HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 528
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 147/21, Beschluss v. 29.03.2023, HRRS 2023 Nr. 528
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Köln vom 26. November 2020 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in drei Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit versuchtem Totschlag, zu acht Jahren und sechs Monaten Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt, dessen Unterbringung in einer Entziehungsanstalt und einen Vorwegvollzug eines Teils der Freiheitsstrafe angeordnet sowie Adhäsionsentscheidungen getroffen. Die auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat Erfolg.
Das Landgericht hat - soweit für das Rechtsmittel von Bedeutung - folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
1. Der Angeklagte verließ - ebenso die ihm nicht näher bekannten Nebenkläger K. und P. sowie die Zeugen J. und N. - in den frühen Morgenstunden eine Gaststätte, in der er mehrere Biermischgetränke sowie eine geringe Menge Kokain konsumiert hatte. Am nahegelegenen Taxistand kam es zu einer Diskussion zwischen dem Angeklagten und K., in deren Verlauf sich die beiden zunächst gegenseitig schubsten sowie hinund herschoben.
Sodann zog der Angeklagte ein mitgeführtes Klappmesser mit einer Klingenlänge von neun Zentimetern und stach damit sechs Mal auf den Oberkörper des Nebenklägers ein, wobei er dessen Tod billigend in Kauf nahm. Der Nebenkläger P., der auf die Auseinandersetzung aufmerksam geworden war, jedoch das Messer des Angeklagten nicht wahrgenommen hatte, trat zwischen die beiden und drückte sie auseinander. Auch der Zeuge N. kam hinzu und stieß den Angeklagten weg, so dass dieser zu Boden fiel. Der schwer verletzte K. schleppte sich in der Zwischenzeit einige Meter vom Ort des Geschehens fort.
Nachdem der Angeklagte wieder aufgestanden war, stach er unvermittelt drei Mal mit Tötungsvorsatz auf den Oberkörper des P. ein. Der in der Nähe befindliche Zeuge J., der wahrnahm, dass sich der Nebenkläger vor Schmerzen krümmte, nicht jedoch ein Messer beim Angeklagten erkannte, wollte eingreifen, jedoch stach ihn der Angeklagte sogleich in Verletzungsabsicht in den linken Oberarm. Hierauf entfernte sich J., wurde jedoch vom Angeklagten verfolgt, der dabei rief: „Ich stech´ euch alle ab!“. Zwischenzeitlich verbrachte der Zeuge N. den verletzten Nebenkläger P. auf die andere Straßenseite.
Während der Verfolgung des Zeugen J. traf der Angeklagte noch in der Nähe der Gaststätte auf den Zeugen Po. Dieser redete beschwichtigend auf den Angeklagten ein und konnte ihn dazu bewegen, von weiteren Angriffen abzusehen. Das gesamte Geschehen dauerte nur wenige Minuten, der Angeklagte konnte bereits kurze Zeit nach Beginn der Auseinandersetzung von alarmierten Polizeibeamten festgenommen werden. Er wies zur Tatzeit eine maximale Blutalkoholkonzentration von 2,42 Promille auf, weswegen das Landgericht eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten nicht auszuschließen vermochte.
2. Die Strafkammer hat die gegen die Nebenkläger K. und P. geführten Stiche jeweils - in Realkonkurrenz stehend - als versuchten Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung gewertet, den Stich in den Oberarm des Zeugen J. als gefährliche Körperverletzung. Von den versuchten Tötungsdelikten sei der Angeklagte nicht durch bloßes Aufgeben der Tat strafbefreiend zurückgetreten, „da er nicht freiwillig die weitere Tatausführung aufgab, sondern durch das Einschreiten des Zeugen P.“ bzw. der Zeugen N. und J. „daran gehindert wurde, weiter auf“ die Tatopfer „einzustechen“.
Das Rechtsmittel des Angeklagten hat Erfolg. Die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte sei vom Versuch des Totschlags zum Nachteil der Nebenkläger K. und P. nicht strafbefreiend zurückgetreten, ist - wie der Generalbundesanwalt im Ergebnis zutreffend beanstandet hat - nicht rechtsfehlerfrei begründet.
1. Nach § 24 Abs. 1 Satz 1 erste Alternative StGB wird wegen Versuchs nicht bestraft, wer freiwillig die weitere Ausführung der Tat aufgibt. Voraussetzung ist zunächst, dass der Täter zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit einem Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs rechnet (unbeendeter Versuch), seine Herbeiführung aber noch für möglich hält. Scheitert - wie vorliegend - der Versuch, so kommt es darauf an, ob der Täter nach anfänglichem Misslingens des vorgestellten Tatablaufs sogleich zu der Annahme gelangt, er könne ohne zeitliche Zäsur mit den bereits eingesetzten oder bereitstehenden Mitteln die Tat noch vollenden. Nur dann liegt kein fehlgeschlagener, sondern ein unbeendeter Versuch vor, von dem der Täter noch durch freiwillige Aufgabe der weiteren Tatausführung zurücktreten kann. Maßgebend ist dabei das subjektive Vorstellungsbild des Täters zum Zeitpunkt der letzten Ausführungshandlung (sog. „Rücktrittshorizont“; st. Rspr., vgl. grundlegend Senat, Urteil vom 3. Dezember 1982 - 2 StR 550/82, BGHSt 31, 170, 175 ff.; LK-StGB/Murmann, 13. Aufl., § 24 Rn. 90, 133 ff. mwN) und zwar selbst dann, wenn diese auf einer Fehlvorstellung beruht (vgl. BGH, Beschluss vom 21. August 2018 - 3 StR 205/18, NStZ 2018, 718, 719 f.) oder wenn der Täter nach der Tatausführung Umstände erkennt, die seine bisherigen Vorstellungen erschüttern (zur sog. „Korrektur des Rücktrittshorizonts“ vgl. Senat, Urteil vom 19. Juli 1989 - 2 StR 270/89, BGHSt 36, 224, 226; LK-StGB/Murmann, 13. Aufl., § 24 Rn. 174 ff. mwN). Bei einem mehraktigen Geschehen, innerhalb dessen der Täter verschiedene Handlungen vornimmt, die auf die Herbeiführung eines strafrechtlichen Erfolges gerichtet sind, kommt es auf das subjektive Vorstellungsbild des Täters nach jedem Einzelakt an (vgl. BGH, Urteile vom 19. März 2013 - 1 StR 647/12, Tz. 35 f.; vom 13. August 2015 - 4 StR 99/15, Tz. 7, jeweils mwN). Bilden jedoch die Einzelakte untereinander und mit der letzten Tathandlung ein durch die subjektive Zielsetzung des Täters verbundenes, örtlich und zeitlich einheitliches Geschehen, so ist für die Bestimmung des Rücktrittshorizonts allein die subjektive Sicht des Täters nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung maßgeblich (vgl. Senat, Urteil vom 17. Februar 2016 ? 2 StR 213/15 Rn. 18; Beschluss vom 3. Februar 2022 ? 2 StR 317/21 Rn. 12; BGH, Beschluss vom 9. September 2014 ? 4 StR 367/14 Rn. 6).
2. Diesen Maßstäben wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Es verhält sich - auch nach dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe - nicht zum Rücktrittshorizont des Angeklagten. Die festgestellte objektive Sachlage gestattet keine sicheren Rückschlüsse auf die innere Einstellung des Täters, so dass auch nicht ausnahmsweise von entsprechenden Ausführungen hätte abgesehen werden können (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Juni 1988 - 4 StR 266/88, BGHR StGB § 24 Abs. 1 Satz 1 Freiwilligkeit 7).
a) Allein das körperliche Trennen des Täters von dem Tatopfer durch einen Dritten - hier durch den Nebenkläger P. und dann durch die Zeugen N. und J. - schließt einen strafbefreienden Rücktritt nicht zwingend aus (vgl. Senat, Beschluss vom 10. Juli 2013 - 2 StR 289/13, StV 2014, 336 f.). Im Rahmen eines - wie hier - mehraktigen Geschehens können die Einzelakte untereinander und mit der letzten Tathandlung ein durch die subjektive Zielsetzung des Täters verbundenes, örtlich und zeitlich einheitliches Geschehen bilden mit der Folge, dass für die Beurteilung der Frage, ob der Versuch fehlgeschlagen ist oder ein strafbefreiender Rücktritt durch das Unterlassen weiterer Tathandlungen (unbeendeter Versuch) oder durch Verhinderung der Tatvollendung (beendeter Versuch) erreicht werden kann, allein die subjektive Sicht des Täters nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung maßgeblich ist (vgl. BGH, Beschluss vom 5. September 2019 - 4 StR 394/19, NStZ 2020, 82, 83 mwN). Unbeschadet der rechtlich nicht zu beanstandenden Annahme mehrerer zueinander in Tatmehrheit stehender Delikte (vgl. auch BGH, Beschluss vom 3. November 2020 - 4 StR 341/20, NStZ 2021, 729) hätte sich das Landgericht daher im vorliegenden Fall angesichts der engen zeitlichen Abfolge von Einzelakten (wenige Minuten) an einer überschaubaren Örtlichkeit, des Ausrufs des Angeklagten, er werde alle „abstechen“, und der Feststellung, der Angeklagte habe sich von einem weiteren Zeugen beschwichtigen und „von weiteren Angriffen abhalten“ lassen, zu einer vertiefteren Auseinandersetzung mit der Mehraktigkeit des Geschehens und seiner Bedeutung für den (subjektiven) Rücktrittshorizont des Angeklagten gedrängt sehen müssen und sich nicht mit der (objektiven) Feststellung begnügen dürfen, die Tatopfer seien vom Angeklagten weggezogen worden. Entsprechende Erörterungen lassen die Urteilsgründe indes vermissen.
b) Ein strafbefreiender Rücktritt kann auch nicht deswegen ausgeschlossen werden, weil sich der Angeklagte von den zunächst angegriffenen Nebenklägern ab- und einem jeweils Dazwischentretenden zuwandte und diesen angriff. So lange der Täter mit dem Versuch der Tatbegehung lediglich innehält, also keinen Entschluss zum endgültigen Verzicht auf deren Durchführung getroffen hat, weil er (zunächst) ein anderes Tatziel erreichen will, ist die Tat noch nicht aufgegeben (vgl. Senat, Urteil vom 1. April 2009 - 2 StR 571/08, NStZ 2009, 501, 502; Beschluss vom 14. Januar 2020 - 2 StR 284/19, NStZ 2020, 341). Eine solche Konstellation ist hier mit Blick auf den Ausruf des Angeklagten, er werde alle „abstechen“, nicht gänzlich ausgeschlossen.
c) Auch der Umstand, dass sich der Nebenkläger K. während des Geschehens weggeschleppt hatte und der Nebenkläger P. auf die andere Straßenseite gebracht worden war, lässt keine sicheren Rückschlüsse auf die innere Einstellung des Angeklagten zu. Denn das Landgericht hat keine Feststellungen dazu getroffen, ob der Angeklagte dies überhaupt wahrnahm und er folglich davon ausgehen musste, sein Tatziel mit den vorgestellten Mitteln nicht mehr erreichen zu können.
3. Das angefochtene Urteil kann daher keinen Bestand haben, soweit der Angeklagte wegen eines (tateinheitlich zu einer gefährlichen Körperverletzung verwirklichten) versuchten Tötungsdelikts schuldig gesprochen wurde. Der Senat hebt - weitergehend - auch die für sich genommene rechtsfehlerfreie Verurteilung des Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zum Nachteil des Zeugen J. mit den Feststellungen auf, um dem neuen Tatgericht eigene und insgesamt widerspruchsfreie Feststellungen zum Geschehensablauf zu ermöglichen. Die Sache bedarf daher insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung.
4. Das neue Tatgericht wird gegebenenfalls der im Revisionsverfahren entstandenen Verzögerung Rechnung zu tragen haben.
HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 528
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede