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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 976

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 222/21, Beschluss v. 11.08.2021, HRRS 2021 Nr. 976


BGH 1 StR 222/21 - Beschluss vom 11. August 2021 (LG Landshut)

Gefährliche Körperverletzung (Eventualvorsatz bei hochgradiger Alkoholisierung oder affektiver Erregung).

§ 223 Abs. 1 StGB; § 224 Abs. 1 StGB; § 15 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass auch bei hochgefährlichen Taten im Einzelfall das Wissens- oder das Willenselement des Eventualvorsatzes fehlen kann, wenn dem Täter das Risiko der Erfolgsherbeiführung - trotz Kenntnis aller gefahrbegründenden Umstände - infolge einer alkoholischen Beeinflussung oder einer anderen psychischen Beeinträchtigung zur Tatzeit nicht bewusst ist oder er deshalb ernsthaft und nicht nur vage auf ein Ausbleiben des Erfolgs vertraut (vgl. BGHSt 57, 183 Rn. 26). Hochgradige Alkoholisierung und affektive Erregung gehören daher zu den Umständen, die der Annahme eines bedingten Vorsatzes entgegenstehen können und deshalb ausdrücklicher Erörterung in den Urteilsgründen bedürfen.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Landshut vom 11. März 2021 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt. Die auf die Beanstandung der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).

I.

1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

Der Angeklagte und der geschädigte Zeuge H. bewohnten zum Tatzeitpunkt jeweils ein Zimmer in einer Arbeiterunterkunft. In der Arbeiterunterkunft gab es zwei Nasszellen, die intern jeweils bestimmten Zimmern zugeordnet waren. Am 18. Juli 2020 gegen 23.00 Uhr wollte der Zeuge H. die Toilette aufsuchen und begab sich zu der Nasszelle, die nach der internen Zuordnung nicht der Benutzung durch ihn vorgesehen war. Die Tür zur Nasszelle war verschlossen, so dass der Zeuge H. klopfte. Daraufhin trat die Zeugin A. aufgebracht aus der Nasszelle und stellte ihn lautstark zur Rede. Der Geschädigte und der ihn begleitende Zeuge P., die beide gehörlos sind, verstanden nicht, was die Zeugin A. sagte, entschuldigten sich aber gleichwohl mit Gesten bzw. undeutlicher Lautsprache für die unabsichtliche Störung.

Der Angeklagte, der sich in seinem Zimmer befand, wurde durch die lauten und aufgebrachten Äußerungen der Zeugin A. aufmerksam, ergriff eine leere Bierflasche am Flaschenhals, trat auf den Flur und zerschlug die mitgeführte Flasche an der Gangwand, so dass er nur noch einen Stummel in der Hand hielt, der kaum aus der geballten Faust herausragte. Er ging zu der Gruppe vor der Nasszelle und stellte den Geschädigten und den Zeugen P., die er bis zu diesem Zeitpunkt nicht kannte, zur Rede. Die Zeugin A. betrat sodann die Nasszelle und ließ die Männer auf dem Gang stehend zurück.

Der Angeklagte redete trotz der Kommunikationsschwierigkeiten emotional erregt auf die Zeugen ein, wobei er sehr schnell näher an den geschädigten Zeugen H. herantrat und diesen - den Flaschenhalsstummel in einer Hand - mit beiden Händen am Kragen packte, aber keine Stichbewegung und keinen Griff unmittelbar an den Hals ausführte. Der Zeuge P. schob sich anschließend zwischen Angeklagten und Geschädigten, um eine weitere Eskalation zu verhindern. Der Angeklagte ließ vom Geschädigten ab und den Flaschenhalsstummel fallen und ging zurück in sein Zimmer. Nun erst bemerkte der Geschädigte, dass er verletzt war. Er erlitt drei oberflächliche Hautdefektstellen an der linken Halsseite (eine 8, eine 3 sowie eine weitere ungefähr 2,5 Zentimeter lang) sowie eine 1x1 Zentimeter große Wunde am rechten Unterarm.

Eine dem Angeklagten am 19. Juli 2020 um 00.12 Uhr entnommene Blutprobe ergab eine Blutalkoholkonzentration von 2,66 Promille.

2. Das Landgericht hat aus der Gefährlichkeit der Tathandlung auf einen bedingten Körperverletzungsvorsatz geschlossen und ein vorsätzliches Handeln - in Abgrenzung zur Fahrlässigkeit - mit der Erwägung angenommen, dass der Angeklagte die Bierflasche bereits in seinem Zimmer aufnahm, um sie mit in den Gang zu nehmen und zielgerichtet als Waffe einsetzen zu können. Die anschließende Tätlichkeit habe er begangen, als er sich mit dem Flaschenhalsstummel in der Hand und im Bewusstsein hierüber gegen den Oberkörper und Hals des Zeugen H. wendete. Die dadurch verursachten Verletzungen hätten aus der Sicht des Angeklagten mehr als nahe gelegen, so dass er sich mit diesen abgefunden habe, auch wenn er sie nicht bewusst angestrebt habe.

Angesichts einer - rückgerechnet - maximalen Blutalkoholkonzentration von 3,1 Promille zur Tatzeit ist das Landgericht von einer nicht ausschließbar erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit nach § 21 StGB ausgegangen.

II.

Die Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung hat keinen Bestand, weil die Feststellungen zu einem bedingten Körperverletzungsvorsatz nicht tragfähig belegt sind.

1. Rechtliche Bedenken bestehen bereits insoweit, als das Landgericht nicht belegt hat, dass dem Angeklagten bei der Tathandlung überhaupt bewusst war, dass er den Flaschenhalsstummel in der Hand hielt. Gegen ein entsprechendes Bewusstsein spricht, dass der Angeklagte nach den Feststellungen keine (gezielte) Stich- oder Schnittbewegung ausführte, sondern den geschädigten Zeugen lediglich mit beiden Händen am Kragen packte und somit eine Handlung vornahm, die üblicherweise ohne ein Messer oder ein ähnliches Werkzeug durchgeführt wird. Soweit die Strafkammer darauf abhebt, dem Angeklagten sei die Gefährlichkeit seiner Handlung - auch trotz Alkoholisierung - bewusst gewesen (UA S. 40 f.) erfasst dies den zuvor genannten Gesichtspunkt nicht.

In diesem Zusammenhang wäre darüber hinaus zu erörtern gewesen, ob die festgestellte erhebliche Alkoholisierung des Angeklagten dazu geführt haben könnte, dass dem Angeklagten nicht bewusst gewesen sein könnte, dass er den Flaschenhalsstummel bei der Tathandlung in der Hand hatte (zur zwingenden Erörterung der Alkoholisierung im Rahmen der Prüfung des Vorsatzes sogleich 2.).

2. Überdies fehlt es bei der Prüfung des Willenselements des bedingten Vorsatzes an einer Auseinandersetzung mit der Alkoholisierung des Angeklagten als möglichem vorsatzkritischem Umstand.

In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass auch bei hochgefährlichen Taten im Einzelfall das Wissens- oder das Willenselement des Eventualvorsatzes fehlen kann, wenn dem Täter das Risiko der Erfolgsherbeiführung - trotz Kenntnis aller gefahrbegründenden Umstände - infolge einer alkoholischen Beeinflussung oder einer anderen psychischen Beeinträchtigung zur Tatzeit nicht bewusst ist oder er deshalb ernsthaft und nicht nur vage auf ein Ausbleiben des Erfolgs vertraut (vgl. BGH, Beschluss vom 14. August 2018 - 4 StR 251/18 Rn. 7 und Urteil vom 22. März 2012 - 4 StR 558/11, BGHSt 57, 183 Rn. 26 mwN). Hochgradige Alkoholisierung und affektive Erregung gehören daher zu den Umständen, die der Annahme eines bedingten Vorsatzes entgegenstehen können und deshalb ausdrücklicher Erörterung in den Urteilsgründen bedürfen (vgl. BGH, Beschluss vom 14. August 2018 - 4 StR 251/18 Rn. 7 und Urteil vom 25. Oktober 2005 - 4 StR 185/05 Rn. 13 mwN [zum bedingten Tötungsvorsatz]). Danach hätte es hier mit Blick auf die Tatsache, dass die Strafkammer dem Angeklagten mit Rücksicht auf seinen Alkoholkonsum eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit nach § 21 StGB zugebilligt hat, - unabhängig von den rechtsfehlerhaften Ausführungen zum Wissenselement - auch weiterer Ausführungen zum Willenselement des Eventualvorsatzes bedurft.

3. Zudem weist die Strafzumessung - sowohl bei der Strafrahmenbestimmung als auch bei der Strafzumessung im Einzelnen - durchgreifende Rechtsfehler auf. Die Strafkammer hat zulasten des Angeklagten berücksichtigt, dass der Tat des Angeklagten keine erhebliche Provokation vorausgegangen und für die Regelung des Streits um die Toilettennutzung ein Einschreiten des Angeklagten keinesfalls notwendig gewesen sei. Mit diesen Erwägungen bewertet die Strafkammer rechtsfehlerhaft das Fehlen von Strafmilderungsgründen als strafschärfend (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 23. April 2020 - 1 StR 15/20 Rn. 9 mwN; zudem LK/Schneider, StGB, 13. Aufl., § 46 Rn. 62). Ferner wird die Tatschuld im Rahmen eines Körperverletzungsdelikts - entgegen der Annahme des Landgerichts - nicht dadurch erhöht, dass der „Angriff völlig aus dem Nichts“ kam und „für das Opfer in der konkreten Situation also nicht vorhersehbar“ war (UA S. 50).

4. Auch wenn der zur Aufhebung des Schuldspruchs führende Rechtsfehler lediglich die Annahme eines Körperverletzungsvorsatzes betrifft (§ 353 Abs. 2 StPO), hebt der Senat die gesamten Feststellungen auf, um dem neuen Tatgericht insgesamt widerspruchsfreie Feststellungen zu ermöglichen.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 976

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2021, 366; StV 2022, 147

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede