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HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 1046

Bearbeiter: Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 612/18, Beschluss v. 27.06.2019, HRRS 2019 Nr. 1046


BGH 1 StR 612/18 - Beschluss vom 27. Juni 2019 (LG Augsburg)

Anordnung der Sicherungsverwahrung (Ermessen des Tatgerichts: einzubeziehende zu erwartende Wirkung eines langjährigen Strafvollzugs, Darstellung im Urteil).

§ 66 Abs. 2 StGB; § 267 Abs. 6 Satz 1 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Beim Ausüben des Ermessens des Tatgerichts über die Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2 StGB sind die Wert- und Zweckvorstellungen des Gesetzes zu beachten. Nach der Vorstellung des Gesetzgebers soll das Tatgericht die Möglichkeit haben, sich ungeachtet der festgestellten Gefährlichkeit des Täters zum Zeitpunkt der Urteilsfällung auf die Verhängung einer Freiheitsstrafe zu beschränken, sofern erwartet werden kann, dass sich dieser die Strafe hinreichend zur Warnung dienen lässt. Damit wird dem Ausnahmecharakter der Vorschrift Rechnung getragen, der sich daraus ergibt, dass Absatz 2 - im Gegensatz zu Absatz 1 - eine frühere Verurteilung und eine frühere Strafverbüßung des Täters nicht voraussetzt.

2. Die Wirkungen eines langjährigen Strafvollzugs sowie die mit dem Fortschreiten des Lebensalters erfahrungsgemäß eintretenden Haltungsänderungen sind deshalb wichtige Kriterien, die nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Rahmen dieser Ermessensentscheidung grundsätzlich zu berücksichtigen sind. Es besteht zwar keine Vermutung dahingehend, dass langjährige, erstmalige Strafverbüßung stets zu einer Verhaltensänderung führen wird. Je länger die verhängte Freiheitsstrafe und je geringer die bisherige Erfahrung des Täters mit Verurteilung und Strafvollzug sind, desto mehr muss sich das Tatgericht aber mit diesen Umständen auseinandersetzen. Von vornherein offenlassen kann es dies jedenfalls nicht (st. Rspr.). Freilich muss eine günstige Prognoseentscheidung auf konkrete Anhaltspunkte und hinreichende Gründe gestützt werden; nur denkbare positive Veränderung und Wirkung künftiger Maßnahmen im Strafvollzug reichen nicht aus.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Augsburg vom 9. Mai 2018 im Ausspruch über die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung aufgehoben.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Jedoch trägt der Angeklagte die in der Revisionsinstanz im Adhäsionsverfahren entstandenen besonderen Kosten und notwendigen Auslagen der Adhäsionsklägerin M. .

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten unter Einbeziehung einer Freiheitsstrafe aus einer anderweitigen Entscheidung wegen Vergewaltigung in fünf Fällen, davon in drei Fällen in Tateinheit mit Freiheitsberaubung, und wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt und dabei die Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt aufrechterhalten. Aufgrund der Zäsurwirkung des anderweitigen Urteils hat es den Angeklagten wegen einer weiteren Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und mit Beleidigung zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt. Daneben hat das Landgericht die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt unter Bestimmung eines Vorwegvollzugs der verhängten Freiheitsstrafen sowie seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Schließlich hat es eine Adhäsionsentscheidung getroffen. Die gegen seine Verurteilung gerichtete Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt, hat mit der Sachrüge den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist sein Rechtsmittel unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

I.

Nach den Feststellungen des Landgerichts vergewaltigte der Angeklagte im Zeitraum von August/Anfang September 2014 bis 31. Oktober 2015 seine damalige Lebenspartnerin, die Nebenklägerin F., in fünf Fällen, dabei in drei Fällen unter Einsatz von Fesselungsmaterial. Bei diesen drei Taten ließ er sie für jeweils mehrere Stunden gefesselt. In der Nacht vom 10. auf den 11. September 2016 vergewaltigte er seine neue Lebenspartnerin, die Neben- und Adhäsionsklägerin M. Der Angeklagte, der eine dissoziale, narzisstische und psychopathische Persönlichkeitsstruktur aufweist sowie zudem alkohol- und betäubungsmittelabhängig ist, hat vor Begehung der hier gegenständlichen Taten keine Strafhaft verbüßen müssen.

II.

Die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung (§ 66 Abs. 2 StGB) hält der sachlichrechtlichen Nachprüfung nicht stand. Zwar hat das Landgericht die formellen und materiellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2, Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchstabe a, Nr. 4 StGB, insbesondere einen Hang des Angeklagten und seine fortbestehende Gefährlichkeit, rechtsfehlerfrei festgestellt. Indes lässt die knappe Begründung der Ermessensentscheidung nicht die revisionsrechtliche Überprüfung zu, ob das Landgericht sein Ermessen rechtsfehlerfrei ausgeübt hat.

1. Die Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 2 StGB liegt im pflichtgemäßen Ermessen des Tatrichters. Die Ermessensausübung unterliegt zwar nur eingeschränkter revisionsrechtlicher Überprüfung. Die Urteilsgründe müssen aber erkennen lassen, dass sich das Tatgericht seiner Entscheidungsbefugnis bewusst war; sie müssen auch nachvollziehbar darlegen, aus welchen Gründen es von ihr in einer bestimmten Weise Gebrauch gemacht hat. Die revisionsrechtliche Überprüfung erstreckt sich dann vor allem darauf, ob der Tatrichter bei der Ermessensausübung von einem zutreffenden rechtlichen und tatsächlichen Ansatz ausgegangen ist (BGH, Beschlüsse vom 4. August 2009 - 1 StR 300/09 Rn. 22, BGHR StGB § 66 Abs. 2 Ermessensausübung 1 und vom 11. September 2003 - 3 StR 481/02 Rn. 6).

Beim Ausüben des Ermessens sind die Wert- und Zweckvorstellungen des Gesetzes zu beachten. Nach der Vorstellung des Gesetzgebers soll das Tatgericht die Möglichkeit haben, sich ungeachtet der festgestellten Gefährlichkeit des Täters zum Zeitpunkt der Urteilsfällung auf die Verhängung einer Freiheitsstrafe zu beschränken, sofern erwartet werden kann, dass sich dieser die Strafe hinreichend zur Warnung dienen lässt. Damit wird dem Ausnahmecharakter der Vorschrift Rechnung getragen, der sich daraus ergibt, dass Absatz 2 - im Gegensatz zu Absatz 1 - eine frühere Verurteilung und eine frühere Strafverbüßung des Täters nicht voraussetzt. Die Wirkungen eines langjährigen Strafvollzugs sowie die mit dem Fortschreiten des Lebensalters erfahrungsgemäß eintretenden Haltungsänderungen sind deshalb wichtige Kriterien, die nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Rahmen dieser Ermessensentscheidung grundsätzlich zu berücksichtigen sind. Es besteht zwar keine Vermutung dahingehend, dass langjährige, erstmalige Strafverbüßung stets zu einer Verhaltensänderung führen wird. Je länger die verhängte Freiheitsstrafe und je geringer die bisherige Erfahrung des Täters mit Verurteilung und Strafvollzug sind, desto mehr muss sich das Tatgericht aber mit diesen Umständen auseinandersetzen. Von vornherein offenlassen kann es dies jedenfalls nicht (st. Rspr.; BGH, Beschlüsse vom 4. August 2009 - 1 StR 300/09 Rn. 24; vom 13. September 2011 - 5 StR 189/11 Rn. 19; vom 25. Mai 2011 - 4 StR 164/11 Rn. 6; vom 5. April 2011 - 3 StR 12/11 Rn. 10 und vom 11. September 2003 - 3 StR 481/02 Rn. 7 f.; Urteil vom 19. Februar 2013 - 1 StR 275/12 Rn. 34). Freilich muss eine günstige Prognoseentscheidung auf konkrete Anhaltspunkte und hinreichende Gründe gestützt werden; nur denkbare positive Veränderung und Wirkung künftiger Maßnahmen im Strafvollzug reichen nicht aus (BGH, Urteil vom 3. Februar 2011 - 3 StR 466/10 Rn. 14 mwN).

2. Diesen Anforderungen an die Begründung einer Ermessensentscheidung wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Das Landgericht hat seine Entscheidung allein auf eine Bezugnahme auf seine Begründung der Anordnungsvoraussetzungen, der Vollstreckungsreihenfolge der beiden verhängten Maßregeln (§ 72 Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 StGB), das strafrechtliche Vorleben des Angeklagten, seine Persönlichkeit und die Schwere der Anlasstaten gestützt. Das Landgericht hat unerörtert gelassen, wie sich der Strafvollzug auf den 32-jährigen Angeklagten und seine Dissozialität auswirken könnte. Es hätte sich auch damit auseinandersetzen müssen, dass der Angeklagte in dieser Sache erstmals Strafhaft verbüßt.

3. Die Feststellungen sind von dem hier allein vorliegenden Erörterungsmangel nicht betroffen und können daher bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO; vgl. BGH, Beschluss vom 12. Mai 2016 - 1 StR 103/16 Rn. 5). Ergänzende Feststellungen der nach Zurückverweisung zur Entscheidung berufenen Kammer, die den bisherigen nicht widersprechen, sind möglich.

HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 1046

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2020, 15; StV 2020, 12

Bearbeiter: Christoph Henckel