HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1423
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner
Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 41/20, Beschluss v. 04.11.2020, HRRS 2020 Nr. 1423
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 16. Dezember 2019 dahin ergänzt, dass die vom Angeklagten aufgrund der Bewährungsauflage im Zusammenhang mit dem Urteil des Amtsgerichts Niebüll vom 6. Oktober 2011 erbrachten 50 Stunden gemeinnütziger Arbeit mit neun Tagen auf die Gesamtfreiheitsstrafe angerechnet werden.
Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schwerer Vergewaltigung in Tateinheit mit räuberischer Erpressung unter Einbeziehung von Einzelstrafen aus einem Urteil des Amtsgerichts Niebüll zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten führt mit der Sachrüge zu der aus der Beschlussformel ersichtlichen Ergänzung des Urteilstenors (§ 349 Abs. 4 StPO). Im Übrigen ist sie entsprechend den Ausführungen in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts unbegründet nach § 349 Abs. 2 StPO.
1. Näherer Erörterung bedarf lediglich, ob der Grundsatz der Spezialität (§ 83h Abs. 1 Nr. 1 IRG) der Verurteilung des Angeklagten entgegensteht.
a) Folgendes Geschehen liegt zu Grunde:
Gegen den Angeklagten wurde im Jahr 2016 ein Strafverfahren wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern geführt. Aufgrund eines deswegen erwirkten Europäischen Haftbefehls der Staatsanwaltschaft Hannover (im Folgenden: erster Europäischer Haftbefehl) wurde der Angeklagte von Portugal an die deutschen Justizbehörden übergeben, wobei er nicht auf den Spezialitätsschutz verzichtete. Er verbüßte die in diesem Verfahren verhängte Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten bis 31. August 2018 vollständig.
Während des Strafvollzugs wurde die Strafaussetzung zur Bewährung aus einem Urteil des Amtsgerichts Niebüll aus dem Jahr 2011 widerrufen, mit dem der Angeklagte wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zehn Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt worden war. Die Staatsanwaltschaft Flensburg stellte deshalb bei den portugiesischen Justizbehörden einen Antrag auf Verzicht auf die Anwendung des Spezialitätsgrundsatzes und ersuchte um Zustimmung zur Strafvollstreckung. Da diese nicht rechtzeitig einging, wurde der Angeklagte am 31. August 2018 aus der Strafhaft entlassen. Am 18. oder 19. September 2018 reiste er in die Niederlande aus und begab sich kurz darauf nach Italien.
Wegen der Vollstreckung des Urteils des Amtsgerichts Niebüll erging ein weiterer Europäischer Haftbefehl (im Folgenden: zweiter Europäischer Haftbefehl), aufgrund dessen der Angeklagte nach Bewilligung der italienischen Vollstreckungsbehörde am 18. Oktober 2018 an Deutschland übergeben wurde. Die italienische Vollstreckungsbehörde erteilte die Zustimmung zur Verfolgung auch der hier gegenständlichen Tat am 22. März 2019.
b) Der Angeklagte kann sich nicht mit Erfolg auf den Spezialitätsschutz (§ 83h Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 IRG) berufen.
aa) Grundsätzlich erschöpft sich der Spezialitätsschutz in den Fällen der Übergabe nach dem Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. L 190 vom 18. Juli 2002, S. 1; im Folgenden: RBEuHB) - anders als bei der Auslieferung - zwar in der die Vollstreckung hindernden Wirkung (vgl. EuGH, Urteil vom 1. Dezember 2008 - C88/08, Leymann und Pustovarov, NStZ 2010, 35, 39, Rn. 73). Dies gilt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs aber dann nicht, wenn - wie vorliegend - eine Gesamtstrafe mit nicht dem Spezialitätsschutz unterliegenden Strafen zu bilden ist. In diesen Fällen würde der Spezialitätsschutz bei Übergaben nach RBEuHB bereits die Ausurteilung der Gesamtstrafe verhindern (vgl. BGH, Beschlüsse vom 16. November 2016 - 2 StR 246/16, NStZ-RR 2017, 116, 117; vom 20. Oktober 2016 - 3 StR 245/16, NStZ-RR 2017, 28; Urteil vom 28. August 2019 - 2 StR 25/19).
bb) Der Bundesgerichtshof hat noch nicht entschieden, ob § 83h Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 IRG in Fällen aufeinanderfolgender Übergaben durch verschiedene Mitgliedstaaten, zwischen denen der Angeklagte freiwillig das Bundesgebiet verlassen hat, hinsichtlich der vorangehenden Übergabe anwendbar ist.
(1) Im Blick darauf, dass mit § 83h Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 IRG die Regelungen betreffend die Spezialität im RBEuHB (Art. 27 Abs. 2, 3 RBEuHB) inhaltsgleich in nationales Recht umgesetzt sind (vgl. BTDrucks. 15/1718, S. 24, 25), hat der Senat dem Gerichtshof der Europäischen Union mit Beschluss vom 21. April 2020 (6 StR 41/20, NStZ-RR 2020, 228) folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist Art. 27 Abs. 2, 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. L 190 vom 18. Juli 2002, S. 1, RBEuHB) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung (ABl. L 81 vom 27. März 2009, S. 24) dahin auszulegen, dass der Grundsatz der Spezialität einer freiheitsbeschränkenden Maßnahme wegen einer vor der Übergabe begangenen anderen Handlung als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt, dann nicht entgegensteht, wenn die Person das Hoheitsgebiet des Ausstellungsmitgliedstaates nach der Übergabe freiwillig verlassen hat, später von einem anderen Vollstreckungsmitgliedstaat aufgrund eines neuen Europäischen Haftbefehls abermals in das Hoheitsgebiet des Ausstellungsmitgliedstaates übergeben worden ist und der zweite Vollstreckungsmitgliedstaat die Zustimmung zur Verfolgung, Verurteilung und Vollstreckung wegen dieser anderen Handlung erteilt hat? (2) Mit Urteil vom 24. September 2020 (Rechtssache C-195/20 PPU) hat der Gerichtshof auf das Vorabentscheidungsersuchen hin für Recht erkannt:
Art. 27 Abs. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass der in Abs. 2 dieses Artikels aufgestellte Grundsatz der Spezialität einer freiheitsbeschränkenden Maßnahme gegenüber einer Person, gegen die ein erster Europäischer Haftbefehl ergangen ist, wegen einer anderen und früheren Handlung als derjenigen, die ihrer Übergabe in Vollstreckung dieses Haftbefehls zugrunde liegt, nicht entgegensteht, wenn diese Person das Hoheitsgebiet des Ausstellungsmitgliedstaats dieses ersten Haftbefehls freiwillig verlassen hat und dorthin in Vollstreckung eines zweiten, nach dieser Ausreise zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellten Europäischen Haftbefehls übergeben worden ist, sofern im Rahmen des zweiten Europäischen Haftbefehls die diesen vollstreckende Justizbehörde ihre Zustimmung zur Ausweitung der Verfolgung auf die Handlung erteilt hat, derentwegen die fragliche freiheitsbeschränkende Maßnahme verhängt worden ist.
cc) Die vom Gerichtshof vorgenommene gemeinschaftsrechtliche Auslegung von Art. 27 Abs. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 bestimmt auch die Interpretation des auf diesem Rahmenbeschluss beruhenden § 83h Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 IRG. Danach ist das Landgericht mit Recht davon ausgegangen, dass der Grundsatz der Spezialität die Verurteilung des Angeklagten wegen der verfahrensgegenständlichen Tat nicht hindert.
Der aus der Übergabe durch Portugal aufgrund des ersten Europäischen Haftbefehls resultierende Spezialitätsschutz ist mit der Übergabe des Angeklagten aufgrund des zweiten Europäischen Haftbefehls von Italien an Deutschland entfallen, ohne dass es dafür auf die Ausnahmetatbestände des § 83h Abs. 2 IRG ankommt. Verlässt nämlich der Angeklagte nach einer Übergabe aufgrund eines europäischen Haftbefehls freiwillig das deutsche Staatsgebiet, bildet bei einer nachfolgenden Übergabe aufgrund eines weiteren von einer deutschen Strafverfolgungsbehörde ausgestellten Europäischen Haftbefehls allein letzterer den Rahmen für einen möglichen Spezialitätsschutz im Sinne von § 83h Abs. 1 Nr. 1 IRG (vgl. EuGH, Urteil vom 24. September 2020, C-195/20 PPU Rn. 41; BeckOK-StPO/Inhofer, 37. Ed., IRG § 83h Rn. 10).
(1) Dafür streitet bereits der Wortlaut von § 83h Abs. 1 Nr. 1 IRG. Ebenso wie Art. 27 Abs. 2 RBEuHB stellt die Bestimmung auf „die Übergabe“ im grammatikalischen Singular ab (vgl. EuGH, Urteil vom 24. September 2020, C-195/20 PPU Rn. 37). Demgemäß bezieht sich der Spezialitätsgrundsatz auf die Vollstreckung eines bestimmten Europäischen Haftbefehls (vgl. EuGH, Urteil vom 24. September 2020, C-195/20 PPU Rn. 38). Im Fall mehrfacher Übergaben ist das der letzte vollstreckte Europäische Haftbefehl. Denn lediglich dieser ist - jedenfalls nach freiwilligem Verlassen - ursächlich für den Aufenthalt des Angeklagten im Bundesgebiet. Auf die Frage, ob der Spezialitätsschutz aus der ersten Übergabe in jedem Fall bereits durch freiwilliges Verlassen des Bundesgebiets erlischt (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 21. April 2020 - 6 StR 41/20, NStZ-RR 2020, 228, 229), kommt es vorliegend nicht mehr an.
(2) Die Maßgeblichkeit allein der letzten Übergabe ist darüber hinaus aus dem Zweck der Übergaberegeln zu schließen. Zwar räumt Art. 27 RBEuHB den Mitgliedstaaten gewisse Befugnisse bei der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls ein, wozu auch der Spezialitätsschutz gehört. Diese Befugnisse sind aber Ausnahmen von dem in Art. 1 Abs. 2 RBEuHB niedergelegten Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung der Strafverfolgung und der strafrechtlichen Urteile sowie der daraus folgenden Verpflichtung der Mitgliedstaaten, grundsätzlich jeden Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken (vgl. EuGH, Urteil vom 24. September 2020, C-195/20 PPU Rn. 33).
Wegen dieses Ausnahmecharakters unterliegen die Regeln über den Spezialitätsschutz der einschränkenden Auslegung. Sie dürfen insbesondere nicht in einer Weise interpretiert werden, die zu einer Vereitelung des mit dem Rahmenbeschluss verfolgten Ziels führen würde, die Übergaben zwischen den Justizbehörden der Mitgliedstaaten zu vereinfachen und zu beschleunigen, um einen unionsweiten Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu schaffen (vgl. EuGH, Urteile vom 24. September 2020, C-195/20 PPU Rn. 35; vom 28. Juni 2012 - C-192/12 PPU, West, Rn. 53). Dies wäre jedoch hier der Fall, wenn der Spezialitätsschutz aus der auf den ersten Europäischen Haftbefehl gründenden Übergabe (aus Portugal) die Übergabe wegen des zweiten Europäischen Haftbefehls (aus Italien) überdauern würde. Das Ergebnis widerspräche dem Grundsatz der Anerkennung nicht nur in Bezug auf die deutsche Strafverfolgung, sondern ebenso in Bezug auf die Übergabe und die Zustimmung zur Strafverfolgung der hier verfahrensgegenständlichen Tat durch Italien als Vollstreckungsmitgliedstaat. Eine solche - unbeschränkte - Fortdauer des Spezialitätsschutzes ist von Art. 27 RBEuHB und mithin von § 83h Abs. 1, 2 IRG nicht gedeckt. Das gilt jedenfalls dann, wenn der Angeklagte nach Vollstreckung der Strafe aus dem dem ersten Europäischen Haftbefehl zugrunde liegenden Verfahren den ersuchenden Mitgliedstaat freiwillig verlassen hat (vgl. EuGH, Urteil vom 24. September 2020, C-195/20 PPU Rn. 43). Die von der Revision mit Schriftsatz vom 28. Oktober 2020 vorgebrachten Motive für die Ausreise stehen der Annahme der Freiwilligkeit nicht entgegen.
(3) Das erweist auch der Vergleich mit den Regeln der Auslieferung. Danach entfällt die Bindung der Spezialität, wenn der Verfolgte den ersuchenden Staat verlassen hat und dorthin zurücküberstellt wird (§ 11 Abs. 2 Nr. 3 Satz 1 IRG). Zwar enthält § 83h Abs. 1 IRG keine ausdrückliche Regelung in diesem Sinne. Das bedeutet jedoch nicht, dass bei Übergaben in solchen Fällen die Spezialität fortbesteht (zutreffend OLG Braunschweig, Beschluss vom 26. August 2019 - 1 Ws 154/19; aM OLG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 18. Juli 2019 - 2 Ws 77/19). Denn gegenüber der Auslieferung ist die Übergabe nach RBEuHB das wirksamere und einfachere System (vgl. EuGH, Urteil vom 24. September 2020, C-195/20 PPU, Rn. 31, 32).
dd) Maßgeblich für den Spezialitätsschutz ist nach alldem ausschließlich die Übergabe durch Italien aufgrund des zweiten Europäischen Haftbefehls. Mit der nachträglichen Zustimmung der italienischen Behörden zur Verfolgung der gegenständlichen Tat nach § 83h Abs. 2 Nr. 5 IRG ist der Angeklagte des Spezialitätsschutzes verlustig gegangen (vgl. EuGH, Urteil vom 24. September 2020, C-195/20 PPU Rn. 43, 44).
2. Der Senat hat die vom Landgericht nur im Rahmen der Urteilsgründe vorgenommene Anrechnung der vom Angeklagten zur Erfüllung einer Bewährungsauflage erbrachten gemeinnützigen Leistungen auf die Gesamtfreiheitsstrafe (UA S. 41) - wie nach ständiger Rechtsprechung erforderlich (vgl. BGH, Urteil vom 20. März 1990 - 1 StR 283/89, BGHSt 36, 378, 381) - in die Urteilsformel aufgenommen (§ 354 Abs. 1 StPO analog).
HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1423
Externe Fundstellen: BGHSt 65, 150; NJW 2021, 2817; StV 2021, 641
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner