HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 50
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 253/18, Urteil v. 22.11.2018, HRRS 2019 Nr. 50
1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Essen vom 9. Februar 2018 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hatte den Angeklagten im ersten Rechtsgang am 16. Februar 2017 wegen versuchter räuberischer Erpressung in Tateinheit mit dem Versuch des Sicherverschaffens von Betäubungsmitteln in sonstiger Weise und vorsätzlicher Körperverletzung (vier Jahre Freiheitsstrafe) unter Einbeziehung der Einzelstrafen (ein Jahr und sechs Monate Freiheitsstrafe wegen Raubes, Körperverletzung und versuchter Körperverletzung, sowie zwei Jahre und sechs Monate Freiheitsstrafe wegen Raubes in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge) aus dem Urteil des Landgerichts Berlin vom 9. April 2015 nach Auflösung der dort gebildeten Gesamtstrafe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und neun Monaten verurteilt. Eine vorbehaltlose Anordnung der Sicherungsverwahrung hatte es mit der Begründung abgelehnt, dass die Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB nicht sicher feststellbar seien. Jedoch wurde die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung vorbehalten. Auf die Revision des Angeklagten hob der Senat mit Beschluss vom 19. Juli 2017 die vorbehaltene Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung mit den zugehörigen Feststellungen auf und verwies die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurück. Die weiter gehende Revision verwarf der Senat. Im zweiten Rechtsgang hat das Landgericht von einem Vorbehalt der Anordnung der Sicherungsverwahrung abgesehen. Hiergegen richtet sich die Revision der Staatsanwaltschaft. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat Erfolg.
1. Das sachverständig beratene Landgericht hat im zweiten Rechtsgang die Voraussetzungen für eine Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung sowohl nach § 66 Abs. 1 StGB als auch nach § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB für gegeben erachtet. Der Angeklagte habe einen Hang zu erheblichen Straftaten im Sinne des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB. Seine strafrechtliche Vorgeschichte und sein Persönlichkeitsbild zeigten eine eingewurzelte, intensive innere Neigung zur Begehung von gravierenden Raub- und Körperverletzungsdelikten. Infolge seines Hanges sei der Angeklagte für die Allgemeinheit gefährlich, weil von ihm mit hoher Wahrscheinlichkeit weitere schwere Raub- und Körperverletzungsdelikte zu erwarten seien. Die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung sei auch verhältnismäßig. Da bei dem Angeklagten keine Haltungsänderung erwartet werden könne, sei eine Anordnung auch mit Blick auf das nach § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB eingeräumte Ermessen unerlässlich.
Eine Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung komme aber wegen des Verschlechterungsverbots des § 358 Abs. 2 StPO nicht in Betracht. Da eine hangbedinge Gefährlichkeit des Angeklagten nunmehr mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden könne, scheide auch ein Vorbehalt der Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach § 66a StGB aus.
2. Die Erwägungen, mit denen die Strafkammer einen Vorbehalt der Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66a Abs. 1 StGB abgelehnt hat, halten revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand.
a) Die formellen Voraussetzungen für die Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung nach § 66a Abs. 1 StGB sind gegeben. Der Angeklagte ist wegen einer der in § 66 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 Nr. 1b StGB genannten Straftaten (versuchte räuberische Erpressung) verurteilt worden (§ 66a Abs. 1 Nr. 1 StGB). Auch liegen die Voraussetzungen des § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB vor (§ 66a Abs. 1 Nr. 2 StGB), denn der Angeklagte hat zwei Katalogtaten im Sinne des § 66 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 Nr. 1b StGB begangen (versuchte räuberische Erpressung und aus der einbezogenen Verurteilung Raub in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge) durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren (vier Jahre sowie zwei Jahre und sechs Monate Freiheitsstrafe) verwirkt hat, wobei er wegen einer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist.
b) Soweit das Landgericht davon ausgegangen ist, dass die Voraussetzungen des § 66a Abs. 1 Nr. 3 StGB deshalb nicht gegeben seien, weil zum Entscheidungszeitpunkt eine hangbedingte Gefährlichkeit im Sinne des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB sicher feststellbar und nicht nur wahrscheinlich sei, kann dem nicht gefolgt werden.
aa) Denn die Strafkammer hat nicht beachtet, dass mit der Verneinung der Voraussetzungen der vorbehaltlosen Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 2 StGB im ersten Rechtsgang die dieser teilrechtskräftig gewordenen Entscheidung zugrunde liegenden Feststellungen und Wertungen, dass eine hangbedingte Gefährlichkeit gemäß § 66 Abs. 1 Nr. 4 StGB nicht sicher vorliegt, prozessual bindend geworden sind.
(1) Die Teilaufhebung eines Urteils in Anwendung des § 353 Abs. 2 StPO hat zur Folge, dass der im zweiten Rechtsgang entscheidende Tatrichter an die Feststellungen und Wertungen im Ersturteil gebunden ist, die den von der Aufhebung nicht betroffenen und damit unabänderlich (teilrechtskräftig) gewordenen Entscheidungsteilen zugrunde liegen. Soweit diese Umstände und Wertungen auch für die Neubeurteilung der aufgehobenen Entscheidungsteile von Bedeutung sind, müssen sie der Entscheidung im zweiten Rechtsgang so zugrunde gelegt werden, wie sie im ersten Rechtsgang festgestellt worden sind (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Juni 2017 - 1 StR 458/16, NJW 2017, 2847 Rn. 11 ff.; Beschluss vom 22. Juli 1971 - 4 StR 184/71, BGHSt 24, 185, 188; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl., § 353 Rn. 20a mwN).
(2) Danach war die Strafkammer im zweiten Rechtsgang an die im ersten Urteil getroffene Feststellung und Wertung, dass eine hangbedingte Gefährlichkeit im Sinne des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB nicht sicher vorliegt, gebunden. Denn das Landgericht hat im ersten Rechtsgang seine Entscheidung, die vorbehaltslose Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 2 StGB nicht anzuordnen, allein hierauf gestützt. Dieser den Angeklagten nicht beschwerende Entscheidungsteil ist mit dem Beschluss des Senats vom 19. Juli 2017 teilrechtskräftig geworden. Würde im zweiten Rechtsgang nunmehr festgestellt, dass die Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB sicher vorliegen, ließen sich beide Urteile insoweit nicht mehr zu einem einheitlichen widerspruchsfreien Sachurteil zusammenfügen.
bb) Dessen ungeachtet stünde die Annahme, dass die Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB sicher feststehen, hier einer Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung nach § 66a Abs. 1 StGB auch nicht entgegen.
(1) Zwar ist für die Anordnung eines Vorbehalts der Sicherungsverwahrung nach § 66a Abs. 1 StGB kein Raum mehr, wenn die Voraussetzungen für eine Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB vorliegen (vgl. BGH, Beschluss vom 9. September 2008 - 1 StR 449/08, NStZ 2009, 566, 567; Urteil vom 8. Juli 2005 - 2 StR 120/05, BGHSt 50, 188, 193 [zu § 66a StGB jeweils in der Fassung vom 21. August 2002]; Fischer, StGB, 65. Aufl., § 66a Rn. 4). Dies kann aber nur dann gelten, wenn eine insoweit „vorrangige“ (vgl. BTDrucks. 17/3403, S. 26) vorbehaltlose Anordnung von Sicherungsverwahrung rechtlich noch möglich ist. Dementsprechend hat der Bundesgerichtshof in mehreren Entscheidungen, denen Revisionen des Angeklagten zugrunde lagen, vorbehaltene Anordnungen von Sicherungsverwahrung als nicht beschwerend bestätigt, obgleich die Voraussetzungen für eine vorbehaltlose Anordnung von Sicherungsverwahrung rechtsfehlerfrei festgestellt waren; eine vorbehaltlose Anordnung von Sicherungsverwahrung aber aufgrund des Schlechterstellungsverbots nicht mehr erfolgen konnte (vgl. BGH, Beschluss vom 9. September 2008 - 1 StR 449/08, NStZ 2009, 566, 567; Beschluss vom 6. Dezember 2005 - 1 StR 347/05; siehe auch Beschluss vom 19. Februar 2013 - 5 StR 620/12, NStZ-RR 2013, 204; offen gelassen in BGH, Urteil vom 17. Februar 2011 - 3 StR 394/10, NStZ 2011, 513, 514).
Die vorliegende Prozesslage entspricht dieser Fallkonstellation. Eine vorbehaltlose Anordnung von Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB war im zweiten Rechtsgang nicht mehr möglich, weil die Anordnung bereits im ersten Rechtsgang abgelehnt und das Ersturteil insoweit teilrechtskräftig geworden ist. Da nur der Angeklagte Revision eingelegt hatte, stünde einer entsprechenden Anordnung auch das Schlechterstellungsverbot (§ 358 Abs. 2 StPO) entgegen (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Februar 2013 - 5 StR 620/12, NStZ-RR 2013, 204 a.E.; Beschluss vom 5. September 2008 - 2 StR 265/08, StV 2008, 635 a.E.).
(2) Die in § 66a Abs. 1 Nr. 3 StGB festgelegten materiellen Voraussetzungen für eine vorbehaltene Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 1 StGB sind auch dann erfüllt, wenn die hangbedingte Gefährlichkeit des Täters im Sinne des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB feststeht.
Die materiellen Voraussetzungen für die Anordnung der vorbehaltlosen und der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung unterscheiden sich insoweit nicht inhaltlich, sondern lediglich in den jeweiligen beweisrechtlichen Anforderungen. Die vorbehaltlose Sicherungsverwahrung setzt die sichere Feststellung der Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB voraus, während § 66a Abs. 1 Nr. 3 StGB die positive Feststellung des Gerichts genügen lässt, dass das Vorliegen eines Hangs und einer daraus folgenden Gefährlichkeit wahrscheinlich ist (vgl. BTDrucks. 17/3403, S. 15 und 26; BGH, Beschluss vom 19. Juli 2017 - 4 StR 245/17, BGHR StGB § 66a Abs. 1 Nr. 3 Voraussetzungen 1 mwN). Eine Feststellung im Sinne des § 66a Abs. 1 Nr. 3 StGB ist in der Sache aber auch dann getroffen, wenn sich der Tatrichter vom sicheren Vorliegen der Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 Nr. 4 StGB zu überzeugen vermag. Denn dieser Überzeugungsbildung (§ 261 StPO) liegt letztlich auch nur eine Wahrscheinlichkeitsaussage zugrunde. Dabei ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Täter einen Hang hat und ihm deshalb eine entsprechende Gefährlichkeitsprognose gestellt werden muss, allerdings so hoch, dass deren Vorliegen (Hang) bzw. Richtigkeit (Gefährlichkeitsprognose) deshalb vom Tatrichter für gewiss gehalten wird (vgl. Miebach in Münchner Kommentar zur StPO, 1. Aufl., § 261 Rn. 52 mwN; siehe auch BGH, Urteil vom 25. September 2012 - 1 StR 160/12, NStZ 2013, 225, 226 f. [zu Prognoseentscheidungen]).
(3) Soweit in dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 8. Juli 2005 (2 StR 120/05, BGHSt 50, 188, 193) davon die Rede ist, dass § 66a StGB im Fall der sicheren Feststellung der genannten Voraussetzungen keine Anwendung findet, weil das Merkmal „nicht mit hinreichender Sicherheit feststellbar“ nicht erfüllt ist, bezieht sich dies auf § 66a Abs. 1 StGB in der Fassung vom 21. August 2002, der keine weiter gehende positive Bestimmung der materiellen Voraussetzungen für den Vorbehalt der Sicherungsverwahrung enthielt. Nach der Neufassung von § 66a Abs. 1 StGB kommt diesem Merkmal nur noch die Bedeutung einer Konkurrenzregel zu, die dann zu einer Nichtanwendbarkeit von § 66a Abs. 1 StGB führt, wenn die Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 Nr. 4 StGB sicher vorliegen und deshalb die Anordnung der primären Sicherungsverwahrung in Betracht kommt, „die dann vorrangig wäre“ (vgl. BTDrucks. 17/3403, S. 26).
Der Vorbehalt der Sicherungsverwahrung gemäß § 66a Abs. 1 StGB bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung.
HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 50
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner