HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 106
Bearbeiter: Holger Mann
Zitiervorschlag: BVerfG, 1 BvR 1182/24, Beschluss v. 16.01.2025, HRRS 2025 Nr. 106
1. Das Urteil des Amtsgerichts Mönchengladbach vom 8. Oktober 2020 - 49 Cs-110 Js 8953/19-163/20 -, das Urteil des Landgerichts Mönchengladbach vom 23. Mai 2023 - 26 Ns-110 Js 8953/19-153/20 - und der Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 27. März 2024 - III-4 ORs 30/24 - verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes.
2. Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht Mönchengladbach zurückverwiesen.
3. Das Land Nordrhein-Westfalen hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
4. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 25.000 Euro (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft ein strafrechtliches Ausgangsverfahren, in dem die Beschwerdeführerin wegen Beleidigung in vier Fällen zu einer Geldstrafe verurteilt worden ist.
1. Nach den fachgerichtlichen Feststellungen führte die in Polen geborene Beschwerdeführerin, die über die deutsche Staatsangehörigkeit verfügt, im Jahr 2019 einen Rechtsstreit mit einer Versicherung. Sie beauftragte einen Rechtsanwalt mit ihrer rechtlichen Vertretung. Die Beschwerdeführerin war mit den durch den Rechtsanwalt erbrachten Leistungen nicht zufrieden und bemängelte insbesondere, dass er nicht schnell genug arbeite. Zudem ging sie von einer fehlerhaften Abrechnung zu ihren Lasten aus. Infolge dieser Unzufriedenheit schrieb die Beschwerdeführerin dem Rechtsanwalt am 31. Juli 2019 gegen 13:32 Uhr eine E-Mail, in der es heißt: „Ich habe das Gefühl, dass sie bauen mir absichtlich die Schaden“. Am 2. August 2019 gegen 21:45 Uhr schrieb sie ihm: „Sie bauen mir absichtlich Schaden“. Am 26. September 2019 gegen 17:47 Uhr schrieb sie ihm: „Weil sie mich mit Ihrem Gelderschleichen versuchen zu betrogen (…)“. Am 8. Oktober 2019 gegen 23:02 Uhr schrieb sie ihm: „jetzt werden wir ihre Betrug klären, ihre Inkompetenz (…)“.
2. Für diese Äußerungen wurde die - bis dahin nicht vorbestrafte - Beschwerdeführerin, die nach den fachgerichtlichen Feststellungen im Jahr 2020 als Haushaltshilfe arbeitete, durch das Amtsgericht wegen Beleidigung (§ 185 StGB) in vier Fällen zu einer Gesamtgeldstrafe von 50 Tagessätzen zu je 30 € verurteilt. Zur Begründung führte das Amtsgericht aus, dass die Beschwerdeführerin die vorgenannten E-Mails geschrieben habe, um den Geschädigten in seiner Ehre und insbesondere in seiner Berufsehre als Anwalt zu verletzen und herabzuwürdigen. Die Beschwerdeführerin habe den Geschädigten absichtlich eines strafbaren Verhaltens bezichtigt, indem sie ihm unterstellt habe, er arbeite absichtlich gegen seine Mandanten. Obgleich die Beschwerdeführerin den Geschädigten bei der Anwaltskammer gemeldet habe, habe diese kein Vergehen des Geschädigten der Beschwerdeführerin gegenüber feststellen können. Die Beschwerdeführerin habe den Geschädigten durch das Schreiben der Nachrichten beleidigt gemäß § 185 StGB. Tatbestandsmäßig sei die Äußerung der Missachtung oder Nichtachtung einer Person. Bloße Unhöflichkeiten, Distanzlosigkeiten oder Persönlichkeitsverletzungen ohne abwertenden Charakter genügten hierfür nicht. Im vorliegenden Fall habe die Beschwerdeführerin den Geschädigten eines strafbaren Verhaltens bezichtigt, welches dieser anlässlich seiner Berufsausübung begangen habe solle. Sie habe den Geschädigten damit nicht nur krimineller Absichten, sondern auch einer absichtlichen Verletzung der strafrechtlich und standesrechtlich besonders geschützten Pflichten aus dem Mandatsverhältnis bezichtigt. Dies sei ein eindeutiges Zeichen von Missachtung mit stark abwertendem Charakter. Die Äußerungen der Beschwerdeführerin seien dabei auch nicht durch ihre Unzufriedenheit im Rahmen des Mandatsverhältnisses gedeckt gewesen. Der Beschwerdeführerin wäre es unbenommen gewesen, die Ergebnislosigkeit der Bemühungen des Geschädigten auf nicht beleidigende Weise zu kritisieren.
3. Die hiergegen gerichtete Berufung der - nach den fachgerichtlichen Feststellungen mittlerweile arbeitslosen und von Hartz IV lebenden - Beschwerdeführerin wurde durch das Landgericht als unbegründet verworfen. Das Landgericht wiederholte hierbei wortwörtlich die Urteilsbegründung des Amtsgerichts und ergänzte lediglich bei den Strafzumessungserwägungen, dass bei der Bildung der „Gesamtfreiheitsstrafe“ insbesondere der zeitliche und sachliche Zusammenhang der Taten berücksichtigt worden sei.
4. Das Oberlandesgericht verwarf die Revision der Beschwerdeführerin als unbegründet. Zur Begründung führte das Oberlandesgericht formelhaft aus, dass die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Beschwerdeführerin ergeben habe.
5. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde greift die Beschwerdeführerin die Entscheidungen aller drei Instanzen an und rügt die Verletzung ihres Grundrechts auf freie Meinungsäußerung aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.
1. Dem Ministerium der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Es hat sich innerhalb der gesetzten Frist nicht geäußert.
2. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben der Kammer vorgelegen.
Die Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung angenommen. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden (vgl. BVerfGE 61, 1 <7 ff.>; 90, 241 <246 ff.>; 93, 266 <292 ff.>). Dies gilt namentlich für den Einfluss des Grundrechts auf Meinungsfreiheit bei Auslegung und Anwendung der grundrechtsbeschränkenden Vorschriften der §§ 185 ff. StGB (vgl. BVerfGE 82, 43 <50 ff.>; 85, 23 <30 ff.>; 93, 266 <292 ff.>).
1. Die Verfassungsbeschwerde ist danach zulässig und im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG offensichtlich begründet. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.
a) Die strafrechtliche Verurteilung der Beschwerdeführerin wegen Beleidigung greift in ihre Meinungsfreiheit ein.
aa) Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG schützt die Verbreitung von Meinungen und Tatsachen ohne Rücksicht auf Form und Kommunikationsmittel (vgl. BVerfGE 152, 152 <193 Rn. 94>). Grundrechtlich geschützt sind damit insbesondere Werturteile, also Äußerungen, die durch ein Element der Stellungnahme gekennzeichnet sind. Dies gilt zunächst ungeachtet des womöglich ehrschmälernden Gehalts einer Äußerung. Dass eine Aussage polemisch oder verletzend formuliert ist, entzieht sie nicht dem Schutzbereich des Grundrechts (vgl. BVerfGE 54, 129 <138 f.>; 61, 1 <7 f.>; 93, 266 <289 f.>). Die Behauptung einer Tatsache ist streng genommen zwar keine Meinungsäußerung, fällt aber gleichwohl in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit, weil und soweit sie Voraussetzung für die Bildung von Meinungen ist, welche Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG in seiner Gesamtheit gewährleistet (vgl. BVerfGE 61, 1 <8>; 90, 241 <247>; 94, 1 <7>). Der Schutz von Tatsachenbehauptungen endet erst dort, wo sie zur Meinungsbildung nichts beitragen können, so dass nur die bewusst oder erwiesen unwahre Tatsachenbehauptung nicht vom Schutz der Meinungsfreiheit umfasst wird (vgl. BVerfGE 54, 208 <219>; 61, 1 <8>; 90, 241 <247 f.>).
bb) Die Beschwerdeführerin positioniert sich mit dem Vorwurf, der Rechtsanwalt „baue“ ihr „absichtlich Schaden“, „betrüge“ sie und sei „inkompetent“, zur Mandatsführung des ihr vertraglich verbundenen Rechtsanwalts und auch zu dessen Person. Die strafrechtliche Sanktion knüpft an diese in den Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG fallenden Äußerungen an.
b) Dieser Eingriff in das Grundrecht der Beschwerdeführerin aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG ist verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt.
aa) Nach Art. 5 Abs. 2 GG findet das Grundrecht der Meinungsfreiheit seine Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze. Dazu gehört auch § 185 StGB (vgl. BVerfGE 93, 266 <290 ff.>), auf den sich die angegriffenen Entscheidungen stützen. Auslegung und Anwendung der Strafvorschriften ist grundsätzlich Sache der Strafgerichte. Das Bundesverfassungsgericht ist auf die Klärung beschränkt, ob das Strafgericht die wertsetzende Bedeutung des Grundrechts verkannt hat (vgl. BVerfGE 7, 198 <208 f.>; 93, 266 <292>; stRspr).
(1) Bei Anwendung der Strafvorschriften auf die Äußerung im konkreten Fall verlangt Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG zunächst eine der Meinungsfreiheit gerecht werdende Ermittlung des Sinns der infrage stehenden Äußerung (vgl. BVerfGE 93, 266 <295 f.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 29. Juni 2016 - 1 BvR 2732/15 -, Rn. 12 f.). Mit Blick hierauf kann bei Äußerungsdelikten eine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts bereits dadurch begründet sein, dass der Sinn der Äußerung nicht zutreffend erfasst worden ist (vgl. BVerfGE 93, 266 <295 f.>; 94, 1 <9>).
(a) Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen bei der Deutung einer Äußerung gehört, dass sie unter Einbeziehung ihres Kontextes ausgelegt und ihr kein Sinn zugemessen wird, den sie objektiv nicht haben kann. Maßgeblich für die Deutung einer Äußerung ist weder die subjektive Absicht der sich Äußernden noch das subjektive Verständnis der von der Äußerung Betroffenen, sondern grundsätzlich der Sinn, den sie nach dem Verständnis eines unvoreingenommenen und verständigen Durchschnittspublikums hat (vgl. BVerfGE 93, 266 <295>; 114, 339 <348>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 19. Dezember 2021 - 1 BvR 1073/20 -, Rn. 28; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. April 2024 - 1 BvR 820/24 -, Rn. 15). Dabei ist stets vom Wortlaut der Äußerung auszugehen. Dieser legt ihren Sinn aber nicht abschließend fest. Er wird vielmehr auch von dem sprachlichen Kontext, in dem die umstrittene Äußerung steht, und den Begleitumständen, unter denen sie fällt, bestimmt, soweit diese für die Rezipienten erkennbar waren (BVerfGE 93, 266 <295>). Hingegen wird die isolierte Betrachtung eines umstrittenen Äußerungsteils den Anforderungen an eine zuverlässige Sinnermittlung regelmäßig nicht gerecht (vgl. BVerfGE 93, 266 <295>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 11. April 2024 - 1 BvR 2290/23 -, Rn. 31 m.w.N.).
(b) Auch ist im Einzelfall eine Trennung der tatsächlichen und der wertenden Bestandteile einer Äußerung nur zulässig, wenn dadurch ihr Sinn nicht verfälscht wird. Wo dies nicht möglich ist, muss die Äußerung im Interesse eines wirksamen Grundrechtsschutzes insgesamt als Meinungsäußerung angesehen werden, weil andernfalls eine wesentliche Verkürzung des Grundrechtsschutzes drohte (vgl. BVerfGE 61, 1 <9>; 90, 241 <248>). Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit sind auch dann verkannt, wenn eine Äußerung unzutreffend als Tatsachenbehauptung, Formalbeleidigung oder Schmähkritik eingestuft wird mit der Folge, dass sie dann nicht im selben Maß am Schutz des Grundrechts teilnimmt wie Äußerungen, die als Werturteil ohne beleidigenden oder schmähenden Charakter anzusehen sind (vgl. BVerfGE 85, 1 <14>; 93, 266 <294>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. April 2024 - 1 BvR 820/24 -, Rn. 17).
(c) Den verfassungsgerichtlichen Anforderungen an eine zuverlässige Sinnermittlung ist auch dann nicht genügt, wenn ein Gericht bei mehrdeutigen Äußerungen die zur Verurteilung führende Bedeutung zugrunde legt, ohne vorher die anderen möglichen Deutungen mit schlüssigen Gründen ausgeschlossen zu haben (vgl. BVerfGE 82, 43 <52>; 93, 266 <295 f.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 24. Januar 2018 - 1 BvR 2465/13 -, Rn. 19). Dabei braucht das Gericht freilich nicht auf entfernte, weder durch den Wortlaut noch die Umstände der Äußerung gestützte Alternativen einzugehen oder gar abstrakte Deutungsmöglichkeiten zu entwickeln, die in den konkreten Umständen keinerlei Anhaltspunkte finden. Lassen Formulierungen oder Umstände jedoch eine nicht ehrenrührige Deutung zu, so verstößt ein Strafurteil, das diese übergangen hat, gegen Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG (BVerfGE 93, 266 <296>). Dabei muss auch bedacht werden, dass manche Worte oder Begriffe in unterschiedlichen Kommunikationszusammenhängen verschiedene Bedeutungen haben können. Das ist unter anderem bei Begriffen der Fall, die in der juristischen Fachterminologie in anderem Sinn benutzt werden als in der Umgangssprache. Es ist daher ebenfalls ein verfassungsrechtlich erheblicher Fehler, wenn der Verurteilung der fachspezifische Sinn zugrunde gelegt wird, obwohl die Äußerung in einem umgangssprachlichen Zusammenhang gefallen ist (vgl. BVerfGE 7, 198 <227>; 85, 1 <19>; 93, 266 <296>).
(d) Die vorgenannten Anforderungen, die Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG an die Sinnermittlung von Äußerungen richtet, unterliegen der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht, und zwar besonders dann, wenn es sich - wie hier - um einen intensiven Grundrechtseingriff in Form eines Strafurteils handelt (vgl. BVerfGE 93, 266 <296> m.w.N.). Im Übrigen bleibt es bei der alleinigen Zuständigkeit der Fachgerichte. Im Zusammenhang mit Äußerungsdelikten betrifft das Fragen wie die, ob die umstrittene Äußerung tatsächlich gefallen ist, welchen Wortlaut sie hatte, von wem sie stammte und unter welchen Umständen sie abgegeben wurde, zumal wenn die Feststellungen auf der Einmaligkeit des Gesamteindrucks der mündlichen Verhandlung beruhen (vgl. BVerfGE 43, 130 <137>; 93, 266 <296>).
(2) Aufbauend auf der Sinnermittlung der in Frage stehenden Äußerung erfordert das Grundrecht der Meinungsfreiheit als Voraussetzung einer strafgerichtlichen Verurteilung nach § 185 StGB im Normalfall eine abwägende Gewichtung der Beeinträchtigungen, die der persönlichen Ehre als Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts auf der einen und der Meinungsfreiheit auf der anderen Seite drohen (vgl. BVerfGE 7, 198 <212>; 85, 1 <16>; 93, 266 <293>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. April 2024 - 1 BvR 820/24 -, Rn. 14; stRspr). Eine Verurteilung kann ausnahmsweise auch ohne eine solche Abwägung gerechtfertigt sein, wenn es sich um Äußerungen handelt, die sich als Angriff auf die Menschenwürde, Formalbeleidigung oder Schmähung darstellen (vgl. BVerfGE 82, 43 <51>; 85, 1 <16>; 90, 241 <248>; 93, 266 <293 f.>; 99, 185 <196>; stRspr). Dabei handelt es sich um Ausnahmekonstellationen, an deren Vorliegen jeweils strenge Kriterien anzulegen sind (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 19. Mai 2020 - 1 BvR 2397/19 -, Rn. 17 ff.).
(3) Liegt keine dieser eng umgrenzten Ausnahmekonstellationen vor, begründet dies bei Äußerungen, mit denen bestimmte Personen in ihrer Ehre herabgesetzt werden, kein Indiz für einen Vorrang der Meinungsfreiheit. Voraussetzung einer strafrechtlichen Sanktion ist dann allerdings - wie es der Normalfall für den Ausgleich von Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht ist - eine grundrechtlich angeleitete Abwägung, die an die wertungsoffenen Tatbestandsmerkmale und Strafbarkeitsvoraussetzungen des Strafgesetzbuchs, insbesondere die Begriffe der „Beleidigung“ und der „Wahrnehmung berechtigter Interessen“, anknüpft (vgl. BVerfGE 12, 113 <124 ff.>; 90, 241 <248>; 93, 266 <290>). Hierfür bedarf es einer umfassenden Auseinandersetzung mit den konkreten Umständen des Einzelfalls und der Situation, in der die Äußerung erfolgte (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 19. Dezember 2021 - 1 BvR 1073/20 -, Rn. 30).
(4) Das Ergebnis der von den Fachgerichten vorzunehmenden Abwägung ist verfassungsrechtlich nicht vorgegeben (vgl. BVerfGE 85, 1 <16>; 99, 185 <196>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 19. Dezember 2021 - 1 BvR 1073/20 -, Rn. 30; stRspr). Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts ist es lediglich zu überprüfen, ob die Fachgerichte dabei Bedeutung und Tragweite der durch die strafrechtliche Sanktion betroffenen Meinungsfreiheit ausreichend berücksichtigt und innerhalb des ihnen zustehenden Wertungsrahmens die jeweils für den Einzelfall erheblichen Abwägungsgesichtspunkte identifiziert und ausreichend in Rechnung gestellt haben. Zu den hierbei zu berücksichtigenden Umständen können insbesondere Inhalt, Form, Anlass und Wirkung der betreffenden Äußerung sowie Person und Anzahl der Äußernden, der Betroffenen und der Rezipienten gehören (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f.>; 93, 266 <296>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 16. Oktober 2020 - 1 BvR 1024/19 -, Rn. 17).
(a) Von Bedeutung ist für die insoweit gebotene Abwägung unter anderem, ob die Äußerung lediglich eine private Auseinandersetzung zur Verfolgung von Eigeninteressen betrifft oder ob von der Meinungsfreiheit im Zusammenhang mit einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage Gebrauch gemacht wird. Handelt es sich bei der umstrittenen Äußerung um einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung, so spricht eine Vermutung zu Gunsten der Freiheit der Rede (vgl. BVerfGE 7, 198 <212>; 93, 266 <294>). Allerdings beschränkt sich die Meinungsfreiheit nicht allein auf die Gewährleistung eines geistigen Meinungskampfs in öffentlichen Angelegenheiten. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG kann nicht auf ein rein funktionales Verständnis zur Förderung einer öffentlichen Debatte mit Gemeinbezug reduziert werden. Vielmehr ist das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung als subjektive Freiheit des unmittelbaren Ausdrucks der menschlichen Persönlichkeit ein grundlegendes Menschenrecht (vgl. BVerfGE 7, 198 <208>; 12, 113 <125>). Die Meinungsfreiheit ist als individuelles Freiheitsrecht folglich auch um ihrer Privatnützigkeit willen gewährleistet und umfasst nicht zuletzt die Freiheit, die persönliche Wahrnehmung von Ungerechtigkeiten in subjektiver Emotionalität in die Welt zu tragen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 10. März 2016 - 1 BvR 2844/13 -, Rn. 24).
(b) Mit Blick auf Form und Begleitumstände einer Äußerung kann nach den Umständen des Falles insbesondere erheblich sein, ob sie ad hoc in einer hitzigen Situation oder im Gegenteil mit längerem Vorbedacht gefallen ist. Der grundrechtliche Schutz der Meinungsfreiheit als unmittelbarer Ausdruck der Persönlichkeit (vgl. BVerfGE 12, 113 <125>) impliziert - in den Grenzen zumutbarer Selbstbeherrschung - die rechtliche Anerkennung menschlicher Subjektivität (vgl. BVerfGE 33, 1 <14 f.>) und damit auch von Emotionalität und Erregbarkeit (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 19. Mai 2020 - 1 BvR 2397/19 -, Rn. 33; und vom 19. Dezember 2021 - 1 BvR 1073/20 -, Rn. 36; vom 9. Februar 2022 - 1 BvR 2588/20 -, Rn. 27, und vom 21. März 2022 - 1 BvR 2650/19 -, Rn. 22).
(c) Abwägungsrelevant kann ferner sein, ob dem Äußernden aufgrund seiner beruflichen Stellung, Bildung und Erfahrung zuzumuten ist, auch in besonderen Situationen - beispielsweise gerichtlichen und behördlichen Verfahren - die äußerungsrechtlichen Grenzen zu kennen und zu wahren. In diesem Zusammenhang ist ebenfalls erheblich, ob und inwieweit für die betreffende Äußerung ein konkreter und nachvollziehbarer Anlass bestand oder ob sie aus nichtigen oder vorgeschobenen Gründen getätigt wurde (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 19. Mai 2020 - 1 BvR 2397/19 -, Rn. 33, und vom 9. Februar 2022 - 1 BvR 2588/20 -, Rn. 27). Hierbei ist auch der Gesichtspunkt des sogenannten „Kampfs um das Recht“ zu berücksichtigen. Danach ist es im Kontext rechtlicher Auseinandersetzungen grundsätzlich erlaubt, besonders starke und eindringliche Ausdrücke zu benutzen, um Rechtspositionen und Anliegen zu unterstreichen (vgl. BVerfGE 76, 171 <192>; BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 19. Mai 2020 - 1 BvR 2397/19 -, Rn. 33, und vom 9. Februar 2022 - 1 BvR 2588/20 -, Rn. 27).
(d) Ferner ist bei der Abwägung die konkrete Verbreitung und Wirkung einer Äußerung in Rechnung zu stellen. Maßgeblich hierfür sind Form und Begleitumstände der Kommunikation. Erhält nur ein kleiner Kreis von Personen von einer ehrbeeinträchtigenden Äußerung Kenntnis oder handelt es sich um eine nicht schriftlich oder anderweitig perpetuierte Äußerung, ist die damit verbundene Beeinträchtigung der persönlichen Ehre geringfügiger und flüchtiger als im gegenteiligen Fall. Demgegenüber ist die beeinträchtigende Wirkung einer Äußerung beispielsweise gesteigert, wenn sie in wiederholender und anprangernder Weise (vgl. BVerfGK 8, 107 <116>), etwa unter Nutzung von Bildnissen des Betroffenen, oder besonders sichtbar in einem der allgemeinen Öffentlichkeit zugänglichen Medium getätigt wird (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 9. Februar 2022 - 1 BvR 2588/20 -, Rn. 28).
(e) Diese dargelegten Gesichtspunkte, die für die konkrete Abwägung relevant sein können, müssen dabei nicht in jedem Fall in ihrer Gesamtheit „abgearbeitet“ werden. Vielmehr ist es Aufgabe der Fachgerichte, aufgrund der Umstände des Einzelfalls die je abwägungsrelevanten Gesichtspunkte herauszuarbeiten und miteinander abzuwägen. Je nach den Umständen kann eine recht knappe Abwägung ausreichen. Maßgeblich ist, dass die konkrete Situation der Äußerung erfasst und unter Berücksichtigung der auf beiden Seiten betroffenen Grundrechte hinreichend gewürdigt wird (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 19. Mai 2020 - 1 BvR 2397/19 -, Rn. 35, und vom 21. März 2022 - 1 BvR 2650/19 -, Rn. 24).
bb) Diesen verfassungsgerichtlichen Maßstäben genügen die angegriffenen Entscheidungen nicht.
(1) Die Gerichte lassen bereits nicht erkennen, ob sie ihre rechtliche Würdigung auf die Annahme einer Tatsachenbehauptung oder einer Meinungsäußerung der Beschwerdeführerin stützen. Damit verfehlen die Gerichte zugleich die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die - weichenstellende - Sinnermittlung der beanstandeten Äußerungen. Die von den Tatsacheninstanzen verwendete Formulierung, die Beschwerdeführerin habe den Rechtsanwalt absichtlich eines strafbaren Verhaltens bezichtigt, deutet die Annahme einer Tatsachenbehauptung an. Die Gerichte setzen sich insoweit aber nicht damit auseinander, dass die Äußerung, jemand begehe einen „Betrug“, abhängig vom Gesamtkontext durch Elemente der Stellungnahme, des Dafürhaltens oder Meinens geprägt sein und deshalb in vollem Umfang am Schutz des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG teilnehmen kann. Die Gerichte benennen schon nicht den Maßstab zur Ermittlung des Aussagegehalts. Auch wird nicht begründet, warum die Verwendung eines sowohl in der Umgangssprache als auch in der juristischen Fachsprache gebräuchlichen Begriffs im konkreten Fall als Vorwurf der Verwirklichung eines rechtlich präzise bestimmten Straftatbestands zu verstehen war. Insbesondere erfolgt keine nachvollziehbare Einordnung in den Kontext. Gleiches gilt für den von der Beschwerdeführerin verwendeten Begriff des „Gelderschleichens“ sowie die - grammatikalisch fehlerhafte und sprachlich ersichtlich ungelenke - Äußerung, der Rechtsanwalt „baue“ der Beschwerdeführerin „Schaden“. Auch insoweit versäumen die Gerichte eine den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügende Sinnermittlung der Äußerungen.
(2) Zur Aufhebung der angegriffenen Entscheidungen muss zudem der - praktisch vollständige - Abwägungsausfall führen, durch den das Grundrecht der Meinungsfreiheit der Beschwerdeführerin offensichtlich verletzt wird.
(a) Eine die Meinungsfreiheit der Beschwerdeführerin berücksichtigende Abwägung war hier nicht unter dem Gesichtspunkt der Schmähung oder Formalbeleidigung entbehrlich. Die Gerichte scheinen selbst nicht von dem Vorliegen dieser eng begrenzten Ausnahmekonstellationen ausgegangen zu sein. Jedenfalls fehlt insoweit jegliche Begründung. Ungeachtet dessen wäre die Annahme einer Schmähung oder Formalbeleidigung im Streitfall fernliegend. Die beanstandeten Äußerungen erfolgten bei der für eine Einordnung als Schmähkritik maßgeblichen Gesamtbetrachtung ersichtlich im Kontext eines zwischen der Beschwerdeführerin und dem Rechtsanwalt bestehenden Vertragsverhältnisses und der Kritik der Beschwerdeführerin an dessen Mandatsführung. Insofern entbehrten die Äußerungen nicht jedes sachlichen Bezugs. Auch zeichnen sie sich weder durch eine besonders gehässige Form aus, noch verwendete die Beschwerdeführerin schwerwiegende Schimpfwörter, die als Formalbeleidigung eingestuft werden könnten (vgl. zu diesen Kriterien etwa BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 16. Oktober 2020 - 1 BvR 2805/19 -, Rn. 20).
(b) Um zu einer verfassungsrechtlich tragfähigen Verurteilung gemäß § 185 StGB zu gelangen, wäre daher eine kontextspezifische Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit der Beschwerdeführerin und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des von den Äußerungen betroffenen Rechtsanwalts erforderlich gewesen. Dabei wären bei der Einstufung der inkriminierten Äußerungen als ehrherabsetzender und strafbewehrter Ausdruck der Missachtung des Betroffenen die konkreten Umstände des Falls, insbesondere die Veranlassung durch die Mandatsführung des Betroffenen, die fehlende Breitenwirkung der nur bilateral erfolgten Äußerungen und die Betroffenheit der Beschwerdeführerin durch den Verlauf des versicherungsrechtlichen Rechtsstreits zu berücksichtigen gewesen. Abwägungsrelevant wäre ferner die Frage gewesen, ob es der Beschwerdeführerin aufgrund ihrer beruflichen Stellung und Bildung zuzumuten war, mit Blick auf den Verlauf des versicherungsrechtlichen Rechtsstreits und ihrer Abhängigkeit von dem Fachwissen des betroffenen Rechtsanwalts die äußerungsrechtlichen Grenzen zu kennen und zu wahren. Insoweit drängte sich als abwägungsrelevanter Aspekt auch die Frage nach dem Sprach- und Ausdrucksvermögen der Beschwerdeführerin auf.
Die nach den vorstehenden Ausführungen gebotene Abwägung kommt in den angegriffenen Entscheidungen nicht zum Ausdruck. Vielmehr fehlt es bereits an gehaltvollen fachgerichtlichen Feststellungen, die Voraussetzung einer solchen kontextspezifischen Würdigung sind und ohne die sich die fachgerichtliche Einordnung der Äußerungen einer insbesondere verfassungsrechtlichen Überprüfung weitgehend entzieht (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 16. Oktober 2020 - 1 BvR 2805/19 -, Rn. 21). Die Gerichte haben insbesondere keine Feststellungen dazu getroffen, wie der von den Äußerungen betroffene Rechtsanwalt - inhaltlich und zeitlich - das Mandat geführt hat und welche seiner konkreten Handlungen oder Unterlassungen von der Beschwerdeführerin beanstandet und später von der Anwaltskammer überprüft worden sind. Die in den fachgerichtlichen Urteilen enthaltenen Ausführungen, wonach es der Beschwerdeführerin unbenommen gewesen wäre, den Betroffenen auf nicht beleidigende Weise zu kritisieren, beschränken sich auf einen Zirkelschluss und vermögen eine grundrechtlich angeleitete Abwägung nicht zu ersetzen.
cc) Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf der Verkennung der Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Es ist nicht auszuschließen, dass die Gerichte bei Berücksichtigung der grundrechtlichen Anforderungen zu einem anderen Ergebnis gekommen wären.
2. Die angegriffenen Urteile des Amtsgerichts und Landgerichts sowie der Beschluss des Oberlandesgerichts, der sich die rechtliche Würdigung der Vorinstanzen zu eigen gemacht hat, sind demnach gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht zurückzuverweisen.
3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 106
Bearbeiter: Holger Mann