HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 687
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 479/21, Beschluss v. 30.03.2023, HRRS 2023 Nr. 687
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bonn vom 16. Juni 2021 im Maßregelausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weitergehende Revision wird mit der Maßgabe, dass wegen der langen Dauer des Revisionsverfahrens ein Monat der verhängten Freiheitsstrafe als bereits vollstreckt gilt, als unbegründet verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen besonders schweren Raubes in Tateinheit mit besonders schwerer räuberischer Erpressung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Außerdem hat es die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt angeordnet und bestimmt, dass die Strafe vor der Maßregel zu vollziehen ist. Gegen dieses Urteil richtet sich die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang Erfolg. Im Übrigen ist es unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO und führt nur wegen der langen Dauer des Revisionsverfahrens zu einer Kompensationsentscheidung.
Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
1. a) Der mehrfach vorbestrafte Angeklagte hat keinen Schulabschluss und keine Berufsausbildung. Ab dem 14. Lebensjahr konsumierte er Cannabis und Alkohol, später auch Kokain. In der Haft wegen Vorstrafen konsumierte er zwar keine Drogen, nahm den Kokainkonsum aber nach der Entlassung jeweils wieder auf. Durch die Ausländerbehörde wurde der Angeklagte ausgewiesen und ihm wurde die Abschiebung angedroht.
b) Der Angeklagte und der frühere Mitangeklagte S. beschlossen am 17. August 2020, eine Spielhalle zu überfallen. Der Angeklagte konsumierte an diesem Tag zweimal ein halbes Gramm Kokain, in der Nacht kurz vor der Tat nochmals ein halbes Gramm. Nach Mitternacht ließ S., der sich als scheinbarer Kunde in der Spielhalle aufhielt, den Angeklagten durch einen Hintereingang herein. Der Angeklagte war maskiert und mit einem Messer bewaffnet. Unter Drohung mit dem Messer nötigte er den Spielhallenmitarbeiter So. zur Öffnung der Kassenschublade, aus welcher er 500 Euro Bargeld wegnahm; außerdem zwang er So. zur Herausgabe von 2.300 Euro aus einem Geldwechselautomaten. Bei der Begehung der Tat war die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten weder aufgehoben noch erheblich vermindert.
2. Das Landgericht hat das Vorliegen der Voraussetzung des § 64 StGB für die Maßregelanordnung bejaht und den Vorwegvollzug der Strafe vor der Maßregel angeordnet; es sei zu erwarten, dass der Inlandsaufenthalt des Angeklagten, der vollziehbar zur Ausreise verpflichtet sei, während der Verbüßung der Strafe beendet werde.
Die Revision zeigt zum Schuld- und Strafausspruch keinen Rechtfehler zum Nachteil des Angeklagten auf. Jedoch hat der Maßregelausspruch keinen Bestand.
1. Das sachverständig beratene Landgericht hat ausgeführt, die Voraussetzungen des § 64 StGB lägen vor. Der Angeklagte habe einen Hang zum Betäubungsmittelkonsum im Übermaß. Dieser Hang sei mitursächlich für die Tatbegehung gewesen. Nach den Lebensumständen und den früheren Straftaten sei von der Gefahr erheblicher künftiger Straftaten des Angeklagten infolge des Hangs auszugehen. Es bestehe auch eine hinreichend konkrete Aussicht, ihn in einer Entziehungsanstalt zu heilen oder zumindest über eine erhebliche Zeitspanne vor einem Rückfall zu bewahren. Zwar spreche die dissoziale Persönlichkeitsentwicklung des Angeklagten dagegen. Für eine Erfolgsaussicht sei aber anzuführen, dass der Angeklagte noch keine Therapieversuche unternommen habe und in der Haft phasenweise zur Abstinenz fähig gewesen sei. Zudem sei bei ihm eine Motivation dafür vorhanden, drogenfrei zu leben. Falls sich der soziale Empfangsraum des Angeklagten dahin zum Positiven wenden sollte, dass er nicht mehr vollziehbar zur Ausreise verpflichtet sei, sei davon auszugehen, dass eine weitergehende Therapiewilligkeit entstehen werde.
2. Die Erörterung des Bestehens einer hinreichend konkreten Aussicht auf einen Maßregelerfolg ist lückenhaft.
a) Bei der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB handelt es sich um eine den Angeklagten belastende Maßregel (vgl. Senat, Urteil vom 18. Dezember 2019 - 2 StR 331/19, NStZ-RR 2020, 208; BGH, Beschluss vom 25. Januar 2022 - 3 StR 493/21, NStZ-RR 2022, 106). Die Anordnung setzt neben den Kriterien des § 64 Satz 1 StGB auch „eine hinreichend konkrete Aussicht“ auf einen Behandlungserfolg voraus (§ 64 Satz 2 StGB). Dafür erforderlich ist, dass sich in der Persönlichkeit und den Lebensumständen des Verurteilten konkrete Anhaltspunkte für einen erfolgreichen Verlauf der Therapie finden lassen (vgl. BGH, Beschluss vom 1. Oktober 2020 - 3 StR 325/20, juris, Rn. 4). § 67 Abs. 2 Satz 4 StGB greift - unbeschadet des gesetzgeberischen Motivs, dass bei angedrohter Abschiebung auch die Therapieaussichten zweifelhaft erscheinen können (BT-Drucks. 16/1110 S. 15) - erst ein, wenn die Voraussetzungen des § 64 StGB für die Maßregelanordnung vorliegen und die Unterbringung geboten ist (BT-Drucks. aaO S. 14 f.). Daher muss zunächst, unabhängig von der Frage des Vorwegvollzugs der Freiheitsstrafe, eine hinreichend konkrete Aussicht auf einen Behandlungserfolg aufgrund einer Gesamtschau aller maßgeblichen Umstände festgestellt werden (vgl. Senat, Beschluss vom 10. Juni 2021 - 2 StR 104/21, juris, Rn. 18; BGH, Urteil vom 28. Mai 2018 - 1 StR 51/18, NStZ-RR 2018, 275, 276).
b) Die Ausführungen zur Frage der Erfolgsaussicht des Maßregelvollzuges sind lückenhaft. Das Landgericht hat die dissoziale Persönlichkeitsentwicklung des Angeklagten als ungünstigen Faktor und seine Fähigkeit zur phasenweisen Abstinenz sowie das bisherige Fehlen von Therapieversuchen als günstige Kriterien berücksichtigt. Es hätte aber auch die zurzeit des Urteils (vgl. Senat, Beschluss vom 29. März 2022 - 2 StR 385/21, Rn. 7 mwN) bestehenden Rahmenbedingungen, unter anderem zum sozialen Empfangsraum für den Angeklagten, in den Blick nehmen müssen. Der Angeklagte ist seit 2018 geschieden und hat weder eine Schul- oder Berufsausbildung noch eine Arbeitsstelle. Auch diese Umstände wären in die Gesamtschau aller Indizien, die für und gegen eine hinreichend konkrete Erfolgsaussicht einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt sprechen können, einzubeziehen gewesen.
Wegen der langen Dauer des Revisionsverfahrens ist nach der Vollstreckungslösung des Bundesgerichtshofs (BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 - GSSt 1/07, BGHSt 52, 124, 129 ff.) in entsprechender Anwendung von § 354 Abs. 1a StPO eine Kompensation in der Weise geboten, dass jeweils ein Monat der verhängten Freiheitsstrafen als bereits vollstreckt gilt.
HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 687
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede