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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 117

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 299/19, Beschluss v. 10.11.2021, HRRS 2022 Nr. 117


BGH 2 StR 299/19 - Beschluss vom 10. November 2021 (LG Gera)

Besetzungsrüge (Entbindung eines Schöffen wegen eingetretener Hinderungsgründe: beschränkte Revisibilität, Willkürkontrolle, formloser Antrag, Aktenkundigkeit, Dokumentation der die Unzumutbarkeit begründenden Umstände); erweiterte Einziehung von Taterträgen bei Tätern und Teilnehmern (Zulässigkeit unbeschadet der prinzipiellen Subsidiarität).

§ 77 GVG; § 54 GVG; § 336 Satz 2 Alt. 1 StPO; § 73a StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Der Richter kann einen Schöffen auf dessen Antrag wegen eingetretener Hinderungsgründe von der Dienstleistung an bestimmten Sitzungstagen entbinden (§ 54 Abs. 1 GVG); der Antrag ist formlos, auch telefonisch, möglich. Er ist deshalb ebenso wie die Entscheidung aktenkundig zu machen (§ 54 Abs. 3 Satz 2 GVG). Dabei sind - zumindest in gedrängter Form - diejenigen Umstände zu dokumentieren, welche die Annahme der Unzumutbarkeit der Schöffendienstleistung tragen. Ausreichend ist es insoweit auch, wenn sich anhand aktenkundiger Umstände, etwa aus dem Inhalt von Schreiben des Schöffen, die mitgeteilten Antragsgründe ergeben und nachvollziehbar ist, dass diese der Entscheidung des Vorsitzenden zu Grunde gelegen haben.

2. Nach § 73a Abs. 1 StGB ordnet das Gericht die Einziehung von Gegenständen des Täters oder Teilnehmers abgeurteilter Taten auch dann an, wenn diese durch andere rechtswidrige Taten oder für sie erlangt worden sind. Die erweiterte Einziehung ist unbeschadet der prinzipiellen Subsidiarität der erweiterten gegenüber der originären Einziehung des Wertes von Taterträgen zulässig, wenn nach Ausschöpfung aller verfügbaren Beweismittel nicht eindeutig zu klären ist, ob die Erlöse aus abgeurteilten oder aus anderen rechtswidrigen Taten herrühren. Erforderlich ist dann nur die richterliche Überzeugung, dass die Gegenstände aus Straftaten und nicht aus legalen Quellen herrühren.

Entscheidungstenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Gera vom 23. November 2018 wird mit der Maßgabe, dass im Hinblick auf die Dauer des Revisionsverfahrens drei Monate der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe als vollstreckt gelten, als unbegründet verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt und die erweiterte Einziehung von Taterträgen in Höhe von 10.700 Euro angeordnet. Dagegen richtet sich die auf Verfahrensrügen und die Sachbeschwerde gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel ist aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO; der Ergänzung bedarf nur Folgendes:

I.

Die Besetzungsrüge ist unbegründet.

1. Ihr liegt im Wesentlichen folgendes Prozessgeschehen zu Grunde:

a) Mit Schreiben vom 15. März 2018 bestimmte der Vorsitzende der Strafkammer zunächst zehn Hauptverhandlungstermine im Zeitraum vom 26. März 2018 bis zum 30. Juli 2018 und teilte den Verfahrensbeteiligten die Besetzung des Gerichts unter anderem mit der Schöffin H. mit. Zu Beginn der Hauptverhandlung am 26. März 2018 erschien an deren Stelle die Schöffin L., weshalb die Verteidigung des Beschwerdeführers eine Unterbrechung zur Überprüfung der Gerichtsbesetzung beantragte, die der Vorsitzende bis zum 9. April 2018 anordnete.

Nach einem Vermerk der Geschäftsstelle von Freitag, dem 23. März 2018, hatte die Schöffin H. an jenem Tag mitgeteilt, dass sie erkrankt sei und eine Krankmeldung übersende. Diese ging am gleichen Tag per Telefax mit einem schriftlichen Antrag auf Entbindung von der Mitwirkung als Schöffin bei Gericht ein, wobei die Schöffin mitteilte, sie habe eine ansteckende Bronchitis mit Infektionen der Nasennebenhöhle und Mittelohrentzündung. Die Verhinderung der nächstbereiten Schöffin Lü. wurde am 23. März 2018 mit der Bemerkung „dienstlich verhindert“, diejenige der weiteren Schöffin Le. mit dem Hinweis „Urlaub vom 09.05.-17.05.2018“ aktenkundig gemacht.

Am 26. März 2018 fertigte die Leiterin der Schöffengeschäftsstelle nachträglich einen Vermerk, wonach die Schöffin H. mitgeteilt hatte, an Bronchitis erkrankt zu sein, worauf der Vorsitzende sie entpflichtet habe. Die Hilfsschöffin Lü. habe am 23. März 2018 telefonisch mitgeteilt, dass sie am 26. März 2018 Dialysepatienten zu versorgen habe; es sei Urlaubszeit und es herrschten Krankheitsausfälle beim Personal, so dass sie unabkömmlich sei. Der Vorsitzende habe daher die Verhinderung der Schöffin Lü. festgestellt. Von der danach in Betracht kommenden Schöffin Le. sei telefonisch mitgeteilt worden, dass sie sich vom 9. Mai bis zum 17. Mai 2018 auf einer Kreuzfahrt befinden werde; darauf habe der Vorsitzende auch ihre Verhinderung festgestellt.

b) Die Verteidigung des Beschwerdeführers erhob zu Beginn der Sitzung am 9. April 2018 Besetzungseinwände. Die Entpflichtung der Schöffin H. sei ohne erkennbare Ermessensausübung des Vorsitzenden erfolgt. Der Vorsitzende habe keine Erkundigungen eingeholt. Die geltend gemachte Verhinderung der Schöffin habe nur eine kurzzeitige Verhandlung am 26. März 2018 betroffen. Bei der Auswahl von Ersatz sei die Hilfsschöffin Lu. übergangen worden; das Gericht habe nur am 22. März 2018 erfolglos versucht, diese für eine kurzfristige Mitwirkung an einem anderen Verfahren zu erreichen. Zur Verhinderung der Schöffin Lü. wegen Versorgung von Dialysepatienten habe der Vorsitzende keine Nachforschungen angestellt. Die Schöffin Le. sei nur für eine Mitwirkung an einem Fortsetzungstermin am 14. Mai 2018 verhindert gewesen, der zu überbrücken gewesen wäre.

c) Das Landgericht hat die Einwände durch Beschluss vom 16. April 2018 zurückgewiesen. Der Vorsitzende habe sich zur Feststellung des Verhinderungsgrundes auf die telefonische Erklärung der Schöffin H. stützen können. Dabei sei diese krankheitsbedingt kaum zu verstehen gewesen. Weiterer Nachforschungen habe es nicht bedurft. Der Beginn der Hauptverhandlung am 26. März 2018 sei zur beschleunigten Durchführung des Verfahrens unverzichtbar gewesen. Die Heranziehung der Schöffin Lu., die am Vortag in anderer Sache herangezogen werden sollte, dazu aber nicht erreicht wurde, sei nicht geboten gewesen. Der Vorsitzende habe auch bei der Feststellung der Verhinderung der Schöffin Lü. nicht willkürlich gehandelt. Das Vorliegen einer Grippewelle und die Osterferien seien allgemeinkundig gewesen. Erkundigungen zu den Ausführungen der Schöffin Lü. habe der Vorsitzende nicht einholen müssen. Die Feststellung der urlaubsbedingten Verhinderung der Zeugin Le. sei mit Blick auf den Beschleunigungsgrundsatz nicht zu beanstanden, zumal es erst nach Beginn der Hauptverhandlung gelungen sei, weitere Überbrückungstermine mit den Verfahrensbeteiligten abzustimmen.

d) Die Revision macht im Wesentlichen geltend, die Entbindung der Hauptschöffin H. sei aufgrund eines unzureichend ermittelten Sachverhalts erfolgt und die Entscheidung des Vorsitzenden nicht genügend dokumentiert worden. Angesichts der formularmäßig abgefassten Verfügung sei zweifelhaft, ob der Vorsitzende sein Ermessen sachgerecht ausgeübt habe. Die Verhinderung der Schöffin bei der Teilnahme an einer kurzzeitigen ersten Sitzung genüge nicht als Entpflichtungsgrund. Die Nichtberücksichtigung der Schöffin Lu. sei nicht gerechtfertigt gewesen. Zur Verhinderung der Schöffin Lü. hätte der Vorsitzende weitere Nachforschungen anstellen müssen. Die Urlaubsreise der Schöffin Le. habe nur einen einzigen Fortsetzungstermin betroffen und ergebe daher keinen ausreichenden Hinderungsgrund.

2. Die Beanstandungen sind unbegründet.

a) Die auf der Grundlage des § 77 Abs. 1 GVG in Verbindung mit § 54 Abs. 1 GVG erfolgte Entscheidung über die Entbindung der Schöffin H. ist angesichts der ausdrücklichen gesetzlichen Regelung der § 54 Abs. 3 Satz 1 GVG, § 336 Satz 2 1. Alt. StPO grundsätzlich nicht anfechtbar. Sie ist daher vom Revisionsgericht nicht auf ihre Richtigkeit, sondern nur darauf hin zu überprüfen, ob sie sich unter Berücksichtigung des Grundgedankens des § 54 GVG als unvertretbar und damit als objektiv willkürlich erweist (vgl. Senat, Urteil vom 3. März 1982 - 2 StR 32/82, BGHSt 31, 3, 5; BGH, Urteil vom 22. November 2013 - 3 StR 162/13, BGHSt 59, 75, 79; Beschluss vom 5. August 2015 - 5 StR 276/15, NStZ 2015, 714; Beschluss vom 5. August 2021 - 2 StR 307/20). Willkür in diesem Sinne liegt allerdings nicht erst bei einer bewussten Fehlentscheidung, sondern bereits dann vor, wenn die mit der Entbindung der Schöffin verbundene Bestimmung des gesetzlichen Richters grob fehlerhaft ist (vgl. Senat, Urteil vom 3. März 1982 - 2 StR 32/82, BGHSt 31, 3, 5) und sich so weit vom Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernt, dass sie nicht mehr gerechtfertigt werden kann (vgl. BVerfGE 23, 288, 320; Senat, Urteil vom 27. Oktober 1972 - 2 StR 105/70, BGHSt 25, 66, 71).

b) Das ist hier nicht der Fall.

aa) Eine willkürliche Entziehung des gesetzlichen Richters liegt nicht schon deshalb vor, weil der Antrag der Schöffin H. auf Entpflichtung und die Entscheidung des Vorsitzenden hierüber ebenso wie die Feststellung der Verhinderung der Schöffinnen Lü. und Le. zunächst in knapper Form aktenkundig gemacht und Einzelheiten erst nachträglich vermerkt wurden.

Der Richter kann einen Schöffen auf dessen Antrag wegen eingetretener Hinderungsgründe von der Dienstleistung an bestimmten Sitzungstagen entbinden (§ 54 Abs. 1 GVG); der Antrag ist formlos, auch telefonisch, möglich (SK-StPO/Degener, 5. Aufl., § 54 GVG Rn. 11). Er ist deshalb ebenso wie die Entscheidung aktenkundig zu machen (§ 54 Abs. 3 Satz 2 GVG). Dabei sind - zumindest in gedrängter Form - diejenigen Umstände zu dokumentieren, welche die Annahme der Unzumutbarkeit der Schöffendienstleistung tragen (vgl. Senat, Beschluss vom 14. Dezember 2016 - 2 StR 342/15, NStZ 2017, 491, 492; Beschluss vom 5. August 2021 - 2 StR 307/20). Ausreichend ist es insoweit auch, wenn sich anhand aktenkundiger Umstände, etwa aus dem Inhalt von Schreiben des Schöffen, die mitgeteilten Antragsgründe ergeben und nachvollziehbar ist, dass diese der Entscheidung des Vorsitzenden zu Grunde gelegen haben (vgl. Senat, Beschluss vom 2. Mai 2018 - 2 StR 317/17, BeckRS 2018, 11025). Nur bei einer ausreichenden Dokumentation der tragenden Erwägungen zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Entbindung ist dem Rechtsmittelgericht in Fällen, in denen die Unzumutbarkeit der Mitwirkung eines Schöffen nicht auf der Hand liegt, eine Überprüfung der Ermessensentscheidung des Vorsitzenden am Maßstab der objektiven Willkür möglich (vgl. Senat, aaO, NStZ 2017, 491, 492; Beschluss vom 5. August 2021 - 2 StR 307/20).

bb) Die sich vorliegend aus den Akten ergebenden Umstände, die dem Vorsitzenden zurzeit seiner Entscheidung bekannt gewesen sind, gestatten die Feststellung, dass die Entpflichtung der Schöffin H. und die Feststellung der Verhinderung der Hilfsschöffinnen Lü. und Le. nicht willkürlich erfolgt sind. Dabei ist es im vorliegenden Fall unschädlich, dass Einzelheiten zu den Verhinderungsgründen, aus denen sich erst die Unzumutbarkeit der Dienstleistung ergab, nicht unmittelbar am Tag der Entscheidung des Vorsitzenden, sondern erst am nächsten Arbeitstag zu den Akten gebracht wurden. Angesichts des unmittelbaren zeitlichen Zusammenhangs ist ohne Weiteres die Annahme gerechtfertigt, dass der nachträglich zu den Akten gebrachte Sachverhalt tatsächlich derjenige ist, der auch der Entscheidung des Vorsitzenden zu Grunde gelegen hat. Im Übrigen war der Vorsitzende zu weiteren Erkundigungen nicht verpflichtet, weil er die Angaben der Schöffinnen für glaubhaft halten durfte (vgl. Senat aaO, NStZ 2017, 491, 492). Auch die Nichtberücksichtigung der Schöffin Lu. entsprach dem Gesetz.

II.

Die Sachrüge ist unbegründet. Das gilt auch hinsichtlich der Einziehungsentscheidung. Das Landgericht hat nicht feststellen können, dass der Beschwerdeführer aus den abgeurteilten Taten Bargeld erlöst hat; andererseits ist es davon ausgegangen, dass sichergestelltes Bargeld in Höhe von 10.700 Euro aus Betäubungsmitteldelikten herrührt. Das ist rechtlich nicht zu beanstanden.

1. Nach § 73a Abs. 1 StGB ordnet das Gericht die Einziehung von Gegenständen des Täters oder Teilnehmers abgeurteilter Taten auch dann an, wenn diese durch andere rechtswidrige Taten oder für sie erlangt worden sind. Die erweiterte Einziehung ist unbeschadet der prinzipiellen Subsidiarität der erweiterten gegenüber der originären Einziehung des Wertes von Taterträgen zulässig, wenn nach Ausschöpfung aller verfügbaren Beweismittel nicht eindeutig zu klären ist, ob die Erlöse aus abgeurteilten oder aus anderen rechtswidrigen Taten herrühren (BGH, Urteil vom 7. Juli 2011 - 3 StR 144/11, BeckRS 2011, 19724). Erforderlich ist dann nur die richterliche Überzeugung, dass die Gegenstände aus Straftaten und nicht aus legalen Quellen herrühren. Dies hat das Landgericht rechtsfehlerfrei ausgeführt.

2. Zwar erscheint die Begründung der Feststellung, dass das sichergestellte Bargeld wegen „szenetypischer Stückelung“ aus Betäubungsmitteldelikten des Beschwerdeführers herrühre, auf erste Sicht bedenklich. Die festgestellte Auffindesituation erklärt aber bei näherer Betrachtung den Beweisschluss der Strafkammer jedoch so, dass ein Rechtsfehler der Beweiswürdigung auszuschließen ist. Bei der Durchsuchung der Wohnung des Beschwerdeführers wurden in seiner Jacke neun 500-EuroScheine und fünf 200-EuroScheine, im Schlafzimmer ein 200-EuroSchein, zwölf 100-EuroScheine und zweiunddreißig 50-EuroScheine, sowie im Badezimmer fünf 100-EuroScheine und vierunddreißig 50-EuroScheine gefunden. Das spricht vor dem Hintergrund der vom Landgericht festgestellten wirtschaftlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers und seiner Einbeziehung in den umfangreichen Betäubungsmittelhandel seines Bruders und der weiteren Mitangeklagten für eine Herkunft aus Betäubungsmitteldelikten. Zudem hat der Beschwerdeführer nach der Verhaftung der Mitangeklagten M. seine Ehefrau telefonisch aufgefordert, Geld aus der Wohnung wegzubringen.

III.

Die lange Dauer des Revisionsverfahrens rechtfertigt es, drei Monate der verhängten Freiheitsstrafe als vollstreckt zu bestimmen.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 117

Externe Fundstellen: StV 2022, 729

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß