HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 539
Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 343/21, Urteil v. 23.03.2022, HRRS 2022 Nr. 539
Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Bamberg vom 20. Oktober 2020 wird verworfen. Die Kosten des Rechtsmittels und die dem Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen werden der Staatskasse auferlegt. - Von Rechts wegen -
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt. Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision der Staatsanwaltschaft beanstandet die unterbliebene Verurteilung wegen eines versuchten Tötungsdelikts. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat keinen Erfolg.
1. Das Landgericht hat festgestellt:
Am Tattag stritten der Angeklagte und die Geschädigte im Auto lautstark über familiäre Angelegenheiten. Mit den Worten: „Jetzt reicht‘s!“ griff der Angeklagte die Geschädigte körperlich an, und es entstand ein Handgemenge, in dessen Verlauf er ihr mindestens einmal mit der Faust ins Gesicht schlug und sie würgte. Es gelang ihr einige Male, sich kurzzeitig dem Zugriff zu entziehen; der Angeklagte setzte jedoch immer wieder neu an. Durch die Hilferufe wurden Passanten auf das Geschehen aufmerksam. Der Angeklagte hielt den Hals der Geschädigten etwa zwei Minuten durchgehend so fest umklammert, dass es den Zeugen anfangs nicht gelang, den Griff zu lösen. Erst nach tätlicher Einwirkung auf ihn konnte er von der Geschädigten getrennt werden. Er war sich bewusst, dass das Würgen potenziell lebensbedrohlich war. Die Geschädigte erlitt unter anderem Hautrötungen mit oberflächlichen Defekten am Hals und während des Geschehens zeitweise Atemnot.
2. Das Landgericht hat sich nicht davon zu überzeugen vermocht, dass der Angeklagte sich mit dem Tod seiner Ehefrau abfand oder diesem auch nur gleichgültig gegenüberstand.
Zwar sei der Angriff gegen den Hals durch länger anhaltendes Würgen abstrakt lebensbedrohlich. Eine konkrete Lebensgefahr habe jedoch nicht vorgelegen. So seien Petechien ebenso wenig festzustellen gewesen wie Ohnmacht oder andere Vorfälle, die auf einen dauerhaft starken Druck hindeuten könnten. Aufgrund der Hilfeschreie könne ferner eine besonders gefährliche Kehlkopfkompression ausgeschlossen werden. Es sei auch kein Motiv erkennbar, warum der Angeklagte den Tod seiner ihn stets unterstützenden Ehefrau zumindest gebilligt haben könnte. Nach deren Versterben wäre vielmehr auch die Beziehung zum gemeinsamen Sohn beendet worden. Schließlich sei einzustellen, dass es in der Beziehung zuvor keine gewalttätigen Übergriffe gegeben und der Angeklagte bislang straffrei gelebt habe.
3. Die beweiswürdigenden Erwägungen des Landgerichts halten auch eingedenk des insoweit eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs (vgl. BGH, Urteile vom 2. Dezember 2005 - 5 StR 119/05, NJW 2006, 925, 928; vom 18. September 2008 - 5 StR 224/08, NStZ 2009, 401) rechtlicher Überprüfung stand.
a) Die Gefährlichkeit der Tathandlung und der Grad der Wahrscheinlichkeit eines Erfolgseintritts sind keine allein maßgeblichen Kriterien für die Entscheidung, ob ein Angeklagter mit bedingtem Vorsatz gehandelt hat; vielmehr kommt es auch bei besonders gefährlichen Handlungen auf die Umstände des Einzelfalls an (vgl. BGH, Beschluss vom 30. Juli 2019 - 2 StR 122/19, NStZ 2020, 288, 289). Das Landgericht hat die gebotene Gesamtschau der bedeutsamen objektiven und subjektiven Tatumstände vorgenommen (vgl. BGH, Urteile vom 15. Januar 2020 - 2 StR 304/19 Rn. 14; vom 31. Januar 2019 - 4 StR 432/18 Rn. 10) und dabei insbesondere die objektive Gefährlichkeit der Verletzungshandlungen (zweiminütiges durchgehendes, potenziell lebensgefährliches Würgen; andererseits keine konkrete Lebensgefahr), den Tathergang (spontane, unüberlegte Tat) und die psychische Verfassung des Angeklagten (wiederholter Streit und aufgeheizte Stimmung) bedacht. Bei seiner Bewertung der Beweistatsachen hat es sich nicht mit allgemeinen, formelhaften Wendungen begnügt; vielmehr hat es seine Überzeugung, der Vorsatz des Angeklagten habe sich jeweils nur auf eine Körperverletzung bezogen, mit auf den konkreten Fall abgestellten Erwägungen begründet. Den Aspekt einer gegenüber Tötungen bestehenden höheren „Hemmschwelle“ (vgl. dazu BGH, Urteil vom 22. März 2012 - 4 StR 558/11, BGHSt 57, 183, 189) hat es in Beziehung zu der vom Angeklagten erkannten generellen Gefährlichkeit der Tathandlung einerseits und seiner Bindung zur Geschädigten andererseits erörtert.
b) Zur Verneinung des voluntativen Elements des Vorsatzes durfte die Schwurgerichtskammer die affektive Erregung vorsatzkritisch heranziehen. Denn bei spontanen, unüberlegt oder in affektiver Erregung ausgeführten Handlungen kann aus der Kenntnis der Gefahr des möglichen Todeseintritts nicht ohne Berücksichtigung der sich aus der Tat und der Persönlichkeit des Täters ergebenden Besonderheiten geschlossen werden, dass das voluntative Vorsatzelement gegeben ist (vgl. BGH, Beschluss vom 30. Juli 2019 ? 2 StR 122/19, aaO). Dementsprechend hat das Landgericht gewichtet, dass sich der Angeklagte - trotz der angespannten Beziehung zu seiner von ihm getrennt lebenden Ehefrau und seiner passiv-aggressiven Persönlichkeitsstruktur in dieser sich über einen längeren Zeitraum hinziehenden Auseinandersetzung - erstmals zu Gewalttätigkeiten hinreißen ließ.
c) Indem das Landgericht ferner eingestellt hat, dass die Geschädigte „Bindeglied“ zwischen dem Angeklagten und dem gemeinsamen Sohn war und der Angeklagte daher dem Tod der Geschädigten nicht wenigstens gleichgültig gegenüberstand (vgl. BGH, Urteil vom 28. April 2021 - 5 StR 500/20 Rn. 8 mwN), hat es nicht zugunsten des Angeklagten eine Konstellation unterstellt, für die es keinen Anknüpfungspunkt gab (vgl. BGH, Urteil vom 11. März 2014 - 5 StR 649/13 Rn. 6). Da der Angeklagte in der konkreten Tatsituation die verbale Auseinandersetzung kontrollieren wollte, konnte das Landgericht unter Hinweis auf die Beziehung zur Geschädigten, die ihn trotz der Trennung im Alltag stets unterstützt und den Kontakt mit dem Sohn vermittelt hatte, dahin werten, dass ein einsichtiger Grund für ihre Tötung fehlte (vgl. BGH, Beschluss vom 30. Juli 2019 ? 2 StR 122/19, aaO).
HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 539
Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede