HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 611
Bearbeiter: Holger Mann
Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvQ 51/23, Beschluss v. 29.04.2023, HRRS 2023 Nr. 611
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
1. Der in Untersuchungshaft befindliche Antragsteller beantragt den Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Inhalt, die Vollstreckung aus dem - die zwangsweise Ernährung des Antragstellers anordnenden - Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 27. April 2023 auszusetzen.
2. Dieser Antrag bleibt ohne Erfolg.
a) Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die - gegebenenfalls noch zu erhebende - Verfassungsbeschwerde erwiese sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 7, 367 <371>; 103, 41 <42>; 121, 1 <15>; 134, 138 <140 Rn. 6>; stRspr). Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens hat das Bundesverfassungsgericht im Rahmen einer Folgenabwägung die Nachteile abzuwägen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Antrag aber in der Hauptsache Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, dem Antrag in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 105, 365 <371>; 143, 65 <87 Rn. 35>; 157, 332 <377 Rn. 73>; stRspr). Wegen der meist weittragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsrechtlichen Verfahren auslöst, gilt für die Beurteilung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG ein strenger Maßstab (vgl. BVerfGE 55, 1 <3>; 104, 23 <27>; 158, 210 <230 Rn. 50>).
b) Gemessen hieran kommt der Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung nicht in Betracht.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann nicht davon ausgegangen werden, dass eine noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet wäre. Die danach vorzunehmende Folgenabwägung geht jedoch zulasten des Antragstellers aus.
Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, müsste der Antragsteller zunächst eine schwerwiegende Grundrechtsverletzung hinnehmen. Denn er müsste - jedenfalls bis zum Vorliegen einer belastbaren psychiatrischen Einschätzung der Ernsthaftigkeit seines Sterbewunsches - die von ihm abgelehnte zwangsweise Ernährung dulden. Erginge demgegenüber die einstweilige Anordnung, bliebe die Verfassungsbeschwerde später aber ohne Erfolg, so wären irreversible Folgen - das Ableben des Antragstellers - mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu befürchten. Diese wiegen schwerer als die dem Antragsteller drohenden Grundrechtsbeeinträchtigungen, zumal es zweifelhaft ist, ob sein Entschluss, aus dem Leben zu scheiden, von freier Selbstbestimmung und Eigenverantwortung getragen ist (vgl. BVerfGE 153, 182 <270 f. Rn. 232>). Dieser Sterbewunsch wird zum gegenwärtigen Zeitpunkt ärztlicherseits offenbar unterschiedlich beurteilt, ohne dass schon eine fundierte psychiatrische Begutachtung vorliegt, die alle auf der Hand liegenden Besonderheiten des vorliegenden Falles erfasst und nachvollziehbar bewertet. Dies ist bei der fachpsychiatrischen gutachterlichen Stellungnahme vom 27. April 2023 nicht der Fall.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 611
Bearbeiter: Holger Mann