HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1271
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 377/18, Urteil v. 30.06.2020, HRRS 2020 Nr. 1271
Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Lüneburg vom 28. Februar 2018 werden verworfen.
Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels und die dem Nebenkläger hierdurch im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Das Landgericht hat die Angeklagten des versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und unerlaubter Ausübung der tatsächlichen Gewalt über Kriegswaffen schuldig gesprochen und gegen den Angeklagten G. eine Freiheitsstrafe von zwölf Jahren verhängt. Den Angeklagten K. hat es unter Einbeziehung eines Urteils, mit dem gegen ihn ein Dauerarrest und eine Betreuungsweisung angeordnet worden waren, zu einer Jugendstrafe von zwölf Jahren verurteilt. Die dagegen gerichteten, jeweils auf Verfahrensbeanstandungen und die Sachrüge gestützten Revisionen der Angeklagten sind unbegründet.
Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen beschlossen die Angeklagten, den mit ihnen befreundeten Nebenkläger zu töten, weil er als „Nicht-Kurde und Nicht-Jeside“ eine Liebesbeziehung mit der Schwester des Angeklagten K. führte und dieser darin eine Verletzung der Ehre seiner Schwester und der ganzen Familie sah. Zur Ausführung des gemeinsamen Tatplans suchte der Angeklagte K. den Nebenkläger auf und lockte ihn mit einem freundlichen Gespräch vor die Tür, wo der Angeklagte G. zwischenzeitlich - dem gemeinsamen Tatplan entsprechend - eine von ihm beschaffte geladene Maschinenpistole Random Kaliber 9 mm Makarow mit Schalldämpfer deponiert und die Überwachungskamera verdreht hatte. Der Angeklagte K. ergriff die Waffe und schoss dem Nebenkläger, der sich keines Angriffs versah, aus etwa einem Meter Entfernung in die Brust, um ihn zu töten. Nachdem dieser zu Boden gefallen war, betätigte der Angeklagte K. noch mindestens vier Mal den Abzug der auf den Verletzten gerichteten Waffe. Aus dieser löste sich jedoch wegen einer Funktionsstörung kein Schuss mehr. Der Angeklagte K. bemerkte, dass sein Opfer noch lebte. Daraufhin repetierte er, um eine weitere Patrone in den Lauf der Waffe zu befördern, hielt diese an den Kopf des Nebenklägers und drückte erneut ab, ohne dass sich allerdings ein weiterer Schuss löste. Als der Nebenkläger trotz seiner stark blutenden Brustverletzung nunmehr die Waffe ergreifen konnte und damit in Richtung des Angeklagten zu schlagen versuchte, erkannte der Angeklagte K., dass er seine Tötungsabsicht nicht mehr mit den mitgeführten Mitteln verwirklichen konnte, und floh gemeinsam mit dem Mitangeklagten, der in der Nähe gewartet hatte. Der Angeklagte G. nahm die Tatwaffe wieder an sich und versteckte diese; sodann kehrte er zum Tatort zurück und leistete dem Nebenkläger Hilfe, um seinen Tatbeitrag zu verschleiern.
Die umfassende materiellrechtliche Überprüfung des Urteils auf die Sachbeschwerden der Angeklagten hat zum Schuld- und Strafausspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben. Auch ihren Verfahrensbeanstandungen bleibt der Erfolg versagt. Hierzu im Einzelnen:
1. Die von beiden Angeklagten erhobenen Verfahrensrügen, mit denen die Verletzung des § 250 Satz 2 StPO geltend gemacht wird, weil die psychischen Folgen der Tat für den Nebenkläger durch Verlesung eines ärztlichen Attests in die Hauptverhandlung eingeführt und bei der Strafzumessung zum Nachteil der Angeklagten verwertet worden seien, obwohl weder ein Fall des § 251 StPO noch ein solcher des § 256 StPO - insbesondere nicht nach Abs. 1 Buchst. b) oder c) dieser Vorschrift - vorgelegen habe, dringen nicht durch. Der gerügte Rechtsfehler liegt zwar vor. Jedoch beruht das Urteil nicht hierauf. Der Schuldspruch ist von ihm von vornherein nicht betroffen. Daneben ist auszuschließen, dass die Strafaussprüche von der fehlerhaften Verlesung beeinflusst sind. Insoweit gilt:
a) Hinsichtlich des Angeklagten K. hat das Landgericht die erkannte Jugendstrafe unter Beachtung der Fülle der zu seinen Lasten sprechenden Umstände und der darauf beruhenden Schwere der Schuld in erster Linie am Erziehungsbedarf des Angeklagten ausgerichtet, sodass auszuschließen ist, dass es auf eine geringere Strafe erkannt hätte, wenn es die mittels Verlesung festgestellten psychischen Folgen der Tat nicht zur Begründung herangezogen hätte.
b) Für den teilgeständigen Angeklagten G. gilt dies angesichts der Vielzahl der gegen ihn sprechenden Strafzumessungsgründe, die das Schwurgericht angeführt hat, ebenso. Bei der Strafzumessung hat sich das Landgericht leiten lassen von den mehrfachen und erheblichen, teils einschlägigen Vorstrafen des Angeklagten, seinem Handeln unter laufender Bewährung, der langfristigen Tatplanung und Vorbereitung, dem hohen Maß an krimineller Energie, der extremen Gefährlichkeit der ihm zuzurechnenden Handlung seines Mittäters und der Erfolgsnähe, wobei letztlich nur eine „an ein Wunder grenzende glückliche Fügung“ den Tod des Geschädigten verhinderte. Außerdem hat es bedacht, dass tateinheitlich vier Varianten der gefährlichen Körperverletzung sowie das Verbrechen des Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz erfüllt wurden, der Nebenkläger erhebliche Verletzungen davontrug und aufgrund der langjährigen Freundschaft des Angeklagten zum Nebenkläger ein massiver Vertrauensbruch vorlag, der „über ein den Tatbestand der Heimtücke begründendes Maß“ bei weitem hinausging.
2. Die auf die Verletzung des § 261 StPO gestützte Verfahrensrüge des Angeklagten K., mit der dieser die unterbliebene Erörterung der in der Hauptverhandlung verlesenen Auskunft des Bundesamtes für Justiz und aus dem Erziehungsregister über den Zeugen Ö. und der sich daraus ergebenden Vorstrafen in den Urteilsgründen beanstandet, ist ebenfalls unbegründet. Es besteht keine verfahrensrechtliche Pflicht, im Urteil im Detail darüber zu unterrichten, welche Ergebnisse die im Hauptverhandlungsprotokoll verzeichneten Beweiserhebungen erbracht haben, und diese zu erörtern. Das Tatgericht muss sich mit den für die Entscheidung wesentlichen Gesichtspunkten auseinandersetzen, wenn sie geeignet sind, das Beweisergebnis zu beeinflussen, oder sich ihre Erörterung aufdrängt (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Februar 2015 - 4 StR 39/15, juris Rn. 3). Daran gemessen war eine weitere Erläuterung des strafrechtlichen Vorlebens des Zeugen, der im Wesentlichen im Bereich der Eigentums-, Gewalt- und Verkehrsdelikte, nicht aber mit Aussage- oder Falschbezichtigungsdelikten in Erscheinung getreten ist, durch § 261 StPO nicht geboten. Das Landgericht hat seine Angaben angesichts ihrer in örtlicher wie zeitlicher Hinsicht überprüften Plausibilität, ihres Detailreichtums und der Übereinstimmungen mit der Einlassung des Mitangeklagten G. für glaubhaft befunden, wobei es auch die wesentlichen Umstände bedacht hat, die auf eine Falschbekundung hindeuten könnten.
3. Schließlich bleibt auch die Verfahrensrüge, mit welcher der Angeklagte G. die Zurückweisung seines Antrages auf Vernehmung eines Polizeibeamten zu den Angaben des Nebenklägers im Ermittlungsverfahren beanstandet, ohne Erfolg.
a) Der Rüge liegt folgendes Geschehen zugrunde:
Der Nebenkläger hatte sich kurz nach der Tat noch im Krankenhaus gegenüber der Polizei und später gegenüber dem Ermittlungsrichter als Zeuge zur Sache geäußert. Später heiratete er die Schwester des Angeklagten K. In der Hauptverhandlung erschien er nicht zum Termin und ließ durch seinen anwaltlichen Vertreter erklären, dass er von seinem Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 StPO Gebrauch mache; jedoch sei er mit der Verwertung seiner richterlichen Vernehmung, nicht aber mit der seiner polizeilichen Aussage einverstanden. Das Landgericht wies den Antrag gemäß § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO aF mit der Begründung zurück, dass der Verzicht auf das Verwertungsverbot des § 252 StPO nicht die polizeiliche Vernehmung umfasse.
b) Die Ablehnung des Beweisantrages ist im Ergebnis rechtlich nicht zu beanstanden. Denn es war unzulässig, die polizeiliche Vernehmung zum Gegenstand der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung zu machen. Insoweit gilt Folgendes:
aa) Da sich der Zeuge wirksam auf sein Zeugnisverweigerungsrecht gemäß § 52 StPO berufen hatte, war die beantragte Vernehmung des Polizeibeamten zur Aussage des Nebenklägers vor der Hauptverhandlung grundsätzlich unzulässig. Denn über den Wortlaut des § 252 StPO hinaus ist nicht nur die Verlesung des Protokolls der früheren Vernehmung, sondern auch die Vernehmung von Verhörspersonen nicht gestattet; eine Ausnahme gilt nur für richterliche Vernehmungen, in denen der Zeuge nach Belehrung über sein Zeugnisverweigerungsrecht davon freiwillig keinen Gebrauch gemacht und ausgesagt hat (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 15. Januar 1952 - 1 StR 341/51, BGHSt 2, 99, 106; vom 14. Oktober 1959 - 2 StR 249/59, BGHSt 13, 394, 398; vom 25. März 1980 - 5 StR 36/80, BGHSt 29, 230, 232; vom 15. Juli 2016 - GSSt 1/16, BGHSt 61, 221 Rn. 25 ff.).
bb) Soweit der Zeuge die Verwertung allein der richterlichen, nicht aber der polizeilichen Vernehmung gestattet hat, kann in der vorliegenden Konstellation offenbleiben, ob ein solcher Teilverzicht auf das Verwertungsverbot des § 252 StPO rechtlich zulässig ist.
(1) Wäre der Teilverzicht - wovon das Landgericht ersichtlich ausgegangen ist - rechtlich möglich, hätte das Landgericht wie geschehen nur auf die richterliche Vernehmung zugreifen dürfen und den Beweisantrag ablehnen müssen.
(2) Aber auch dann, wenn man einen auf einzelne Vernehmungen bezogenen Teilverzicht auf das Zeugnisverweigerungsrecht für unzulässig erachten wollte, folgte daraus - entgegen der Rechtsauffassung der Revision - nicht die Möglichkeit der Verwertung aller früheren richterlichen und polizeilichen Vernehmungen im Ermittlungsverfahren. Vielmehr ergäbe sich daraus hier ein umfassendes Verwertungsverbot hinsichtlich sämtlicher früheren Angaben des Zeugen mit der Folge der Unzulässigkeit der beantragten Vernehmung des Polizeibeamten über den Inhalt der Zeugenvernehmung. Denn der Zeuge hat sich nicht nach zutreffender Belehrung und in Kenntnis seiner Rechte und der Reichweite seiner Erklärung als Beweismittel zur Verfügung gestellt. Seine Verzichtserklärung hat er ersichtlich nicht in der Vorstellung abgegeben, dass damit auf all seine früheren Bekundungen zugegriffen werden könne, sondern in der fehlerhaften Annahme der Teilbarkeit des Verweigerungsrechts. Sollte eine Teilverzichtserklärung unzulässig sein, lag eine wirksame irrtumsfreie Disposition des Zeugen über sein Zeugnisverweigerungsrecht nicht vor.
(3) Aus den Erwägungen des Urteils des Bundesgerichtshofs vom 28. Mai 2003 (2 StR 445/02, BGHSt 48, 294, 297 f.), auf die sich die Revision zur Begründung ihrer Rechtsauffassung bezieht, lässt sich für die vorliegende Konstellation keine umfassende Verwertungsmöglichkeit herleiten. Die Entscheidung betraf eine anders gelagerte Fallgestaltung, in der sich der zeugnisverweigerungsberechtigte Zeuge in der Hauptverhandlung zunächst nicht zur Sache geäußert hatte, später aber gleichwohl zur Sache aussagte, um eine frühere richterliche Vernehmung zu entkräften; damit machte er aber selbst seine früheren Angaben indirekt zum Gegenstand der aktuellen Aussage. In einer solchen Konstellation kann der Zeuge seine Zustimmung zur Verwertung früherer Angaben nicht auf einzelne Vernehmungen beschränken. Vielmehr kann er nur entscheiden, ob er sich als Beweismittel zur Verfügung stellen möchte oder nicht, und hat darüber hinaus weder die Möglichkeit, den Umfang der Verwertbarkeit seiner Aussage, noch weitergehend den Umfang der Verwertbarkeit der von ihm bereits vorliegenden Angaben zu bestimmen (BGH, Urteil vom 28. Mai 2003 - 2 StR 445/02; vgl. auch SSWStPO/Kudlich/Schuhr, 4. Aufl., § 252 Rn. 18). Aus diesem Sonderfall lässt sich jedoch nicht verallgemeinernd schlussfolgern, dass ein zeugnisverweigerungsberechtigter Zeuge seine Zustimmung zur Verwertung früherer Aussagen generell nicht auf einzelne Vernehmungen beschränken kann (so LR/Cirener/Sander, StPO, 27. Aufl., § 252 Rn. 25 mwN) und ein Teilverzicht zur Möglichkeit der Verwertung sämtlicher Angaben des Zeugen im Ermittlungsverfahren führt.
cc) Soweit die Strafkammer die Bekundungen des Zeugen gegenüber dem Ermittlungsrichter verwertet hat, bedarf es keiner Entscheidung, ob die hierauf beschränkte Zustimmung wirksam war. Eine dies betreffende Verfahrensrüge ist nicht erhoben worden.
4. Im Rahmen der Sachbeschwerden bedarf der Erörterung nur Folgendes:
Ohne Rechtsfehler hat das Landgericht für den heranwachsenden Angeklagten K. wegen der besonderen Schwere der Schuld, die es nach zutreffenden Maßstäben (vgl. BGH, Urteil vom 22. Juni 2016 - 5 StR 524/15, BGHSt 61, 193 Rn. 11 mwN) angenommen hat, den Strafrahmen des § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG zugrunde gelegt.
Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers setzt die Anwendung des Strafrahmens gemäß § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG kein vollendetes Delikt voraus, sondern schließt den Mordversuch ein (vgl. BGH, Beschluss gemäß § 349 Abs. 2 StPO vom 12. Oktober 2017 - 1 StR 324/17, der die Entscheidung des LG Würzburg vom 26. Januar 2017 - JKLs 801 Js 263/16 jug, juris Rn. 587 ff. bestätigt hat; Kölbel, ZJJ 1998, 160, 162; BeckOK StGB/Eschelbach, 46. Ed., § 211 Rn. 124.1 mwN; Feilcke in FS für Breidling, 2017, S. 76 f.; aA BeckOK JGG/Schlehofer, 17. Ed., § 105 Rn. 23a ff.; Ostendorf, JGG, 10. Aufl., § 105 Rn. 32a).
Es entspricht der üblichen gesetzlichen Regelungstechnik, dass die Bezugnahme auf eine bestimmte Strafvorschrift nicht nur die täterschaftlich vollendete Straftat als deren Grundfall, sondern auch den (strafbaren) Versuch sowie ihre weiteren Erscheinungsformen betrifft (Feilcke in FS für Breidling, 2017, S. 76, 79). So steht etwa außer Zweifel, dass die Zuweisung von Verbrechen „des Mordes“ in § 74 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GVG an das Schwurgericht auch die Fälle des versuchten Mordes umfasst. Entsprechendes gilt für die Verjährungsregelungen (vgl. Fischer, StGB, 67. Aufl., § 78 Rn. 4) und die Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 3 StGB (BGH, Urteil vom 14. Juli 1999 - 3 StR 209/99, NJW 1999, 3723; Fischer, StGB, 67. Aufl., § 66 Rn. 25), in denen jeweils nur das Grunddelikt erwähnt wird und die gleichwohl im Falle einer nur versuchten Tatbegehung anzuwenden sind. Nichts anderes gilt für den - soweit hier von Bedeutung - zu § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG wortgleichen § 18 Abs. 1 Satz 2 JGG, der auf „ein Verbrechen“ abstellt. Zudem spricht die in der Gesetzesbegründung zur Einführung des § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG verwendete weite Formulierung, wonach in Fällen „besonders schwerer Mordverbrechen“ das besondere Ausmaß der Schuld durch die Heraufsetzung des Höchstmaßes der Jugendstrafe für Heranwachsende verdeutlicht werden sollte, gegen die Annahme, dass abweichend von dem üblichen Sprachgebrauch der Versuch nicht erfasst werden soll. Auch versuchte Mordtaten können - wie sich aus der Wertung des § 23 Abs. 2 StGB, nach der der Mordversuch genauso schwer wiegen kann wie der vollendete Mord - besonders schwere Mordverbrechen sein.
HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1271
Externe Fundstellen: NJW 2020, 3537; NStZ 2020, 741; StV 2022, 46
Bearbeiter: Christian Becker