hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 157

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 152/23, Urteil v. 22.11.2023, HRRS 2024 Nr. 157


BGH 2 StR 152/23 - Urteil vom 22. November 2023 (LG Fulda)

Schuldunfähigkeit: actio libera in causa: unterlassene medikamentöse Behandlung einer überdauernden Psychose, Garantenpflicht des an einer überdauernden Psychose Erkrankten, Möglichkeit zur Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, tatbezogenes Vorverschulden des Täters).

§ 20 StGB; § 13 StGB; § 63 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Ein zu Lasten des Täters berücksichtigungsfähiges Vorverschulden setzt ein konkret tatbezogenes Verschulden des Täters vor Beginn der Tat voraus. Er muss den Geschehensablauf in verantwortlichem Zustand in Gang gesetzt, den Zustand seiner verminderten oder aufgehobenen Schuldfähigkeit also schuldhaft herbeiführt haben - gleich ob dies vorsätzlich oder nur fahrlässig geschah. Ist das Verhalten des Täters insgesamt als Ausdruck seiner psychischen Störung zu verstehen, fehlt es an einer trennbaren Vorverlagerung der Schuld.

Entscheidungstenor

1. Die Revisionen der Nebenkläger D. Ö. und C. Ö. gegen das Urteil des Landgerichts Fulda vom 30. Januar 2023 werden verworfen.

2. Die Beschwerdeführer haben die Kosten ihrer Rechtsmittel und die dem Beschuldigten hierdurch erwachsenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat im Sicherungsverfahren die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB angeordnet. Hiergegen richten sich die mit der Rüge der Verletzung des materiellen Rechts begründeten Revisionen der Nebenkläger D. Ö. und C. Ö. Die Rechtsmittel haben keinen Erfolg.

I.

Das Landgericht hat, soweit hier von Belang, folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Der nicht vorbestrafte Beschuldigte leidet seit mehreren Jahren an einer paranoiden Schizophrenie mit Stimmenhören und Bedrohungs- und Verfolgungserleben und wurde seither teils ambulant, teils stationär behandelt. Im Juni/Juli 2021 wurde er erstmals mit Clozapin behandelt, das von allen bis dahin eingenommenen Psychopharmaka die beste antipsychotische Wirkung zeigte. Allerdings nahm er das Medikament ab Dezember 2021 nur noch unregelmäßig ein.

Anfang Dezember schrieb der Beschuldigte in einer Chat-Nachricht: „Es gibt jemanden den muss ich fertig (erledigen) machen. Wir treffen uns schon seit Jahren und es ist so viel passiert“. In einer Ende Januar 2022 verfassten Nachricht führte der Beschuldigte aus: „ich hasse das Clozapin aber ohne werd ich zum vampir - wahnvorstellungen, tiefe gedanken, stimmen im kopf…Als ich es 4 tage nicht genommen hab und 4 tage nicht geschlafen hab. Hatte ich sogar mordgedanken wollte die falschen freunde von früher auf gewaltigste art töten und ihr blut trinken.“ Ab März 2022 nahm der Beschuldigte das Medikament Clozapin überhaupt nicht mehr ein, wodurch sich sein psychischer Zustand zunehmend verschlechterte. Er entwickelte die wahnhafte Vorstellung, das spätere Tatopfer U. Ö., den der Beschuldigte aus der Drogenszene kannte, werde ihn und seine Familie umbringen und sein Haus anzünden. Ferner hörte er Stimmen, die ihm befahlen, diesen zu verletzen bzw. zu töten.

Unter dem Eindruck dieser Stimmen verabredete sich der Beschuldigte am 19. April 2022 mit U. Ö. und brachte diesem, entsprechend seiner Absicht, ihn zu verletzen, mit einem mitgebrachten Küchenmesser eine etwa 3 cm lange Schnittwunde am Kinn bei. Auch danach konnte der Beschuldigte kaum schlafen, fühlte sich aggressiv und hörte weiter Stimmen, die ihm befahlen, U. Ö. mit einem Messer „zu erledigen“ und ihn umzubringen, da dieser sonst ihn und seine Familie töten werde. Er beschaffte sich ein Klappmesser mit einer Klingenlänge von ca. 10 cm, lief damit zur Wohnung des U. Ö. und versetzte diesem in Tötungsabsicht insgesamt 33 massive Stiche bzw. Schnitte, woran dieser noch am Tatort verstarb.

2. Die sachverständig beratene Strafkammer hat angenommen, dass die Einsichtsfähigkeit des Beschuldigten zu den Tatzeiten aufgrund der paranoiden Schizophrenie „in akuter Form“ im Sinne des § 20 StGB aufgehoben war. Sie hat sich darüber hinaus an einer Verurteilung wegen Totschlags durch Unterlassen gemäß § 212 Abs. 1, § 13 StGB „unter Vorverlagerung des Schuldvorwurfs“ gehindert gesehen, weil nicht auszuschließen sei, dass sich bereits das zunächst teilweise und dann vollständige Absetzen des Medikaments Clozapin als Ausdruck der Störung des Beschuldigten darstellte.

II.

Die Revisionen der Beschwerdeführer, mit denen sie den Ausschluss strafrechtlicher Verantwortlichkeit des Beschuldigten angreifen, sind zulässig (§ 400 Abs. 1 StPO), indes unbegründet.

1. Ohne durchgreifenden Rechtsfehler - und von den Revisionen unbeanstandet - ist das Landgericht davon ausgegangen, dass der Beschuldigte zu den jeweiligen Tatzeitpunkten am 19. April 2022 und 2. Mai 2022 krankheitsbedingt schuldunfähig war. Nachdem er die antipsychotische Medikation Ende März 2022 vollständig abgesetzt hatte, stand er handlungsleitend unter dem Einfluss einer floriden Phase seiner von Stimmenhören und Wahnvorstellungen geprägten paranoiden Schizophrenie. Zwar wird aus den knappen Ausführungen zur Schuldfähigkeit des Beschuldigten nicht ersichtlich, inwiefern die imperativen Stimmen („Erledige ihn! Mach es jetzt! Verletze ihn!“ bzw. „Erledige ihn! Bring ihn um!“), die ihn nach den Ausführungen der Sachverständigen zu den Taten drängten, dazu führten, dass ihm schon die Einsicht fehlte, Unrecht zu tun. Dass der Beschuldigte aber jedenfalls unfähig war, nach dieser Einsicht zu handeln, wird durch die sachverständig unterlegte Diagnose hinreichend belegt. Danach setzte der Beschuldigte, geleitet durch das psychotische Erleben und begleitet von verändertem Affekt und psychomotorischer Erregung, die zur Situation aus seiner Sicht passenden Handlungsimpulse unmittelbar in die Tat um.

2. Auch soweit die Strafkammer eine Verurteilung des Beschuldigten unter dem Aspekt einer Vorverlagerung des Schuldvorwurfs abgelehnt hat, hält das angefochtene Urteil rechtlicher Nachprüfung stand.

a) Die Frage, inwieweit die eine Vorverlagerung des Schuldvorwurfs begründenden Grundsätze der actio libera in causa in einer Fallkonstellation wie der vorliegenden überhaupt zur Anwendung kommen können, bei der die Schuldunfähigkeit ihre Ursache nicht in einem aktiv betriebenen Rauschmittelkonsum, sondern in der unterlassenen medikamentösen Behandlung einer überdauernden Psychose hat, bedarf hier keiner abschließenden Entscheidung (vgl. zur möglichen Versagung einer auf § 21 StGB gestützten Strafmilderung BGH, Beschlüsse vom 17. Januar 1995 - 4 StR 694/94, NStZ 1995, 329; vom 26. Februar 2019 - 1 StR 614/18, NStZ-RR 2019, 302 mwN). Insoweit stellt sich nicht nur die Frage, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang einen an einer überdauernden Psychose Erkrankten eine Garantenpflicht trifft, von ihm ausgehende Gefahren für Dritte abzuwenden (vgl. dazu LK-StGB/Verrel/Linke/Koranyi, 13. Aufl., § 20 Rn. 209 f.). Bedenken können sich auch daraus ergeben, dass nach den Grundsätzen der actio libera in causa die §§ 20, 21 StGB außer Anwendung blieben und es damit an der rechtlichen Möglichkeit fehlte, den Täter in einem psychiatrischen Krankenhaus unterzubringen, was den mit § 63 StGB verfolgten vorrangigen Sicherheitszielen zuwiderliefe (vgl. LK-StGB/Verrel/Linke/Koranyi, 13. Aufl., § 20 Rn. 209).

b) Die Urteilsgründe belegen tragfähig, dass jedenfalls die Voraussetzungen für ein tatbezogenes Vorverschulden nicht vorliegen.

aa) Ein zu Lasten des Täters berücksichtigungsfähiges Vorverschulden - falls hierfür das Unterlassen der Medikamenteneinnahme eines psychisch Erkrankten genügte - setzt ein konkret tatbezogenes Verschulden des Täters vor Beginn der Tat voraus. Er muss den Geschehensablauf in verantwortlichem Zustand in Gang gesetzt (vgl. BGH, Urteile vom 22. August 1996 - 4 StR 217/96, BGHSt 42, 235, 238; vom 1. Juni 1962 - 4 StR 88/62, BGHSt 17, 333, 334 ff.), den Zustand seiner verminderten oder aufgehobenen Schuldfähigkeit also schuldhaft herbeiführt haben - gleich ob dies vorsätzlich oder nur fahrlässig geschah (vgl. BGH, Urteil vom 21. Oktober 1970 - 2 StR 313/70, BGHSt 23, 356, 358). Ist das Verhalten des Täters insgesamt als Ausdruck seiner psychischen Störung zu verstehen, fehlt es an einer trennbaren Vorverlagerung der Schuld (zu § 21 StGB: BGH, Beschlüsse vom 17. Januar 1995 - 4 StR 694/94, aaO; vom 26. Februar 2019 - 1 StR 614/18, aaO; vom 12. Januar 2021 - 1 StR 488/20, StV 2021, 421).

bb) Hiervon ist das Landgericht zutreffend ausgegangen. Seine Würdigung, dass ein schuldhaftes Handeln des Beschuldigten zu einem den Tatzeitpunkten vorgelagerten Zeitpunkt nicht feststellbar sei, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Sie beruht auf einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung.

(1) Entgegen der Auffassung der Revisionen bedurfte es keiner näheren Erörterung, ob dem Beschuldigten nach dem ersten Messerangriff am 19. April 2022 „die Auswirkungen der Nichteinnahme des Clozapin für ihn auflodernd vor Augen gewesen sein müssen“. Denn zu diesem Zeitpunkt befand sich der Beschuldigte, wie das Landgericht festgestellt hat, bereits durchgehend in einem die Schuld ausschließenden Zustand.

(2) Das Landgericht hat in Chats des Beschuldigten Anhaltspunkte für ein mögliches Vorverschulden gesehen und dabei nicht nur auf die Tötungsfantasien („jemand … erledigen“) und die ablehnende Haltung gegenüber einer Medikamenteneinnahme abgestellt, sondern überdies zugrunde gelegt, dass es sich bei dem in der Nachricht aus Dezember 2021 genannten „jemand“ um den Geschädigten Ö. handelte. Es hat diese einschließlich ihrer jeweiligen Entstehungszeitpunkte in den Urteilsgründen wiedergegebenen Nachrichten gewürdigt und dabei erkennbar den gesamten maßgeblichen Zeitpunkt zwischen Dezember 2021 (teilweises Absetzen von Clozapin) bis März 2022 (vollständiges Absetzen) in den Blick genommen. Seine Annahme nicht sicher feststellbarer Schuldfähigkeit in diesem Zeitraum hat es - den nachvollziehbaren Ausführungen der Sachverständigen folgend - nicht nur darauf gestützt, dass das zunächst teilweise und dann vollständige Absetzen der antipsychotischen Medikation dem typischen Krankheitsbild eines Schizophrenen entspreche. Es hat sich auch darauf gestützt, dass sich der psychische Zustand des Beschuldigten deswegen verschlechterte, weil er - was wiederum Bestandteil seiner Störung sein kann - keine Krankheitseinsicht hatte (er wollte es nicht akzeptieren, psychisch krank zu sein). Überdies war - wie die Sachverständige näher dargelegt hat - die nach seiner Entlassung aus der Klinik im Sommer 2021 verordnete Medikation des Beschuldigten zur Behandlung seiner Erkrankung deutlich unterdosiert. Aus alledem hat die Strafkammer den Schluss gezogen, das gesamte Verhalten des Beschuldigten ab Dezember 2021 sei Ausdruck seiner psychischen Erkrankung. Dagegen ist revisionsrechtlich nichts zu erinnern.

3. Das angefochtene Urteil hält revisionsrechtlicher Nachprüfung auch stand, wenn man ohne Rückgriff auf die entsprechenden Grundsätze der actio libera in causa jedes in Bezug auf den tatbestandsmäßigen „Erfolg” sorgfaltswidrige Verhalten des Beschuldigten - hier in der Form eines Unterlassens - in den Blick nimmt (vgl. zu Straßenverkehrsdelikten BGH, Urteile vom 22. August 1996 - 4 StR 217/96, BGHSt 42, 235, 236; vom 17. November 1994 - 4 StR 441/94, BGHSt 40, 341). Unbeschadet der sich auch insoweit stellenden Frage nach einer Garantenstellung des Beschuldigten ist die Wertung des Landgerichts, dass eine vorwerfbare Sorgfaltspflichtverletzung des Beschuldigten im Zusammenhang mit der reduzierten und dann unterlassenen Medikamenteneinnahme zu keinem Zeitpunkt feststellbar ist, revisionsrechtlich - wie bereits ausgeführt - nicht zu beanstanden.

HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 157

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede