HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 122
Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 491/20, Urteil v. 29.09.2021, HRRS 2022 Nr. 122
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Bonn vom 1. September 2020 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags durch Unterlassen zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Die hiergegen gerichtete, auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützte Revision des Angeklagten bleibt ohne Erfolg.
1. Der Angeklagte wuchs bei seiner Mutter auf und lebte bis zu deren Tod infolge der Tat mit dieser in einer gemeinsamen Wohnung. Er war als Kellner berufstätig und bestritt die Kosten der gemeinsamen Lebensführung weitgehend allein, da die Geschädigte im Jahr 2015 ihre Anstellung verloren hatte und es in der Folge ablehnte, Arbeitslosengeld, Frührente oder sonstige soziale Leistungen zu beantragen. Sie zeigte zunehmend psychische Auffälligkeiten, wurde „tütteliger“ und entwickelte Züge eines Verfolgungswahns. Neben ihrem psychischen Zustand verschlechterte sich auch ihr körperlicher Zustand. Sie entwickelte als starke Raucherin eine chronisch obstruktive Lungenerkrankung, die ihr körperliche Bewegung extrem erschwerte. Sie verbrachte die Zeit im Wesentlichen vor dem Fernseher im Wohnzimmer. Dabei trug sie in der Regel nur eine Erwachsenenwindel und ein dünnes Oberteil. Sie schlief auch im Wohnzimmer in einem der beiden dortigen Sessel. Am 30. Oktober 2017 ging sie letztmalig einkaufen; danach verließ sie die Wohnung nur noch zu Arztbesuchen. Der Angeklagte, der seit 2010 ein Alkoholproblem hatte, war mit der Versorgung seiner Mutter zunehmend überfordert.
Am 14. Oktober 2018 benachrichtigte ein Nachbar wegen Hilferufen die Polizei. Als diese die verwahrloste Wohnung betrat, fanden die Beamten den Angeklagten stark alkoholisiert und die Geschädigte auf dem Boden liegend vor, die nur ein dünnes Oberteil trug und von der Hüfte abwärts nackt war. Sie wies eine Vielzahl von Wunden an den Beinen auf und reagierte nicht auf Ansprache. Sie wurde von Rettungskräften in ein Krankenhaus gebracht, wobei diese die desolaten Zustände in der Wohnung wahrnahmen. Der Angeklagte hatte den Eindruck, in den Blicken der Rettungssanitäter Verachtung zu erkennen und schämte sich sehr. Den Polizeibeamten erklärte er, er habe die Geschädigte am Morgen auf dem Boden vorgefunden; er sei Alkoholiker und mit der Situation überfordert.
Im Krankenhaus wurden bei der Geschädigten ein Liegetrauma, eine respiratorische Insuffizienz, eine Hypothermie (33,2° Körpertemperatur), Druckgeschwüre am Gesäß, im Genitalbereich und an den Oberschenkeln sowie ein Harnwegsinfekt diagnostiziert. Da sie sich gegen die Behandlung mit einer Sauerstoffmaske wehrte, musste sie sediert werden; sie musste zwölf Tage lang intubiert und maschinell beatmet werden. Nach dem Ende der stationären Behandlung am 29. Oktober 2018 befand sie sich bis Januar 2019 in Rehabilitationseinrichtungen, wodurch sich ihr Gesundheitszustand erheblich verbesserte. Dieser verschlechterte sich jedoch nach ihrer Rückkehr in den gemeinsamen Haushalt wieder rasch, da sie ihre Medikamente absetzte und bis zu 40 Zigaretten pro Tag rauchte. Dem Angeklagten gelang es nicht, für seine Mutter zu sorgen. Beide fanden sich mit ihrem möglicherweise bevorstehenden Tod ab.
Aufgrund der Situation am 14. Oktober 2018 wurde ein Betreuungsverfahren eingeleitet. Der dabei eingeschaltete Sachverständige kam zu dem Ergebnis, dass bei der Geschädigten eine wahnhaftpsychotische Symptomatik sowie eine Persönlichkeits- und Verhaltensstörung, auch mit depressiver Symptomatik vorliege. Sie zeige eine ausgeprägte Antriebsstörung, eine Störung des Affekts mit depressiver Verstimmtheit und eine deutlich wahnhafte Symptomatik mit paranoiden Gedanken, Beziehungsideen und einem Verfolgungs- und Beeinflussungserleben. Sie sei nicht ausreichend in der Lage, ihre Lebenssituation adäquat zu erfassen und zu bewerten. Mit Beschluss vom 18. Januar 2019 wurde für die Geschädigte eine Betreuung eingerichtet. Die Betreuerin bemühte sich in der Folgezeit vergeblich, für die Geschädigte Leistungen durch das Jobcenter und damit ihre Aufnahme in die gesetzliche Krankenversicherung zu erwirken, da eine Vorsprache der Geschädigten beim Jobcenter nicht zustande kam. Die Betreuerin wies den Angeklagten darauf hin, dass er sie bei allen Problemen anrufen könne.
Am 7. Mai 2019 kam der Angeklagte gegen 1.30 Uhr von der Arbeit nachhause. Er traf die Geschädigte in ihrem Sessel im Wohnzimmer sitzend an und begab sich zu Bett. Als er am Nachmittag aufstand, fand er seine Mutter nur mit einem Pullover und einer Windel bekleidet auf dem Boden des Wohnzimmers liegend vor. Sie war aus nicht aufklärbaren Gründen hingefallen und konnte nicht mehr aus eigener Kraft aufstehen. Der Angeklagte wusste aufgrund der Geschehnisse vom 14. Oktober 2018, dass die Situation für seine Mutter lebensgefährlich war. Er half ihr jedoch nicht auf und konnte sich auch nicht dazu durchringen, den Rettungsdienst zu rufen. Er schämte sich, erneut versagt zu haben und wollte nicht wieder von den Mitarbeitern des Rettungsdienstes mit Verachtung gestraft werden. Zudem wusste er, dass die Geschädigte nicht krankenversichert war. Zur Zahlung von Behandlungskosten waren weder sie noch er selbst in der Lage. Deshalb ließ er „den Dingen ihren Lauf“. Dabei spielte auch eine Rolle, dass er den Eindruck gewonnen hatte, seine Mutter habe sich aufgegeben, wolle keine Hilfe erhalten und auch sterben. Über diesen vermuteten Willen wollte er sich nicht hinwegsetzen. Es war zwar nicht sein Ziel, seine Mutter durch Untätigkeit zu töten; er fand sich aber mit dieser von ihm erkannten Möglichkeit ab. Er versorgte die Geschädigte weder mit Nahrung noch mit Flüssigkeit und wechselte auch ihre Windel nicht. Zu diesem Zeitpunkt hätte ihr Tod durch Unterkühlung noch abgewendet werden können. Die Strafkammer konnte zwar nicht ausschließen, dass sich die Geschädigte zu diesem Zeitpunkt bereits in einem unumkehrbaren Sterbeprozess wegen ihres allgemein schlechten körperlichen Zustands befand. Ein solcher führte aber nicht zu ihrem Tod, der vielmehr durch Unterkühlung infolge ihrer Lage mit unzureichender Bekleidung oder Bedeckung auf dem Boden eintrat.
Da der Angeklagte weder am 7. Mai 2019 noch am Folgetag arbeiten musste, ging er in sein Zimmer und verbrachte die Nacht damit, in erheblichem Maß dem Alkohol zuzusprechen. Außerdem konsumierte er Cannabis. Als er am Nachmittag des Folgetages aufstand, fütterte er zunächst die Katze. Dann fand er die Geschädigte weiter im Wohnzimmer auf dem Boden liegend vor. Er bemerkte, dass ihre Augen stark zugeschwollen und ihr Gesicht insgesamt angeschwollen war. Sie lebte noch, war aber weiter nicht in der Lage aufzustehen. Der Angeklagte fragte seine Mutter, ob diese etwas trinken wolle. Ihre unverständliche Antwort interpretierte er als Verneinung. Zu diesem oder einem späteren Zeitpunkt bedeckte er sie mit einer Wolldecke. Weitere Maßnahmen zu ihrer Versorgung unternahm er nicht, obwohl ihm bewusst war, dass seine Mutter seit mindestens 24 Stunden weder getrunken noch gegessen hatte. Stattdessen setzte er sich vor seinen Computer, las ein Buch und befüllte die Waschmaschine. Gegen 21.00 Uhr fuhr er mit seinem Auto zu einem Supermarkt und kaufte eine Packung Erwachsenenwindeln, Cola, eine Tafel Schokolade und drei Flaschen Whisky. Nach der Rückkehr in die Wohnung brachte er die Getränke in sein Zimmer und den Rest des Einkaufs in die Küche. Nach seiner Mutter sah er nun nicht mehr, sondern begab sich in sein Zimmer, wo er den Abend und die Nacht verbrachte und Cola-Bier-Mischgetränke und Joints konsumierte. Er schaute in dieser Nacht vor zwei Uhr noch einmal nach der Geschädigten. Er sprach sie an, worauf sie Unverständliches antwortete. Der Angeklagte interpretierte dies als Aufforderung sich zu entfernen. Zu diesem Zeitpunkt hatte diese seit mindestens 32 Stunden weder Flüssigkeit noch Nahrung zu sich genommen. Auch ihre Windel war nicht gewechselt worden. Der Angeklagte begab sich in sein Zimmer, sah sich eine Basketballübertragung im Fernsehen an und konsumierte Whisky. Am frühen Morgen legte er sich schlafen.
Als er am Nachmittag des 9. Mai 2019 gegen 16.00 Uhr aufstand, fand er seine Mutter leblos vor. Er geriet in Panik und rief eine Freundin an. Diese forderte ihn auf, unverzüglich einen Krankenwagen zu rufen. Der Angeklagte wählte daraufhin den Notruf. Die herbeigerufenen Rettungskräfte stellten um 16.28 Uhr den Tod der Geschädigten fest, die am Nachmittag des 9. Mai 2019 zwischen 14.16 Uhr und 16.28 Uhr an Unterkühlung verstorben war.
2. Das Landgericht hat die Tat unter Verbrauch der Strafmilderung gemäß § 13 Abs. 2 StGB als Totschlag durch Unterlassen in einem minder schweren Fall gewertet. Es ist davon ausgegangen, dass eine Aussetzung mit Todesfolge dahinter zurücktrete. Wegen der Annahme einer Sperrwirkung der Strafuntergrenze des § 221 Abs. 3 StGB hat es einen Strafrahmen von drei Jahren bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe zugrunde gelegt; denn ein minder schwerer Fall nach § 221 Abs. 4 StGB liege nicht vor. Dafür sei ausschlaggebend, dass der Angeklagte vorsätzlich getötet habe und ihn damit gegenüber der Tatbestandsvariante der Aussetzung mit fahrlässiger Herbeiführung des Todes gemäß § 221 Abs. 3, § 18 StGB eine erhöhte Schuld treffe. § 13 Abs. 2 StGB sei auf das unechte Unterlassungsdelikt des § 221 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 StGB nicht anzuwenden.
Das Rechtsmittel des Angeklagten bleibt ohne Erfolg.
1. Die Überprüfung des Schuldspruchs wegen Totschlags durch Unterlassen hält rechtlicher Prüfung stand.
a) Die Strafkammer ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Angeklagte sich in einer Garantenstellung gegenüber seiner Mutter befunden hat (§ 13 Abs. 1 StGB).
aa) Nach § 1618a BGB sind Eltern und Kinder einander Beistand und Rücksicht schuldig. Diese Vorschrift wurde als Leitlinie für alle Eltern-Kind-Beziehungen ins Bürgerliche Gesetzbuch aufgenommen. Obwohl der Gesetzgeber an einen Verstoß gegen diese Regel keine Rechtsfolgen geknüpft hat, entfaltet die Vorschrift über das bürgerliche Recht hinaus als Wertemaßstab auch Wirkung bei der Konkretisierung strafrechtlicher Garantenpflichten. Dies bedeutet, dass bei Prüfung einer Garantenpflicht von Kindern gegenüber Eltern im Sinne von § 13 Abs. 1 StGB maßgeblich auf § 1618a BGB zurückzugreifen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 2. August 2017 - 4 StR 169/17, NStZ 2018, 34, 35). Einer sonst für das Vorliegen einer Garantenpflicht bei tatsächlichem Zusammenwohnen notwendigen - jedenfalls konkludenten - Erklärung der Übernahme einer Schutzfunktion im Einzelfall bedarf es in Fällen wie dem vorliegenden somit nicht. Vielmehr begründet die in § 1618a BGB normierte familiäre Solidarität schon von Gesetzes wegen im Eltern-Kind-Verhältnis bei faktischem Zusammenleben in aller Regel eine gegenseitige Schutzpflicht, die als Garantenpflicht ein Handeln zur Gefahrenabwehr gebietet (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Oktober 2016 - 3 StR 248/16, NStZ 2017, 401).
bb) Hieran gemessen ist das Landgericht zu Recht davon ausgegangen, dass der Angeklagte aufgrund der Eltern-Kind-Beziehung und der häuslichen Gemeinschaft mit seiner Mutter am 7. Mai 2019 rechtlich dafür einzustehen hatte, geeignete Maßnahmen zur Abwendung der an diesem Tag für seine Mutter bestehenden Lebensgefahr einzuleiten. Dabei trat neben die besondere räumliche und persönliche Nähe zu seiner Mutter, dass er diese umfassend allein versorgte und alle Kosten der gemeinsamen Haushaltsführung trug.
Angesichts dessen steht der Umstand, dass sich der Angeklagte und seine Mutter praktisch „nichts mehr zu sagen hatten“, seiner Garantenpflicht nicht entgegen. Dies gilt auch deshalb, weil die Geschädigte seit dem Jahre 2015 psychische Auffälligkeiten aufwies und „nicht ausreichend in der Lage [war], ihre Lebenssituation adäquat zu erfassen und zu bewerten“.
Der Angeklagte wurde auch nicht durch die Bestellung einer Berufsbetreuerin aus seiner Garantenpflicht entlassen. Eine Mitübernahme von Pflichten durch einen Dritten lässt die Garantenstellung des bisherigen Garanten grundsätzlich unberührt (vgl. BGH, Urteil vom 31. Januar 2002 - 4 StR 289/01, BGHSt 47, 224, 230). Das gilt auch hier, weil die Betreuung gemäß §§ 1901 ff. BGB nach ihrer Konzeption nicht geeignet war, die Verantwortung des präsenten Angeklagten für eine im häuslichen Bereich aufgetretene Notlage seiner Mutter zu begrenzen. Die Betreuerin war demgegenüber nicht vor Ort und über die aktuelle Notlage der Geschädigten nicht informiert. Dem Hinweis der Betreuerin, sie bei Auftreten von Problemen zu informieren, war der Angeklagte nicht gefolgt.
b) Der Angeklagte hat trotz der bestehenden und ihm zumutbaren Rettungsmöglichkeit am 7. Mai 2019 keine Maßnahmen ergriffen, um der zunehmenden Gefahr für Leib und Leben der Mutter entgegenzuwirken. Weder seine Alkoholerkrankung noch die allgemeine Überforderung mit der Pflege seiner Mutter hinderten ihn daran, die in der akuten Situation notwendigen Rettungsmaßnahmen einzuleiten. Ein Notruf, wie er ihn erst nach dem Tod der Mutter absetzte, wäre ihm auch vorher möglich gewesen.
c) Das Landgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass das (pflichtwidrige) Unterlassen des Angeklagten ursächlich für den Tod seiner Mutter war.
aa) Ursächlichkeit liegt bei Unterlassungsdelikten vor, wenn bei Vornahme der pflichtgemäßen Handlung der tatbestandsmäßige Schadenserfolg mit dem für die Bildung der richterlichen Überzeugung erforderlichen Beweismaß mit an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit verhindert worden wäre (vgl. BGH, Urteile vom 4. September 2014 - 4 StR 473/13, BGHSt 59, 292, 301 f.; vom 19. Dezember 1997 - 5 StR 569/96, BGHSt 43, 381, 397; Senat, Urteil vom 26. Juni 1990 - 2 StR 549/89, BGHSt 37, 106, 126 f.).
bb) Danach waren die vom Angeklagten unterlassenen Rettungsbemühungen ursächlich für den Tod der Geschädigten durch Unterkühlung. Denn im Zeitpunkt der Auffindesituation am 7. Mai 2019 hätte dieser nach den Feststellungen des Landgerichts noch abgewendet werden können. Dem steht nicht entgegen, dass sich die Geschädigte zur Tatzeit möglicherweise bereits aufgrund ihrer allgemeinen körperlichen Beeinträchtigung in einem Sterbeprozess befand; denn dadurch wäre sie nach den Feststellungen jedenfalls erst zu einem späteren Zeitpunkt gestorben. Für die Erfüllung des Totschlagtatbestandes genügt es aber, wenn infolge des pflichtwidrigen Verhaltens des Täters der Tod früher eintritt, als er sonst eingetreten wäre (vgl. Senat, Urteil vom 27. April 1966 - 2 StR 36/66, BGHSt 21, 59, 61; MüKo-StGB/Schneider, 4. Aufl., § 212 Rn. 1).
d) Die Feststellungen tragen auch die Annahme des Vorsatzes.
aa) Gegenstand des Vorsatzes müssen bei Unterlassung neben der Kenntnis von der Garantenpflicht, der Untätigkeit, der physisch-realen Handlungsmöglichkeit, der Eintritt des Erfolges, die Quasi-Kausalität sowie die eine objektive Zurechnung begründenden Umstände sein. Hinsichtlich der hypothetischen Kausalität genügt bedingter Vorsatz dahin, dass der Täter mit der Möglichkeit rechnet, sein Eingreifen könne den Erfolg abwenden (vgl. BGH, Urteil vom 19. August 2020 - 1 StR 474/19, NJW 2021, 326, 327 mwN).
bb) Hieran gemessen ist der Vorsatz des Angeklagten hinreichend belegt. Er unterließ die gebotenen Rettungsmaßnahmen in dem Bewusstsein, dass sein Verhalten zum Tod seiner Mutter führen werde und er ließ gleichwohl „den Dingen ihren Lauf“.
cc) Dem Vorsatz des Angeklagten steht nicht entgegen, dass „dem Angeklagten möglicherweise nicht bekannt war, dass man … auch bei Zimmertemperaturen an Unterkühlung sterben kann und dass der Vorfall vom 14.10.2018 auch zu einer Unterkühlung bei seiner Mutter geführt hatte“. Er hat den Tod seiner Mutter als Konsequenz seiner Untätigkeit sicher erkannt und diesen damit bewusst, wenngleich nicht beabsichtigt, herbeigeführt. Damit hatte er den Kausalverlauf in seinen wesentlichen Zügen erfasst. Einer näheren Vorstellung davon, welches organische Geschehen innerhalb des nach allgemeiner Lebenserfahrung Voraussehbaren letztlich für den Tod der Geschädigten verantwortlich war, bedurfte es nicht.
2. Das Landgericht hat auch rechtsfehlerfrei die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Aussetzung mit Todesfolge (§ 221 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 StGB) angenommen.
a) § 221 Abs. 1 Nr. 1 StGB greift nicht ein, weil der Angeklagte die Geschädigte nicht dadurch in eine hilflose Lage versetzt hat, dass er sich entfernt und in sein Zimmer zurückgezogen hat. Es lag aber ein Fall des § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB vor, denn der Angeklagte hat seine Mutter in einer hilflosen Lage im Stich gelassen, obwohl er ihr beizustehen verpflichtet war, und er sie dadurch der Gefahr des Todes ausgesetzt hat. Vom Fall des § 221 Abs. 1 Nr. 1 StGB, wonach der Täter das Opfer in eine hilflose Lage versetzt, unterscheidet sich diese Tatvariante vor allem dadurch, dass der Täter die hilflose Lage im Fall des § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB vorfindet, während er sie in der Variante des Versetzens selbst verursacht (vgl. BeckOK-StGB/Eschelbach, 51. Ed., § 221 Rn. 8 ff.; Theile, ZJS 2012, 389, 392).
In einer hilflosen Lage befindet sich derjenige, der einer potenziellen Gefahr für Leib oder Leben ohne die Möglichkeit eigener oder fremder Hilfe ausgesetzt ist (vgl. BGH, Urteile vom 12. Juli 2017 ? 5 StR 134/17, NStZ 2018, 209, 210; vom 10. Januar 2008 - 3 StR 463/07, NStZ 2008, 395). Das war hier der Fall, weil der Angeklagte am 7. Mai 2019 seine kranke Mutter auf dem Boden liegend und unfähig aufzustehen vorgefunden hat. Indem er als Garant die gebotenen und ihm möglichen sowie zumutbaren Rettungshandlungen unterließ, hat er diese in hilfloser Lage im Stich gelassen (§ 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB) und dadurch auch einer konkreten Gefahr des Todes ausgesetzt, die sich schließlich realisiert hat.
b) An der Verursachung einer konkreten Gefahr des Todes der Geschädigten durch den Angeklagten ändert es nichts, dass sich diese im Zeitpunkt des Auffindens am 7. Mai 2019 durch den Angeklagten nach den Urteilsfeststellungen möglicherweise bereits deshalb in einer lebensgefährlichen Lage befand, weil - nicht ausschließbar - bereits ein unumkehrbarer Sterbeprozess eingesetzt hatte. Ebenso wie der Totschlag durch Unterlassen aufgrund der unterbliebenen Rettung der Geschädigten vor dem Erfrieren nicht durch deren möglicherweise krankheitsbedingt ohnehin eingetretenen Sterbeprozess ausscheidet, entfällt auch das vorher verwirklichte konkrete Gefährdungsdelikt nicht deshalb, weil eine andere Gefahr sich später hätte realisieren können. Die durch das Verhalten des Angeklagten begründete Gefahr des Todes erfuhr jedenfalls eine Steigerung. Bereits dies erfüllt den Aussetzungstatbestand (vgl. BT-Drucks. 13/9064, S. 14; Matt/Renzikowski/Safferling, StGB, 2. Aufl., § 221 Rn. 13; Schönke/Schröder/ Eser/Sternberg-Lieben, StGB, 30. Aufl., § 221 Rn. 8).
3. Die konkurrenzrechtliche Wertung des Landgerichts ist rechtlich nicht zu beanstanden. Jedenfalls in der vorliegenden Konstellation tritt die Aussetzung mit Todesfolge hinter dem mit gleicher Zielrichtung erfüllten Erfolgsdelikt zurück (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Oktober 2011 - 1 StR 233/11, BGHSt 57, 28, 31; ebenso; MüKo-StGB/Hardtung, 4. Aufl., § 221 Rn. 51; SSW-StGB/Momsen, 5. Aufl., § 221 Rn. 17; Mitsch in Leipold/Tsambikakis/Zöller, Anwaltskommentar, 3. Aufl., § 221 Rn. 28; Schönke/Schröder/Eser/Sternberg-Lieben, 30. Aufl., § 221 Rn. 18; Lackner/Kühl/Heger, 29. Aufl., § 221 Rn. 9; LK-StGB/Krüger, 12. Aufl., § 221 Rn. 91; NK-StGB/Neumann/Saliger, 5. Aufl., § 221 Rn. 47; aA SK-StGB/Wolters, 9. Aufl., § 221 Rn. 17).
4. Die Überprüfung der Strafzumessung hat ebenfalls keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
a) Das Landgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Mindeststrafe des § 221 Abs. 3 StGB eine Sperrwirkung gegenüber der Strafuntergrenze aus dem Strafrahmen des § 213 StGB entfaltet.
aa) Verletzt eine Tat mehrere Strafgesetze, wird aber der Täter, weil das schwerere Gesetz das mildere verdrängt, nur aus dem schwereren schuldig gesprochen, so darf dann, wenn das vorrangige Gesetz den Täter nicht privilegieren soll, die Mindeststrafe des verletzten milderen Gesetzes nicht unterschritten werden (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Oktober 2011 - 1 StR 233/11, BGHSt 57, 28, 31; Urteil vom 24. November 2005 - 4 StR 243/05, NStZ 2006, 288, 290 mit Anm. Puppe; Senat, Urteil vom 26. Juni 1957 - 2 StR 191/57, BGHSt 10, 312, 315; LK-StGB/Rissing-van Saan, 13. Aufl., Vorbem. zu §§ 52 ff. Rn. 113).
bb) Nach diesen Maßstäben ist das Landgericht zu Recht davon ausgegangen, dass der hier zurücktretende Tatbestand der Aussetzung mit Todesfolge, der keine Privilegierung des Täters enthält, hinsichtlich der Mindeststrafe von drei Jahren Sperrwirkung entfaltet. Demgegenüber gibt es keine Bindung im Hinblick auf die Höchststrafe des verdrängten Gesetzes (vgl. BGH, Beschluss vom 3. Juli 1981 - 3 StR 210/81, BGHSt 30, 166, 167 f.).
b) Die Strafkammer hat § 13 Abs. 2 StGB zu Recht nicht angewendet.
aa) Die Aussetzung in der Tatbestandsvariante des Im-Stich-Lassens (§ 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB) stellt sich nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs als echtes Unterlassungsdelikt dar (BGH, Beschluss vom 19. Oktober 2011 - 1 StR 233/11, BGHSt 57, 28, 31; ebenso MüKo-StGB/Hardtung, 4. Aufl., § 221 Rn. 17; Schönke/Schröder/Eser/Sternberg-Lieben, StGB, 30. Aufl., § 221 Rn. 7; NK-StGB/Neumann/Saliger, 5. Aufl., § 221 Rn. 20; Lackner/Kühl/ Heger, StGB, 29. Aufl., § 221 Rn. 4; SK-StGB/Wolters, 9. Aufl., § 221 Rn. 6; Theile, ZJS 2012, 389, 392; Jäger, JA 2012, 154, 156; Lautner, Die Systematik des Aussetzungstatbestandes (§ 221 I StGB), S. 199; vgl. auch Küper, ZStW 111 (2009), 30, 58 f.; zweifelnd Fischer, StGB, 68. Aufl., § 221 Rn. 12; aA Momsen, StV 2013, 54 ff., Krüger/Wengenroth, NStZ 2013, 102; Chilecki, Zur Dogmatik der Aussetzung (§ 221 StGB) nach dem 6. Strafrechtsreformgesetz, S. 92 f.; Wielant, Die Aussetzung nach § 221 Abs. 1 StGB, S. 168; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil Bd. 2, § 31 Rn. 18). Der Senat hat keinen Anlass, von dieser bisherigen Rechtsprechung abzuweichen.
bb) Für eine fakultative Strafrahmenmilderung nach § 13 Abs. 2 StGB ist damit kein Raum (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Oktober 2011 - 1 StR 233/11, aaO). Soweit in Teilen der Literatur (vgl. MüKo-StGB/Hardtung, § 221 Rn. 30; SSW-StGB/Momsen, § 221 Rn. 6; NK-StGB/Neumann/Saliger, § 221 Rn. 20a, Krüger/Wengenroth, aaO; Jäger, aaO; Ladiges, JuS 2012, 687, 689) die Auffassung vertreten wird, die Friktion, dass bei einer Verwirklichung des § 221 Abs. 1 Nr. 1 StGB durch Unterlassen, nicht aber bei der Tatbestandsvariante des § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB eine Strafrahmenreduktion möglich sei, gebiete, in einer täterbegünstigenden Analogie die Anwendung des § 13 Abs. 2 StGB auch auf die zweite Tatbestandsvariante der Aussetzung zu erstrecken, folgt dem der Senat nicht.
(1) Eine für eine Analogie erforderliche planwidrige Regelungslücke liegt nicht vor (aA MüKo-StGB/Hardtung, 4. Aufl., § 221 Rn. 30). Der Gesetzgeber hat bei der Neufassung des § 221 StGB durch das 6. Strafrechtsänderungsgesetz vom 26. Januar 1998 (BGBl. I S. 164 ff.) die Tatbestandsvariante des Versetzens in eine hilflose Lage gemäß § 221 Abs. 1 Nr. 1 StGB mit der Variante des § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB gleichgesetzt. Er war sich bewusst, dass es sich bei letzterer um ein Unterlassungsdelikt handelt (vgl. BT-Drucks. 13/8587, S. 34; 13/9064, S. 14). Der Gesetzesentwurf zur Begründung der Neufassung (vgl. BT-Drucks. 13/8587, aaO) hat auch auf den Entwurf des Strafgesetzbuches von 1962 (BT-Drucks. IV/650) zurückgegriffen, der ausdrücklich die Gleichstellung der Handlungsalternativen in der Strafdrohung vorsah (BT-Drucks. IV/650, 277; krit. Freund/Timm, HRRS 2012, 223, 224 f.). Daher ist es kein Wertungsfehler, wenn der Fall des Im-Stich-Lassens des Opfers (§ 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB) nicht nach § 13 Abs. 2 StGB milder behandelt wird, als der Fall des Versetzens des Opfers in eine hilflose Lage (§ 221 Abs. 1 Nr. 1 StGB).
(2) Unabhängig davon bedingt der unterschiedliche Deliktscharakter der einzelnen Tatbestandsalternativen (vgl. hierzu Krüger/Wengenroth, aaO) sowie die von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs angenommene Möglichkeit, die Tatbestandsalternative des § 221 Abs. 1 Nr. 1 StGB durch Unterlassen zu begehen (BGH, Urteil vom 12. Juli 2017 - 5 StR 134/17, NStZ 2018, 209, 210), keine unlösbaren Wertungswidersprüche. Soweit die daraus resultierenden Strafrahmen hinsichtlich der im Fall des § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB fehlenden Möglichkeit einer Anwendung von § 13 Abs. 2 StGB unausgewogen erscheinen (vgl. Wielant, aaO, S. 401 ff.; Heger, ZStW 119 (2007), 613, 614 f.), kann der Tatrichter einem unterschiedlichen Unwertgehalt bei der Prüfung einer Strafrahmenmilderung nach § 221 Abs. 4 StGB oder bei der Strafzumessung nach § 46 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 StGB Rechnung tragen (vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl., Rn. 1112; vgl. auch MüKo-StGB/Hardtung, 4. Aufl., § 221 Rn. 31; Krüger/Wengenroth, aaO; Theile, aaO).
c) Das hat das Landgericht bei der von ihm im Zuge der Strafrahmenwahl vorgenommenen Gesamtschau nicht übersehen. Auch im Übrigen ist die Strafzumessung rechtlich nicht zu beanstanden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 StPO.
HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 122
Externe Fundstellen: NStZ 2022, 601
Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß