HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 771
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 459/21, Beschluss v. 17.01.2023, HRRS 2023 Nr. 771
1. Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 22. Juni 2021 dahin geändert, dass die Angeklagten der schweren Misshandlung von Schutzbefohlenen durch Unterlassen schuldig sind.
2. Die weitergehenden Revisionen werden mit der Maßgabe, dass von den verhängten Freiheitsstrafen für die Angeklagten wegen der Dauer des Revisionsverfahrens jeweils ein Monat als bereits vollstreckt gilt, als unbegründet verworfen.
3. Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Das Landgericht hat die Angeklagten wegen schwerer Misshandlung von Schutzbefohlenen durch Unterlassen in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung durch Unterlassen verurteilt, den Angeklagten A. zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren, die Angeklagte F. zu einer solchen von fünf Jahren und neun Monaten. Außerdem hat es bestimmt, dass Auslieferungshaft in Schweden nach dem Maßstab von eins zu eins auf die Strafen angerechnet wird. Schließlich hat es Entscheidungen in Adhäsionsverfahren getroffen. Gegen dieses Urteil richten sich die Revisionen der Angeklagten jeweils mit der Sachrüge. Die Rechtsmittel führen zu einer Änderung des Schuldspruchs und zu einer Kompensationsentscheidung wegen der langen Dauer des Revisionsverfahrens; im Übrigen sind sie unbegründet.
Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
1. Die Angeklagte F. hatte ab dem Jahr 2015 eine Beziehung mit dem arbeitslosen Angeklagten A. Beide lebten zuletzt von staatlichen Leistungen nach dem SGB II. Am 25. Mai 2018 wurde die Geschädigte I. A. als gemeinsames Kind der Angeklagten gesund geboren; sie wog bei der Geburt 3.050 g. Die Angeklagten richteten ihren Alltag nach der Geburt des Kindes nicht nach dessen Bedürfnissen aus, sondern nur nach ihren eigenen Interessen. Unter anderem machten sie Ausflüge, Wanderungen und Fernreisen. Bis zur Untersuchung U 5 war die Kindesentwicklung unauffällig; dann war die Geschädigte leicht untergewichtig, worauf die Kinderärztin hinwies. Diese klärte die Angeklagten auch über die erforderliche Ernährung auf und forderte sie zur Wahrnehmung eines Kontrolltermins auf, wozu es aber nicht kam.
Anfang 2019 war die finanzielle Situation der Angeklagten besonders angespannt und die Angeklagte F. litt unter einer depressiven Verstimmung. Vom Angeklagten A. erfuhr sie keine Unterstützung; dieser ging nur seinen Hobbys nach. Die Geschädigte wurde vernachlässigt, vor allem hinsichtlich ihrer Ernährung. Ihr Körpergewicht nahm stetig ab und die Angeklagten bemerkten ihren Verfall. Sie verhinderten, dass andere Personen, insbesondere die Großeltern des Kindes, davon erfuhren. Die Angeklagten machten aber Reisen und Ausflüge, was der Angeklagte A. bei Beschriftungen zu Fotos, die er im Internet postete, unter anderem mit der Bemerkung versah: „Wunderschönen Tag in A. verbracht. Die Sonne genossen und es mit allem drum und dran gut gehen lassen“.
Demgegenüber sparten die Angeklagten an Babynahrung. Das Kind erhielt nur wenige Löffel Nahrung aus Gläschen, deren Inhalt anschließend verschimmelte. Auch die Körperhygiene des Kindes war desolat. Anfang Mai 2019 befand sich das Kind in einem lebensbedrohlichen Zustand. Es war somnolent und konnte keine Nahrung mehr aufnehmen. Am 6. Mai 2019 hörte die Angeklagte F. ein Röcheln aus dem Kinderzimmer und befürchtete, dass das Kind sterben würde. Sie hatte Angst, selbst nachzusehen, und bat den Angeklagten A. darum. Nachdem dieser das Kind reglos vorgefunden hatte, fuhren die Angeklagten mit ihm zur Rettungswache des Roten Kreuzes. Das knapp einjährige Kind wog nur noch 4.000 g, war apathisch, bewegte sich nicht mehr, hatte Atemaussetzer und zeigte keine Reaktionen. Es war klinisch tot, wurde aber von einem Rettungssanitäter reanimiert. Dann wurde es in die Klinik verbracht, wo es erneut reanimiert werden musste. Dort wurde unter anderem ein „Hungerdarm“ festgestellt, der durch lange Mangelernährung entsteht.
Am 28. Mai 2019 wurde das Kind aus dem Krankenhaus entlassen und kam in die Obhut einer Pflegefamilie. Es zeigt eine globale Entwicklungsstörung; voraussichtlich werden kognitive Beeinträchtigungen infolge der Tat verbleiben.
2. Das Landgericht hat angenommen, dass sich die Angeklagten der schweren Misshandlung von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, jeweils durch Unterlassen, gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 4, § 225 Abs. 1 Nr. 1 und 2, Abs. 3 Nr. 1, § 13, § 25 Abs. 2 StGB schuldig gemacht haben.
Die Rechtsmittel führen aufgrund der erhobenen allgemeinen Sachrügen zu einer Änderung des Schuldspruchs. Im Übrigen sind sie unbegründet.
1. Die Verurteilung der Angeklagten wegen schwerer Misshandlung einer Schutzbefohlenen durch Unterlassen gemäß § 225 Abs. 1 Nr. 1 und 2, Abs. 3 Nr. 1, § 13 Abs. 1 StGB ist rechtlich nicht zu beanstanden.
2. Jedoch muss der Schuldspruch wegen tateinheitlich begangener gefährlicher Körperverletzung durch Unterlassen nach § 224 Abs. 1 Nr. 4, § 13 Abs. 1 StGB entfallen.
a) Dieser Qualifikationstatbestand setzt voraus, dass der Täter die Körperverletzung mit einem anderen Beteiligten gemeinschaftlich begeht. Ob die Voraussetzungen dieser Strafvorschrift auch bei einem Unterlassen durch zwei Garanten erfüllt sind, hat der Bundesgerichtshof bislang nicht entschieden. Nach der Rechtsprechung kommt eine Strafbarkeit nach § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB allerdings dann nicht in Betracht, wenn neben dem aktiv handelnden Täter der Körperverletzung dem Opfer nur eine weitere Person gegenübersteht, die sich rein passiv verhält (vgl. BGH, Beschluss vom 21. Juli 2015 - 3 StR 261/15, StraFo 2015, 478; Beschluss vom 10. Januar 2017 - 3 StR 278/16, StV 2017, 387).
b) Reicht aber die bloße Anwesenheit einer weiteren Person am Tatort neben einem aktiv handelnden Täter zur Erfüllung des Tatbestandes von § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB nicht aus, kann die Untätigkeit eines weiteren Garanten bei einer allein durch Unterlassen begangenen Körperverletzung erst recht nicht zur Erfüllung des Qualifikationstatbestandes führen. Diese Auslegung ergibt sich maßgeblich aus Sinn und Zweck der Vorschrift.
aa) Der Wortlaut der Bestimmung gibt keine abschließende Auskunft über die Art und Qualität der Tatbeteiligung. Einerseits setzt sie eine „gemeinschaftlich“ begangene Tat voraus, was auf eine Voraussetzung einer mittäterschaftlichen Begehung hinweisen könnte; andererseits verlangt sie die Mitwirkung eines weiteren „Beteiligten“, worunter sowohl Täter als auch Teilnehmer (§ 28 Abs. 2 StGB) in beliebiger Konstellation, also grundsätzlich auch durch Unterlassen, verstanden werden können (vgl. BGH, Urteil vom 3. September 2002 - 5 StR 210/02, BGHSt 47, 383, 386). Der Qualifikationstatbestand des Besonderen Teils hat mit den genannten Begriffen nicht bestimmte Teilnahmeformen oder Begehungsarten des Allgemeinen Teils aufgenommen, sondern eigene Tatbestandvoraussetzungen formuliert, die eigenständig auszulegen sind (vgl. Küper, GA 2003, 383, 374 ff.).
bb) Die Materialien zum Sechsten Gesetz zur Reform des Strafrechts (6. StrRG vom 26. Januar 1998, BGBl. I S. 164) haben sich zur Auslegung des damals neu gefassten Qualifikationstatbestands nicht geäußert (vgl. BT-Drucks. 13/8587 S. 36 f.; 13/9064 S. 15 f.).
cc) Für die Frage, welche Art und Qualität der Beteiligungshandlung zur Tatbestandserfüllung vorauszusetzen ist, bleiben danach Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung maßgebend (vgl. BGH aaO, BGHSt 47, 383, 386). Das gilt auch für die Frage, ob der Qualifikationstatbestand durch ein unechtes Unterlassungsdelikt erfüllt werden kann. Der Normzweck spricht gegen eine Qualifikation der Körperverletzung durch alleiniges Unterlassen zweier Garanten (vgl. BeckOK-StGB/Eschelbach, 55. Ed., § 224 Rn. 39; LK/Grünewald, aaO § 224 Rn. 33; MüKo-StGB/Hardtung, 4. Aufl., § 224 Rn. 38; Otto, NStZ 1989, 531; NK-StGB/Paeffgen/Böse, 5. Aufl., § 224 Rn. 26; Schönke/Schröder/Stree/Sternberg-Lieben, StGB, 30. Aufl., § 224 Rn. 11b; SK-StGB/Wolters, 9. Aufl., § 224 Rn. 35).
(1) Der Grund für die Qualifikation der Körperverletzung in Fällen, in denen ein Täter („Wer“) die Körperverletzung „mit einem anderen Beteiligten gemeinschaftlich“ begeht, besteht in der besonderen Gefahr für das Opfer, dass es bei der Konfrontation mit einer Übermacht psychisch oder physisch in seinen Abwehr- oder Fluchtmöglichkeiten beeinträchtigt wird (vgl. BGH, Urteil vom 3. September 2002 - 5 StR 210/02, BGHSt 47, 383, 387; BGH, Beschluss vom 30. Juni 2015 ? 3 StR 171/15, NStZ 2015, 584, 585), ferner in der Gefahr der Verursachung erheblicher Verletzungen infolge der Beteiligung mehrerer Personen an der Körperverletzung (vgl. Deutscher, NStZ 1990, 125, 127; LK/Grünewald, StGB, 12. Aufl., § 224 Rn. 29; Heinrich, JR 2003, 213, 214; Küper, GA 2003, 383, 368; SSW-StGB/Momsen-Pflanz/Momsen, 5. Aufl., § 224 Rn. 24). Diese Gefahren bestehen in einer Weise, welche die Erhöhung des Strafrahmens rechtfertigt, nur dann, wenn bei der Begehung der Körperverletzung zwei oder mehr Beteiligte am Tatort anwesend sind und bewusst durch aktive Tatbeiträge mitwirken (vgl. BGH, Urteil vom 22. Dezember 2005 - 4 StR 347/05, NStZ 2006, 572, 573; Beschluss vom 25. Juli 2017 - 3 StR 113/17, NStZ 2017, 640 f.).
(2) Die bloße Anwesenheit von Personen, die passiv bleiben, rechtfertigt daher die erhöhte Strafdrohung nicht. Das Unterlassen entspricht nicht einer Verwirklichung des Qualifikationstatbestandes durch ein Tun (§ 13 Abs. 1 StGB).
3. Die Verurteilung der Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung erweist sich auch nicht aus anderen Gründen als zutreffend.
a) Eine aktive Verletzungshandlung unter Begehung der Tat mit einem anderen gemeinschaftlich unter Konfrontation mit dem Opfer ist nicht festgestellt. Der Senat schließt aus, dass dazu noch Feststellungen getroffen werden können.
b) Der verwirklichte § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB tritt hinter § 225 Abs. 3 Nr. 1 Var. 1 StGB zurück. Wird eine schutzbefohlene Person durch die Tat nach § 225 Abs. 1 StGB in die konkrete Gefahr des Todes gebracht, wodurch der Qualifikationstatbestand des § 225 Abs. 3 Nr. 1 Var. 1 StGB erfüllt wird, so ist für einen Schuldspruch wegen tateinheitlich begangener gefährlicher Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB, der bei Verursachung einer abstrakten Todesgefahr eingreift, kein Raum (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Februar 2009 - 4 StR 624/08; Beschluss vom 14. Juni 2016 - 3 StR 22/16, NStZ 2016, 673 f.; Beschluss vom 7. August 2018 - 4 StR 89/18).
4. § 225 StGB verdrängt, soweit er - wie hier - jedenfalls unter anderem auch bezüglich körperlicher Beeinträchtigungen des Opfers eine Qualifikation der einfachen Körperverletzung darstellt, auch den Grundtatbestand des § 223 Abs. 1 StGB (vgl. LK/Grünewald, aaO, § 225 Rn. 34).
5. Danach muss die Verurteilung wegen eines tateinheitlich durch Unterlassen begangenen Körperverletzungsdelikts entfallen. Der Strafausspruch kann gleichwohl bestehen bleiben; denn dieser wurde vom Landgericht bei der Strafzumessung nicht erwähnt.
HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 771
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede