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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 622

Bearbeiter: Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 72/23, Beschluss v. 19.04.2023, HRRS 2023 Nr. 622


BGH 1 StR 72/23 - Beschluss vom 19. April 2023 (LG Offenburg)

Begriff der prozessualen Tat (Nämlichkeit der Tat).

§ 264 Abs. 1 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Die „Nämlichkeit“ der Tat als geschichtlicher Vorgang ist anzunehmen, wenn ungeachtet möglicher erst durch die Hauptverhandlung aufgeklärter Einzelheiten bestimmte Merkmale die Tat weiterhin als einmaliges unverwechselbares Geschehen kennzeichnen. Auch bei Serienstraftaten wie Missbrauchstaten zu Lasten eines Kindes, die zudem erst nach längerer Zeit aufgedeckt werden, können der Ort und die Zeit des Vorgangs, das Täterverhalten, die ihm innewohnende Richtung, also die Art und Weise der Tatverwirklichung, und das Opfer die Vielzahl der Fälle ausreichend konkretisieren, sodass nicht nur die Umgrenzungsfunktion gewahrt ist, sondern auch die Übereinstimmung von angeklagtem und ausgeurteiltem Sachverhalt überprüft werden kann.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Offenburg vom 28. Oktober 2022 wird

a) das Verfahren im Fall II. B. Tat Ziffer 3 der Urteilsgründe eingestellt; in diesem Umfang fallen die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse zur Last;

b) das vorgenannte Urteil im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in neun Fällen, davon in sechs Fällen in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch von Kindern und in den drei anderen Fällen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern, schuldig ist.

2. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.

3. Der Beschwerdeführer hat die weiteren Kosten seines Rechtsmittels und die der Nebenklägerin insoweit entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in sieben Fällen und wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten verurteilt. Von 37 weiteren Vorwürfen des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen hat das Landgericht den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Die gegen seine Verurteilung gerichtete Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung sachlichen Rechts beanstandet, hat wegen eines Verfahrenshindernisses den aus der Beschlussformel ersichtlichen geringen Teilerfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Wesentlichen ist das Rechtsmittel unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

1. Eine Tat des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, nämlich der durch Eindringen mit dem Penis in den Mund der Nebenklägerin im Badezimmer vollzogene Oralverkehr (Fall II. B. Tat Ziffer 3 der Urteilsgründe), wird nicht von der - unverändert zugelassenen - Anklage erfasst. Da es somit an einer Verfahrensvoraussetzung fehlt, ist das Verfahren insoweit einzustellen (§ 206a Abs. 1 StPO; § 354 Abs. 1 Variante 2 StPO).

a) Dem Angeklagten ist unter Ziffer 2 der Anklageschrift vom 25. Mai 2022 zur Last gelegt worden, dass er sich in drei Fällen im Zeitraum zwischen Ende 2010 und Mitte 2014 in der Badewanne von seiner leiblichen Tochter, der im September 2001 geborenen Nebenklägerin, mit ihrer Hand an seinem Penis manipulieren ließ. Anschließend habe er sich bis zum Samenerguss selbst befriedigt. Im Fall II. B. Tat Ziffer 3 der Urteilsgründe ist hingegen festgestellt, dass der Angeklagte in der Badewanne mit seinem Penis in den Mund der Nebenklägerin eindrang, bevor er anschließend an seinem Glied bis zum Samenerguss manipulierte.

b) Mit dieser Abweichung ist die Identität der angeklagten von der festgestellten Tat (§ 264 Abs. 1 StPO) nicht gewahrt.

aa) Die „Nämlichkeit“ der Tat als geschichtlicher Vorgang ist anzunehmen, wenn ungeachtet möglicher erst durch die Hauptverhandlung aufgeklärter Einzelheiten bestimmte Merkmale die Tat weiterhin als einmaliges unverwechselbares Geschehen kennzeichnen. Auch bei Serienstraftaten wie hier den Missbrauchstaten zu Lasten eines Kindes, die zudem erst nach längerer Zeit aufgedeckt werden, können der Ort und die Zeit des Vorgangs, das Täterverhalten, die ihm innewohnende Richtung, also die Art und Weise der Tatverwirklichung, und das Opfer die Vielzahl der Fälle ausreichend konkretisieren, sodass nicht nur die Umgrenzungsfunktion gewahrt ist, sondern auch die Übereinstimmung von angeklagtem und ausgeurteiltem Sachverhalt überprüft werden kann (BGH, Urteil vom 20. Oktober 2021 - 1 StR 46/21 Rn. 10; Beschlüsse vom 27. Juli 2021 - 3 StR 195/21 Rn. 6 und vom 25. April 2019 - 1 StR 665/18 Rn. 5; je mwN).

bb) An diesen Grundsätzen gemessen und nach Maßgabe der Umstände des jeweiligen Einzelfalls (vgl. BGH, Beschlüsse vom 8. Februar 2022 - 3 StR 440/21 Rn. 7 und vom 25. April 2019 - 1 StR 665/18 Rn. 6; je mwN), namentlich der Fassung des Anklagesatzes unter zusätzlicher Berücksichtigung des wesentlichen Ergebnisses der Ermittlungen, ist der Oralverkehr in der Badewanne - anders als bei den von Ziffer 1 der Anklage erfassten Fällen des Oralverkehrs im Schlaf- oder Kinderzimmer - nicht Gegenstand der Ziffer 2 der Anklage. Unter den hier gegebenen Umständen werden die - nicht durch andere Umstände weiter individualisierbaren - Einzeltaten vornehmlich durch die Schwere des Missbrauchs (hier Oralverkehr statt „nur“ Manipulation am Glied) charakterisiert (vgl. auch BGH, Beschluss vom 27. Februar 2018 - 2 StR 390/17 Rn. 25). Das anschließende Selbstbefriedigen des Angeklagten, das in der Anklage beschrieben ist, genügt angesichts des erheblichen Abweichens der festgestellten von der angeklagten Tathandlung nicht zur Individualisierung der Tat.

2. Im Übrigen hat die auf die Sachrüge veranlasste umfassende sachlichrechtliche Überprüfung des Urteils aus den zutreffenden Erwägungen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts keinen Rechtsfehler zum Nachteil des - überwiegend geständigen - Angeklagten ergeben.

3. Der durch die Einstellung des Verfahrens im genannten Fall bedingte Wegfall der hierfür verhängten Einzelfreiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten lässt den Gesamtstrafausspruch unberührt. Es ist aufgrund des sehr straffen Zusammenzugs der rechtsfehlerfrei verhängten Einzelfreiheitsstrafen auszuschließen, dass das Landgericht ohne die entfallene Einzelstrafe auf eine geringere Gesamtfreiheitsstrafe erkannt hätte.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 622

Bearbeiter: Christoph Henckel