HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 498
Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 385/21, Beschluss v. 29.03.2022, HRRS 2022 Nr. 498
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 16. April 2021 im Ausspruch über die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen besonders schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmittelimitaten in Tateinheit mit Betrug zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Darüberhinaus hat es seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet und Einziehungsentscheidungen getroffen. Die auf die nicht ausgeführte Formalrüge und die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat im Umfang der Beschlussformel Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
Der Ausspruch über die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt hält sachlich-rechtlicher Prüfung nicht stand.
1. Auf der Grundlage der zum Werdegang, zu den Vorstrafen und zu der abgeurteilten Tat getroffenen Feststellungen hat das Landgericht, sachverständig beraten, den gemäß § 64 Satz 1 StGB erforderlichen Hang des Angeklagten, Betäubungsmittel im Übermaß zu sich zu nehmen, ebenso rechtsfehlerfrei bejaht wie den symptomatischen Zusammenhang zwischen Hang und Tat. Auch die Prognoseentscheidung der Strafkammer ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Indessen sind die Voraussetzungen für die gemäß § 64 Satz 2 StGB geforderte hinreichend konkrete Aussicht eines Behandlungserfolges nicht rechtsfehlerfrei dargetan.
a) Der 1985 geborene Angeklagte stammt aus Algerien. Seit dem Jahr 2000 hält er sich illegal in Deutschland auf. Familiäre Bindungen bestehen nicht. Aufgrund eines abgeschlossenen Asylverfahrens ist er vollziehbar ausreisepflichtig. Der Durchführung steht die Passbeschaffung entgegen. Sein Bundeszentralregister weist 24 Eintragungen vornehmlich wegen Betäubungsmitteldelikten auf. Täglich konsumiert er drei Gramm Cannabis und ein bis zwei Gramm Kokain. Seinen Konsum finanziert er mit Straftaten.
Trotz aller negativen Faktoren - hohe Rückfallgeschwindigkeit, kein Wohnsitz, kein Schulabschluss und keine Berufsausbildung, kein reguläres Alltagsleben, mangelnde Integration ohne finanzielle Sicherheit, vollziehbare Ausreisepflicht - besteht nach Einschätzung des Sachverständigen zumindest eine „moderate“ Aussicht auf Erfolg, zumal der Angeklagte bislang noch keine Therapie absolviert hat und über Grundkenntnisse der deutschen Sprache verfügt. Voraussetzung sei allerdings, dass die in der Exploration am 13. Oktober 2020 artikulierte Therapiemotivation aufrechterhalten werde.
b) Obwohl der Angeklagte in der Hauptverhandlung erklärt hat, „einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB nicht zuzustimmen“ und ein „Absehen von der Vollstreckung im Hinblick auf seine Ausweisung“ nach § 456a StPO anzustreben, geht die Strafkammer - insoweit in Widerspruch zur Einschätzung des Sachverständigen - gleichwohl von einer hinreichend konkreten Erfolgsaussicht für eine Maßnahme nach § 64 StGB aus. Die verweigerte Zustimmung sei lediglich taktisch motiviert, die Therapiebereitschaft könne noch in der Maßregel geweckt werden.
2. Bei derart ungünstigen Ausgangsbedingungen ist keine tragfähige Basis für die erforderliche konkrete Therapieaussicht zu erkennen. Maßgeblicher Zeitpunkt für sanktionsrechtliche Prognoseentscheidungen, zu denen diejenige über den hinreichend konkreten Therapieerfolg gemäß § 64 Satz 2 StGB gehört, ist der der tatrichterlichen Hauptverhandlung (BGH, Urteil vom 28. Mai 2018 - 1 StR 51/18, BGHR StGB § 64 Satz 2 Erfolgsaussicht 6). Welche „Taktik“ der Angeklagte mit seiner - in der Hauptverhandlung erklärten - Therapieverweigerung verfolgen soll, wird von der Strafkammer nicht dargelegt. Umgekehrt liegt es nahe, dass der Angeklagte seine Therapiebereitschaft gegenüber dem Sachverständigen bei der Exploration im Oktober 2020 aus taktischen Gründen erklärt bzw. vorgeschützt hat, um gemäß § 67 Abs. 5 Satz 1 StGB nach Vollzug der Maßregel in den Genuss einer Halbstrafenaussetzung zur Bewährung zu gelangen. Dieser Anreiz ist, nachdem er sich nunmehr seit dem 17. Dezember 2019 in Untersuchungshaft befindet, bei einer prognostizierten Behandlungsdauer von zwei Jahren mittlerweile entfallen. Stattdessen strebt der Angeklagte ein Absehen von weiterer Vollstreckung gemäß § 456a StPO an. Wie vor diesem Hintergrund die Bereitschaft des Angeklagten für eine zweijährige Therapie in einer Entziehungsanstalt noch - bzw. wieder - geweckt werden kann, erschließt sich nicht ohne Weiteres und hätte von der Strafkammer dargelegt werden müssen.
Da nicht ausgeschlossen ist, dass ein neues Tatgericht Feststellungen trifft, die eine Unterbringung des Angeklagten in der Entziehungsanstalt tragen, war die Sache insoweit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückzuverweisen.
HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 498
Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß