Mai 2020 - 2 StR 367/19). So lässt sich insbesondere im Fall 6 der Urteilsgründe nicht nachvollziehen, wann und wie sich die Nebenklägerin außerhalb der Hauptverhandlung hierzu eingelassen hat. Vielmehr beschränken sich die Ausführungen in den Urteilsgründen darauf, sie habe in der Hauptverhandlung ausgesagt, der Angeklagte sei „ein weiteres Mal (sei er) mit seinem Penis eingedrungen“.

HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 160

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede