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HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 1273

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 340/24, Beschluss v. 05.09.2024, HRRS 2024 Nr. 1273


BGH 6 StR 340/24 - Beschluss vom 5. September 2024 (LG Halle)

Versuchter Totschlag (Vorsatz: bedingter Vorsatz, gebotene Gesamtschau der bedeutsamen objektiven und subjektiven Tatumstände; spontane, unüberlegt oder in affektiver Erregung ausgeführte Handlungen).

§ 212 Abs. 1 StGB; § 15 StGB; § 22 StGB; § 23 Abs. 1 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Bedingten Tötungsvorsatz hat, wer den Eintritt des Todes als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und billigend in Kauf nimmt (Willenselement). Beide Elemente müssen getrennt voneinander geprüft und durch tatsächliche Feststellungen belegt werden. Ihre Bejahung oder Verneinung kann nur auf der Grundlage einer Gesamtbetrachtung aller objektiven und subjektiven Umstände erfolgen, wobei bei der Prüfung neben der objektiven Gefährlichkeit der Tathandlung und der konkreten Angriffsweise des Täters auch seine psychische Verfassung bei Tatbegehung und seine Motivationslage einzubeziehen sind (st. Rspr.).

2. Insbesondere bei spontanen, unüberlegt oder in affektiver Erregung ausgeführten Handlungen kann aus der Kenntnis der Gefahr des möglichen Todeseintritts nicht ohne Berücksichtigung der sich aus der Tat und der Persönlichkeit des Täters ergebenden Besonderheiten geschlossen werden, dass das voluntative Vorsatzelement gegeben ist.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Halle vom 11. März 2024 aufgehoben mit Ausnahme der Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen, die aufrechterhalten bleiben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit schwerer und mit gefährlicher Körperverletzung unter Einbeziehung einer anderen Strafe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Das auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützte Rechtsmittel des Angeklagten hat weitgehend Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist es unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

1. Nach den Feststellungen verbrachten der Angeklagte, der Zeuge Z., der spätere Geschädigte N. und der Zeuge Ny. im November 2013 die Nacht gemeinsam in der im zweiten Obergeschoss gelegenen Wohnung Ny. s. Die Stimmung war infolge Alkohol- und Kokainkonsums gelöst. Sowohl der Angeklagte als auch der Zeuge Z. fühlten sich zu dem wegen transsexueller Neigungen als Frau auftretenden Ny. hingezogen, der ihnen als attraktive Frau erschien. Als der eifersüchtige homosexuelle Geschädigte darauf hinwies, dass es sich bei seinem Freund Ny. um einen Mann handele, geriet der Angeklagte in heftige Wut, ergriff den ihm körperlich unterlegenen Geschädigten an dessen Hemd, schob ihn in Richtung des geöffneten Fensters und stieß ihn heftig gegen den nicht vollständig herabgelassenen Rollladen. Infolge der Wucht des Aufpralls brach der Rollladen einseitig aus der Führungsschiene, und der Geschädigte stürzte mehr als sechs Meter hinab auf den Gehweg, wo er mit dem Kopf aufschlug. Er erlitt unter anderem schwere und konkret lebensgefährliche Kopfverletzungen. Infolgedessen kann er nur noch eingeschränkt sprechen und laufen, ist seither erwerbsunfähig und bei der Bewältigung seines Alltags dauerhaft auf fremde Hilfe angewiesen.

Der Angeklagte wollte den Geschädigten durch den Stoß aus dem Fenster verletzen, um ihn auf diese Weise für die Täuschung über das Geschlecht Ny. s und dessen vorhergehende Annäherungsversuche ihm - dem Angeklagten - gegenüber zu bestrafen. Ihm war aber auch bewusst, dass der Geschädigte einen Sturz aus dem zweiten Stock mit großer Wahrscheinlichkeit nicht oder nur mit schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen überleben würde, was er jedoch billigend in Kauf nahm.

2. Der Schuldspruch kann nicht bestehen bleiben, weil die Feststellungen zur subjektiven Tatseite nicht tragfähig belegt sind.

a) Bedingten Tötungsvorsatz hat, wer den Eintritt des Todes als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und billigend in Kauf nimmt (Willenselement). Beide Elemente müssen getrennt voneinander geprüft und durch tatsächliche Feststellungen belegt werden. Ihre Bejahung oder Verneinung kann nur auf der Grundlage einer Gesamtbetrachtung aller objektiven und subjektiven Umstände erfolgen, wobei bei der Prüfung neben der objektiven Gefährlichkeit der Tathandlung und der konkreten Angriffsweise des Täters auch seine psychische Verfassung bei Tatbegehung und seine Motivationslage einzubeziehen sind (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 14. August 2014 ? 4 StR 163/14, NStZ 2015, 266, 267 mwN).

b) Diesen Anforderungen wird das Urteil nicht gerecht, weil den Urteilsgründen schon nicht zu entnehmen ist, aufgrund welcher Indizien das Landgericht auf die Merkmale der inneren Tatseite geschlossen hat.

aa) Zwar deuten die Urteilsgründe in ihrem Gesamtzusammenhang an, dass die Strafkammer die Gefährlichkeit der Tathandlung und den Grad der Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts im Blick hatte. Beide Umstände sind indessen keine allein maßgeblichen Kriterien für die Entscheidung, ob ein Täter mit bedingtem Vorsatz gehandelt hat; vielmehr kommt es auch bei besonders gefährlichen Handlungen auf die Umstände des Einzelfalls an (vgl. BGH, Urteile vom 23. März 2022 - 6 StR 343/21; vom 26. November 2014 - 2 StR 54/14, NStZ 2015, 516). Das Landgericht hat die gebotene Gesamtschau der bedeutsamen objektiven und subjektiven Tatumstände (vgl. BGH, Urteile vom 4. August 2021 - 2 StR 178/20; vom 31. Januar 2019 - 4 StR 432/18, Rn. 10) nicht vorgenommen.

Insbesondere bei spontanen, unüberlegt oder in affektiver Erregung ausgeführten Handlungen kann aus der Kenntnis der Gefahr des möglichen Todeseintritts nicht ohne Berücksichtigung der sich aus der Tat und der Persönlichkeit des Täters ergebenden Besonderheiten geschlossen werden, dass das voluntative Vorsatzelement gegeben ist (vgl. BGH, Urteile vom 23. März 2022 - 6 StR 343/21, Rn. 8; vom 8. Dezember 2016 - 1 StR 344/16). Das Landgericht hatte auch die alkoholbedingte Enthemmung des Angeklagten als weiteren Umstand zur Entkräftung des Tötungsvorsatzes in den Blick zu nehmen. Dies ist auch in Fällen geboten, in denen das Tatgericht - wie hier - eine uneingeschränkte Schuldfähigkeit bejaht (vgl. BGH, Urteil vom 21. September 2022 - 6 StR 47/22, Rn. 42).

bb) Dem Handlungsantrieb des Angeklagten, den Geschädigten für seine Annäherungsversuche und die vermeintliche Täuschung zu bestrafen, kommt nur insoweit Bedeutung zu, als dieser Rückschlüsse auf die Stärke des vom Täter empfundenen Tatanreizes und damit auch auf seine Bereitschaft zur Inkaufnahme schwerster Folgen zulässt (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2024 - 6 StR 71/24, Rn. 14 mwN). Denn mit bedingtem Tötungsvorsatz handelnde Täter verfügen regelmäßig über kein Tötungsmotiv (vgl. BGH, Urteile vom 26. März 2015 - 4 StR 442/14, Rn. 10; vom 23. Februar 2012 - 4 StR 608/11, Rn. 20; vom 30. November 2005 - 5 StR 344/05, BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 61).

3. Obschon die Annahme von bedingtem Tötungsvorsatz nicht fernliegt, bedarf die Sache aufgrund des aufgezeigten Rechtsfehlers neuer tatgerichtlicher Verhandlung und Entscheidung. Die Aufhebung entzieht auch dem Schuldspruch zu den tateinheitlich verwirklichten Delikten die Grundlage. Die von dem Rechtsfehler nicht betroffenen Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen haben hingegen Bestand (§ 353 Abs. 2 StPO) und können um ihnen nicht widersprechende ergänzt werden.

HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 1273

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede