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HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 232

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 1756/23, Beschluss v. 17.01.2024, HRRS 2024 Nr. 232


BVerfG 2 BvR 1756/23 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 17. Januar 2024 (Schleswig-Holsteinisches OLG / LG Itzehoe / AG Itzehoe)

Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus (besonderes Beschleunigungsgebot in Haftsachen im gerichtlichen Zwischenverfahren; fehlende Eröffnungsentscheidung fünf Monate nach Anklageerhebung und vier Monate nach Eröffnungsreife; keine Rechtfertigung durch Schwere der Tat oder unvorhersehbare, ungewöhnlich hohe Belastung der Strafkammer; kein Zuwarten mit der Eröffnungsentscheidung mangels verfügbarer Hauptverhandlungstermine); Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (Erfordernis der Anhörungsrüge auch bei Geltendmachung eines anderen Grundrechtsverstoßes; Verstoß gegen das Recht auf rechtliches Gehör bei fehlender Bescheidung des Kerns des Parteivorbringens).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 103 Abs. 1 GG; Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG; § 90 Abs. 2 BVerfGG; § 33a StPO; § 121 StPO; § 122 Abs. 1 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Eine Strafkammer fördert ein bei ihr anhängiges Verfahren nicht mit einer dem besonderen Beschleunigungsgebot in Haftsachen gerecht werdenden Zügigkeit, wenn sie trotz Ablaufs von mehr als fünf Monaten seit Anklageerhebung und mehr als vier Monate nach Eintritt der Eröffnungsreife noch nicht über die Eröffnung des Hauptverfahrens entschieden hat und insoweit lediglich auf eine unvorhersehbare, ungewöhnlich hohe Belastung mit anderen Haftsachen verweist.

2. Das Gewicht der zu ahndenden Straftat kann die Fortdauer der Untersuchungshaft allenfalls bei einer geringfügigen Verfahrensverzögerung rechtfertigen. Bei der Überlastung des Gerichts handelt es sich um einen in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft und nicht des Angeklagten fallenden Umstand; jedenfalls bei einer nicht nur kurzfristigen Überlastung kann es auf deren Vorhersehbarkeit nicht ankommen.

3. Allein die Üblichkeit, die Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens zeitgleich mit der Terminierung der Hauptverhandlung vorzunehmen, kann eine Verzögerung der Eröffnungsentscheidung nicht rechtfertigen, nur weil eine Terminierung noch nicht möglich ist.

4. Zur Wahrung des Grundsatzes der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde ist ein Beschwerdeführer gehalten, eine unter Verletzung seines Rechts auf rechtliches Gehör ergangene Entscheidung zunächst mit einer Anhörungsrüge anzugreifen. Dies gilt auch dann, wenn der Beschwerdeführer zwar keinen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG rügen will, durch die Anhörungsrüge aber die Möglichkeit wahrt, dass damit auch die geltend gemachten Grundrechtsverletzungen beseitigt werden.

5. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass ein Gericht seiner aus Art. 103 Abs. 1 GG folgenden Verpflichtung, das Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, nachgekommen ist, auch wenn es sich in den Entscheidungsgründen nicht ausdrücklich damit befasst. Schweigt eine Entscheidung jedoch zum Kern des Parteivorbringens, der für den Verfahrensausgang eindeutig von entscheidender Bedeutung ist, so lässt dies den Schluss zu, dass der Vortrag nicht beachtet worden ist.

Entscheidungstenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos (§ 40 Abs. 3 GOBVerfG).

Gründe

Der Beschwerdeführer begehrt die Aufhebung des Haftbefehls des Amtsgerichts Itzehoe sowie der Haftfortdauerentscheidung des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts im ersten Haftprüfungstermin.

I.

1. Der 37-jährige Beschwerdeführer mit Wohnsitz in Spanien befindet sich seit dem 4. Mai 2023 aufgrund des auf Fluchtgefahr gestützten Haftbefehls des Amtsgerichts Itzehoe vom 25. Juni 2021 ununterbrochen in Untersuchungshaft. Nach dem Haftbefehl ist der Beschwerdeführer dringend verdächtig, in 14 tatmehrheitlichen Fällen, davon in vier Fällen gemeinschaftlich handelnd, jeweils unerlaubt mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge Handel getrieben und davon in drei Fällen Betäubungsmittel in nicht geringer Menge eingeführt zu haben. Der dringende Tatverdacht beruht auf der Auswertung von sogenannten „Encro-Chat“-Daten.

2. Die Staatsanwaltschaft hat wegen des dem Haftbefehl zugrunde liegenden Sachverhalts am 31. Mai 2023 Anklage zum Landgericht Itzehoe erhoben. Mit Verfügung vom 26. Oktober 2023 legte der Vorsitzende der zuständigen großen Strafkammer die Akten dem Oberlandesgericht zur Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft nach § 121, § 122 Abs. 1 StPO vor. Zur Begründung führte der Vorsitzende aus, die Kammer sei aufgrund einer vorübergehenden Überlastung durch andere Haftsachen, insbesondere vier bereits vor der Anklage in dieser Sache eingegangene umfangreiche Schwurgerichtsverfahren, bereits rein terminlich an der Durchführung einer Hauptverhandlung vor Fristablauf gehindert. Eine Eröffnungsentscheidung sei insbesondere auch deshalb zurückgestellt worden, weil eine Terminierung der Hauptverhandlung in diesem Jahr nicht durchführbar erschienen sei. Der Beginn der Hauptverhandlung sei ab dem 23. Januar 2024 vorgesehen.

3. Im Haftprüfungsverfahren beantragte der Verteidiger des Beschwerdeführers mit Schriftsatz vom 9. November 2023 die Aufhebung des Haftbefehls, da der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen verletzt sei. Aus anderen Verfahren sei bekannt, dass die Strafkammer bereits seit 2022 dauerhaft mit Haftsachen ausgelastet sei. Die in seinem Schriftsatz dargestellte Rechtsprechung der Obergerichte und des Bundesverfassungsgerichts zugrunde gelegt, sei hier kein anderer wichtiger Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO gegeben. Die dauerhaft anhaltende vollständige Auslastung der Kammer sei jedenfalls kein kurzfristig unvorhersehbarer Umstand. Eine ernsthafte Einarbeitung des Gerichts in die Sache habe auch knapp sechs Monate nach Anklageerhebung noch nicht begonnen, eine Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens sei noch nicht getroffen.

4. Mit Beschluss vom 10. November 2023 ordnete das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft die Fortdauer der Untersuchungshaft an. Die Haftfortdauer über sechs Monate hinaus sei aus wichtigem Grund gerechtfertigt und auch nicht unverhältnismäßig. Zur Begründung schloss sich das Oberlandesgericht den Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft an: Es sei der bei der Jahresgeschäftsverteilung 2023 nicht vorhersehbaren ungewöhnlich hohen Belastung der Kammer geschuldet, dass der Beginn der Hauptverhandlung erst ab dem 23. Januar 2024 vorgesehen sei. Die Kammer verhandele derzeit zwei umfangreiche Schwurgerichtsverfahren mit 77 beziehungsweise 127 in den Anklagen benannten Zeugen, weshalb Hauptverhandlungstermine nicht mehr zur Verfügung stünden. Bis Jahresende müsse die Kammer eine weitere, bereits länger eingegangene Haftsache gegen einen minderjährigen Angeklagten verhandeln. Die kurzfristige Überlastung der Kammer beruhe nicht auf gerichtsorganisatorischen Gründen, so dass die Verfahrensverzögerung insbesondere angesichts der Schwere der dem Angeschuldigten vorgeworfenen Straftaten keinen durchgreifenden Bedenken begegne.

Das Oberlandesgericht führte am Ende seines Beschlusses aus, der Schriftsatz der Verteidigung vom 9. November 2023 habe dem Senat vorgelegen.

II.

Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Freiheitsgrundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG unter dem Gesichtspunkt des Beschleunigungsgebotes im Zwischenverfahren. Die Verfassungsbeschwerde verbindet der Beschwerdeführer mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, ihn aus der Untersuchungshaft zu entlassen.

III.

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, da sie unzulässig ist. Soweit sie sich gegen den Haftbefehl des Amtsgerichts Itzehoe vom 25. Juni 2021 richtet, fehlt dem Beschwerdeführer das Rechtsschutzbedürfnis (1.). Soweit sich der Beschwerdeführer gegen den Haftfortdauerbeschluss des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts vom 10. November 2023 wendet, entspricht sie nicht dem Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (2.). Damit kommt es nicht mehr entscheidend darauf an, dass der Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts den verfassungsrechtlich entwickelten Maßstäben nicht gerecht wird und den Beschwerdeführer in seinem Freiheitsgrundrecht verletzt (3.).

1. In Haftsachen bildet ausschließlich die letzte Haftentscheidung die Grundlage für den Vollzug der Untersuchungshaft; vorangegangene Haftentscheidungen vermögen die Haftfortdauer nicht mehr zu beeinflussen (vgl. BVerfGE 36, 264 <275>; BVerfGK 5, 230 <234 f.>). Die Gerichte prüfen in den nachfolgenden Haftfortdauerentscheidungen die Rechtmäßigkeit der weiteren Inhaftierung grundsätzlich in vollem Umfang. Daher fehlt dem Beschwerdeführer für die Aufhebung vorangegangener Haftentscheidungen regelmäßig das Rechtsschutzbedürfnis (BVerfGK 5, 230 <234>). Ein fortdauerndes Rechtsschutzbedürfnis an der Überprüfung des überholten Ausgangshaftbefehls zeigt der Beschwerdeführer nicht auf (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 8. Juli 2021 - 2 BvR 575/21 -, Rn. 35).

2. Soweit der Beschwerdeführer die Haftfortdauerentscheidung des Oberlandesgerichts angreift, hat er zwar den Rechtsweg erschöpft, weil eine Anhörungsrüge nur im Falle der Geltendmachung einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) zum Rechtsweg gehört (vgl. BVerfGE 122, 190 <198>; 126, 1 <17>; 134, 106 <113 Rn. 22>). Die Erhebung einer Anhörungsrüge war hier jedoch mit Rücksicht auf den Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde geboten.

a) Der in § 90 Abs. 2 BVerfGG zum Ausdruck kommende Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde verlangt, dass Beschwerdeführer alle nach Lage der Dinge zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreifen, um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung schon im fachgerichtlichen Verfahren zu verhindern oder zu beseitigen (vgl. BVerfGE 107, 395 <414>; 112, 50 <60>; 134, 106 <115 Rn. 27>). Das kann bedeuten, dass Beschwerdeführer gehalten sind, im fachgerichtlichen Verfahren eine Gehörsverletzung selbst dann anzugreifen, wenn sie im Rahmen der ihnen insoweit zustehenden Dispositionsfreiheit mit der Verfassungsbeschwerde zwar keinen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG rügen wollen (vgl. BVerfGE 126, 1 <17>), durch den fachgerichtlichen Rechtsbehelf aber die Möglichkeit wahren, dass bei Erfolg der Gehörsverletzungsrüge in den vor den Fachgerichten gegebenenfalls erneut durchzuführenden Verfahrensschritten auch andere Grundrechtsverletzungen, durch die sie sich beschwert fühlen, beseitigt werden (vgl. dazu BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 25. April 2005 - 1 BvR 644/05 -, Rn. 10; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 14. Juli 2011 - 1 BvR 1468/11 -, Rn. 6; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 25. Oktober 2011 - 2 BvR 2407/10 -, Rn. 3).

Die Verweisung auf die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde steht allerdings unter dem Vorbehalt der Zumutbarkeit der prozessualen Möglichkeit zur Abhilfe (vgl. BVerfGE 132, 99 <117 Rn. 45>; 134, 106 <115 Rn. 28>). Zur Vermeidung der Unzulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde ohne Rüge der Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG müssen Beschwerdeführer daher aus Gründen der Subsidiarität eine Anhörungsrüge nur dann ergreifen, wenn den Umständen nach ein Gehörsverstoß durch die Fachgerichte nahe liegt und zu erwarten wäre, dass vernünftige Verfahrensbeteiligte mit Rücksicht auf die geltend gemachte Beschwer bereits im gerichtlichen Verfahren einen entsprechenden Rechtsbehelf ergreifen würden (vgl. BVerfGE 134, 106 <115 Rn. 28>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Mai 2015 - 2 BvR 2169/13 u.a. -, Rn. 2).

b) Gemessen hieran hätte der Beschwerdeführer ein Anhörungsrügeverfahren vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde durchführen müssen. Eine Anhörungsrüge gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts wäre nach § 33a StPO statthaft gewesen. Den Umständen nach liegt ein Gehörsverstoß durch das Oberlandesgericht hier nahe, weil es auf die vom Verteidiger des Beschwerdeführers im Schriftsatz vom 9. November 2023 vorgetragenen Argumente nicht eingegangen ist.

Ein Gehörsverstoß scheidet nicht deswegen aus, weil grundsätzlich davon auszugehen ist, dass ein Gericht das Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat. Zwar sind Gerichte bei der Begründung ihrer Entscheidung grundsätzlich nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen ausdrücklich zu befassen, insbesondere nicht - wie hier - bei letztinstanzlichen, mit ordentlichen Rechtsmitteln nicht mehr angreifbaren Entscheidungen (vgl. BVerfGE 50, 287 <289 f.>; 118, 212 <238>; stRspr). Wenn aber ein bestimmter Vortrag einer Partei den Kern des Parteivorbringens darstellt und für den Verfahrensausgang eindeutig von entscheidender Bedeutung ist, besteht für das Gericht eine Pflicht, die vorgebrachten Argumente zu erwägen. Ein Schweigen lässt hier den Schluss zu, dass der Vortrag der Prozesspartei nicht oder zumindest nicht hinreichend beachtet wurde, sofern der Vortrag nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder aber offensichtlich unsubstantiiert war (vgl. BVerfGE 47, 182 <188 f.>; 88, 366 <375 f.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 7. Juni 2023 - 2 BvR 2139/21 -, Rn. 15).

Demnach wäre das Oberlandesgericht zu Ausführungen dazu verpflichtet gewesen, weshalb es das substantiierte Kernvorbringen des Verteidigers in dessen Schriftsatz vom 9. November 2023 gegen die Fortdauer der Untersuchungshaft für nicht relevant oder überzeugend hielt. Ein Gehörsverstoß scheidet nicht deshalb aus, weil das Oberlandesgericht am Ende seiner Entscheidung die Bemerkung anfügte, der Schriftsatz der Verteidigung habe dem Senat vorgelegen. Die Bemerkung ändert am Schweigen des Oberlandesgerichts zu den vorgetragenen Argumenten des Verteidigers nichts. Sie widerspricht auch in diesem Fall nicht der Folgerung, das Oberlandesgericht habe die vorgetragenen, entscheidungserheblichen Gründe nicht hinreichend erwogen. Eine Positionierung des Oberlandesgerichts zu den vorgebrachten Argumenten ergibt sich aus dieser Bemerkung nicht. Mit der Anhörungsrüge hätte der Beschwerdeführer die Möglichkeit gewahrt, dass eine Grundrechtsverletzung durch das Oberlandesgericht selbst beseitigt wird.

3. Der Beschluss des Oberlandesgerichts wird den verfassungsrechtlichen Maßstäben nicht gerecht. Das Verfahren wurde nach Eingang der Anklageschrift beim Landgericht nicht in der durch das Gewicht des Freiheitseingriffs gebotenen Zügigkeit gefördert.

a) Es handelt sich bei der hier eingetretenen Verzögerung nicht um eine nur kleinere Verfahrensverzögerung, die entsprechend dem Gewicht der zu ahndenden Straftat die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen könnte (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Juni 2018 - 2 BvR 819/18 -, Rn. 29). Das Landgericht hatte trotz Ablaufs von mehr als fünf Monaten seit dem Eingang der Anklage am 31. Mai 2023 noch nicht über die Zulassung der Anklage und die Eröffnung des Hauptverfahrens (§§ 199 ff. StPO) entschieden. Anhaltspunkte dafür, dass jedenfalls nach Ablauf der Frist zur Stellungnahme des Beschwerdeführers am 4. Juli 2023 noch keine Eröffnungsreife vorgelegen haben könnte, sind nicht ersichtlich. Noch ausstehende Ermittlungen sind nicht genannt. Die Bezeichnung dieser Verzögerung im angefochtenen Beschluss als „kurzfristig“ ist nicht nachvollziehbar.

b) Die vom Oberlandesgericht für die Verzögerung im Zwischenverfahren angeführten Gründe rechtfertigen den Eingriff in das Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 GG nicht.

Die „ungewöhnlich hohe Belastung der Kammer“ durch bereits vor der Anklage des Beschwerdeführers eingegangene Schwurgerichtsverfahren stellen vom Beschwerdeführer nicht zu vertretende, sachlich nicht gerechtfertigte Umstände dar. Diesen Umständen kann zur Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft nicht allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung entgegengehalten werden (vgl. BVerfGK 7, 140 <155 f.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. Februar 2020 - 2 BvR 2090/19 -, Rn. 51; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 1. April 2020 - 2 BvR 225/20 -, Rn. 61; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 1. Dezember 2020 - 2 BvR 1853/20 -, Rn. 28). Da die Überlastung eines Gerichts in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft fällt, kommt es jedenfalls angesichts der hier gegebenen, nicht nur kurzfristigen Überlastung auf deren Vorhersehbarkeit nicht an (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Juni 2018 - 2 BvR 819/18 -, Rn. 30).

Der vom Oberlandesgericht für die Verzögerung zusätzlich angeführte Umstand, der Kammer stünden vor dem Sechsmonatstermin keine Hauptverhandlungstermine mehr zur Verfügung, stellt bereits keine schlüssige Begründung dafür dar, weshalb zumindest eine Eröffnung des Hauptverfahrens noch nicht hatte erfolgen können. Auch im Zwischenverfahren muss das Verfahren mit der gebotenen Zügigkeit gefördert werden, um bei Entscheidungsreife über die Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung zu beschließen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2781/10 -, Rn. 15; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 1. Dezember 2020 - 2 BvR 1853/20 -, Rn. 27 m.w.N.). Jedenfalls kann allein die Üblichkeit, die Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens mit der Verfügung des Vorsitzenden über die Terminierung der Hauptverhandlung zeitlich zusammen vorzunehmen, keine Verzögerung einer Eröffnungsentscheidung rechtfertigen, sollte eine Terminierung der Hauptverhandlung noch nicht möglich sein.

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 232

Bearbeiter: Holger Mann