HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 940
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 245/17, Beschluss v. 19.07.2017, HRRS 2017 Nr. 940
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Essen vom 16. Februar 2017 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung vorbehalten worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchter räuberischer Erpressung in Tateinheit mit versuchter Beschaffung von Betäubungsmitteln in sonstiger Weise und mit vorsätzlicher Körperverletzung unter Einbeziehung der Strafen aus einem anderen rechtskräftigen Urteil und Auflösung der dort gebildeten Gesamtstrafe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und neun Monaten verurteilt und die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung vorbehalten. Seine Revision hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet.
1. Der auf § 66a Abs. 1 StGB gestützte Ausspruch über den Vorbehalt der Sicherungsverwahrung hat keinen Bestand, weil die Voraussetzungen des § 66a Abs. 1 Nr. 3 StGB nicht rechtsfehlerfrei festgestellt sind und die Strafkammer das ihr eingeräumte Ermessen nicht erkennbar ausgeübt hat.
a) Die Urteilsgründe belegen nicht, dass es im Sinne des § 66a Abs. 1 Nr. 3 StGB wahrscheinlich ist, dass der Angeklagte entsprechend § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden, für die Allgemeinheit gefährlich ist.
aa) Anders als seine Vorgängervorschrift (§ 66a Abs. 1 StGB in der Fassung vom 21. August 2002) fordert § 66a Abs. 1 Nr. 3 StGB in der hier anzuwendenden Fassung des Gesetzes zur Neuanwendung der Vorschriften der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010 (BGBl. I 2300) nicht mehr die sichere Feststellung eines Hanges im Sinne des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB, sondern lässt es sowohl in Bezug hierauf als auch hinsichtlich der hangbedingten Gefährlichkeit ausreichen, dass deren Vorliegen nicht mit hinreichender Sicherheit feststellbar, aber wahrscheinlich ist (vgl. BT-Drucks. 17/3403, S. 15, 26; Fischer, StGB, 64. Aufl., § 66a Rn. 5; Jehle/Harrendorf in: SSW-StGB, 3. Aufl., § 66a Rn. 8; Stree/Kinzig in: Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl., § 66a Rn. 12; Ullenbruch/Morgenstern in: MüKo-StGB, 3. Aufl., § 66a Rn. 62; Ziegler in: BeckOK-StGB, 34. Edition, § 66a Rn. 4; Kinzig, NJW 2011, 177, 178 f.; zur alten Rechtslage vgl. BGH, Urteil vom 8. Juli 2005 - 2 StR 120/05, BGHSt 50, 188, 194 f.). Dabei darf sich der Tatrichter nicht darauf beschränken, die Gründe dafür anzugeben, warum keine hinreichend sicheren Feststellungen getroffen werden konnten. Vielmehr muss sich aus den Urteilsgründen auch im Sinne einer belegten positiven Feststellung ergeben, dass sowohl das Vorliegen einer Hangtäterschaft als auch das Bestehen einer hierdurch bedingten Gefährlichkeit für die Allgemeinheit im Sinne des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB wahrscheinlich sind (vgl. BT-Drucks. 17/3403, S. 29; Sinn in: SK-StGB, 9. Aufl., § 66a Rn. 11). Da es sich insoweit nicht um identische Merkmale handelt, werden in der Regel entsprechende Einzelausführungen erforderlich sein (vgl. BGH, Urteile vom 28. April 2015 - 1 StR 594/14, Rn. 30; vom 8. Juli 2005 - 2 StR 120/05, BGHSt 50, 188, 196; Jehle/Harrendorf, aaO § 66 Rn. 21).
bb) Dem werden die Darlegungen des Landgerichts hinsichtlich der Hangtäterschaft nicht gerecht.
Die Strafkammer hat sich außerstande gesehen, sichere Feststellungen zum Vorliegen eines Hangs im Sinne des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB zu treffen, weil für den Sachverständigen in Ermangelung einer Exploration nicht vollständig aufzuklären gewesen sei, ob die Ursache für die Vortaten allein in der erheblichen Suchtproblematik des Angeklagten oder in dessen geringer Frustrationstoleranz aufgrund einer bei ihm gegebenen dissozialen Verhaltensstörung gelegen habe. Es sei aber nach der gebotenen Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Angeklagten und seiner Taten wahrscheinlich, dass es nach einer Exploration zur Aufklärung der Verhältnisse und zu einer Bejahung der Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 Nr. 4 StGB kommen werde. Für die Gefährlichkeit des Angeklagten sprächen neben den zahlreichen Vorstrafen, die Wirkungslosigkeit des bisherigen Straf- und Maßregelvollzugs, seine geringe Frustrationstoleranz und sein erhebliches Aggressionspotential.
Damit hat das Landgericht zwar begründet, warum dem Angeklagten eine Gefährlichkeitsprognose gestellt werden kann. Dass es sich dabei um eine Gefährlichkeit handelt, der wahrscheinlich ein Hang im Sinne eines eingeschliffenen Verhaltensmusters zugrunde liegt, das den Angeklagten immer wieder neue Straftaten begehen lässt (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 6. Mai 2014 - 3 StR 382/13, NStZ-RR 2014, 271, 272 mwN), wird dadurch aber nicht tragfähig belegt. Hierzu hätte es einer auf einer vergangenheitsbezogenen Betrachtung beruhenden Beurteilung bedurft, die alle bedeutsamen für und gegen eine (wahrscheinliche) Hangtäterschaft sprechenden Umstände einbezieht (vgl. BGH, Urteil vom 26. April 2017 - 5 StR 572/16, Rn. 9 [zu § 66 Abs. 1 Nr. 4 StGB]). Zwar führt die Strafkammer mehrere Umstände an, die auch eine Indizwirkung für das wahrscheinliche Vorliegen eines Hangs haben können (Vortaten, geringe Frustrationstoleranz etc.). Eine Gesamtwürdigung, die auch die an anderer Stelle angeführten möglichen Gegenindizien (Suchtproblematik, kein durchgängig hervortretendes kriminelles Verhaltensmuster) einbezieht, hat die Strafkammer aber nicht erkennbar vorgenommen. Für die allgemein geäußerte Erwartung, dass es bei weiterer Aufklärung zur Bejahung der Voraussetzungen des § 66a Abs. 1 Nr. 4 StGB und damit (auch) zur Bestätigung einer Hangtäterschaft kommen wird, werden keine konkreten Anhaltspunkte angeführt.
b) Durchgreifenden revisionsgerichtlichen Bedenken begegnet auch, dass die Strafkammer nicht erkennbar ihr Ermessen ausgeübt hat.
§ 66a Abs. 1 StGB stellt auch bei Vorliegen aller Voraussetzungen die Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung in das Ermessen des Gerichts (vgl. BGH, Urteil vom 6. April 2017 - 3 StR 548/16, Rn. 14). Nach der Vorstellung des Gesetzgebers soll dieses die Möglichkeit haben, sich ungeachtet der wahrscheinlichen hangbedingten Gefährlichkeit des Täters zum Zeitpunkt der Urteilsfällung auf die Verhängung einer Freiheitsstrafe zu beschränken, sofern bereits jetzt festgestellt werden kann, dass die derzeit noch wahrscheinlichen Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB zum Entlassungszeitpunkt nicht mehr vorliegen werden (vgl. BGH, Urteil vom 6. April 2017- 3 StR 548/16, Rn. 14; BT-Drucks. 14/8586, S. 6 [zu § 66a Abs. 1 StGB aF]; Jehle/Harrendorf, aaO § 66a Rn. 9 mwN). Auch wird dem Tatgericht ermöglicht, seine Entscheidung am Grad der Wahrscheinlichkeit eines Hanges des Angeklagten und der mit ihm verbundenen Gefährlichkeit zu orientieren. Schließlich kann für die Ermessensentscheidung auch von Bedeutung sein, ob im Strafvollzug neue Erkenntnisse über die hangbedingte Gefährlichkeit des Angeklagten zu erwarten sind (vgl. BT-Drucks. 14/8586, S. 6 [zu § 66a Abs. 1 StGB aF]).
Dass das Landgericht sein Ermessen ausgeübt hat, ist - auch bei Heranziehung des Gesamtzusammenhangs der Urteilsgründe - nicht feststellbar. Zwar hat die Strafkammer im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung gemäß § 62 StGB den hohen Grad der von dem Angeklagten ausgehenden Gefahr berücksichtigt und damit einen auch ermessensrelevanten Gesichtspunkt in seine Erwägungen einbezogen. Eine tatsächliche Ermessensausübung ist damit aber noch nicht belegt.
2. Der Vorbehalt der Sicherungsverwahrung bedarf daher erneuter tatgerichtlicher Prüfung auf der Grundlage insoweit neu zu treffender Feststellungen. Die Überprüfung von Schuld- und Strafausspruch aufgrund der Revisionsrechtfertigung hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO).
HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 940
Externe Fundstellen: StV 2020, 15
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede