HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 762
Bearbeiter: Holger Mann
Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 900/22, Beschluss v. 14.07.2022, HRRS 2022 Nr. 762
1. Der Vollzug des Haftbefehls des Landgerichts Verden vom 25. Februar 2022 - 1 Ks 148 Js 1066/22 (102/22) - wird unter der Bedingung ausgesetzt, dass der Beschwerdeführer vorhandene Ausweispapiere (Personalausweis und Reisepass) zu den Akten des Landgerichts gibt.
Der Beschwerdeführer wird angewiesen, sich zweimal wöchentlich bei der von der Staatsanwaltschaft Verden (Aller) zu bestimmenden Dienststelle nach näherer zeitlicher Festlegung durch diese zu melden.
Der Beschwerdeführer darf das Gebiet der Stadt (…) nicht ohne Erlaubnis der Staatsanwaltschaft verlassen.
2. Dem Landgericht Verden werden die weitere Ausgestaltung der Vollzugsaussetzung sowie die Entscheidung über etwaig erforderliche Maßnahmen gemäß § 116 Absatz 4 der Strafprozessordnung übertragen.
3. Diese Anordnung gilt bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für sechs Monate.
4. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde macht der Beschwerdeführer, der vor 39 Jahren vom Vorwurf des Mordes freigesprochen wurde, eine Verletzung in seinen Grundrechten durch die Zulassung des Antrags der Staatsanwaltschaft auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens und die damit verbundene Anordnung der Untersuchungshaft geltend. Mittelbar wendet er sich gegen § 362 Nr. 5 Strafprozessordnung (StPO), der mit dem am 30. Dezember 2021 in Kraft getretenen Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit (BGBl I S. 5252) als neuer Wiederaufnahmegrund eingefügt wurde. Mit seinem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung begehrt er, den Haftbefehl bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde außer Vollzug zu setzen.
1. Der im Jahr 1959 in der Türkei geborene Beschwerdeführer, mittlerweile deutscher Staatsangehöriger, wurde mit Urteil des Landgerichts Lüneburg vom 1. Juli 1982 wegen Vergewaltigung und wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Die zugrundeliegende Anklage hatte dem Beschwerdeführer vorgeworfen, er habe 1981 eine 17-jährige Schülerin vergewaltigt und getötet. Der Bundesgerichtshof hob das Urteil mit den getroffenen Feststellungen mit Beschluss vom 25. Januar 1983 wegen Mängel in der Beweiswürdigung auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung an das Landgericht Stade. Dieses sprach den Beschwerdeführer mit Urteil vom 13. Mai 1983 frei. Die (neue) Beweisaufnahme habe keinerlei Hinweise dafür ergeben, dass sich der Beschwerdeführer zum Tatzeitpunkt am Tatort befunden habe. Zwar sei am Tatort die Fahrspur eines Personenkraftwagens gesichert worden. Zur Überzeugung der Kammer sei das Fahrzeug des Beschwerdeführers als Verursacher dieser Spur jedoch auszuschließen. Weiterhin habe das Ergebnis der Beweisaufnahme die Kammer nicht davon zu überzeugen vermocht, dass sich das Opfer zu irgendeinem Zeitpunkt in dem Personenkraftwagen des Beschwerdeführers aufgehalten habe. Ein Kontakt der Getöteten mit Textilien im Personenkraftwagen des Beschwerdeführers sei aufgrund aufgefundener Faserspuren zwar wahrscheinlich bis sehr wahrscheinlich, jedoch nicht sicher festzustellen. Weitere Anhaltspunkte für eine Täterschaft des Beschwerdeführers habe die Hauptverhandlung nicht erbracht.
2. a) Im Jahr 2012 unterzog das Landeskriminalamt Niedersachsen Sekretanhaftungen, die nach der Tat sichergestellt worden waren, einer molekulargenetischen Untersuchung. Nach dem Untersuchungsergebnis kommt der Beschwerdeführer als Verursacher einer Spermaspur in Betracht.
b) Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden, ob Anhaltspunkte für eine Wiederaufnahme des Strafverfahrens gemäß § 362 Nr. 2 StPO in der Fassung vom 7. April 1987 (BGBl I S. 1074) bestehen, also Ermittlungen wegen einer uneidlichen Falschaussage von Zeugen oder Sachverständigen, blieben erfolglos.
3. Am 30. Dezember 2021 trat das Gesetz zur Änderung der Strafprozessordnung - Erweiterung der Wiederaufnahmemöglichkeiten zuungunsten des Verurteilten gemäß § 362 StPO und zur Änderung der zivilrechtlichen Verjährung (Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit vom 21. Dezember 2021, BGBl I S. 5252) in Kraft. Der Bundestag hatte das Gesetz kurz vor der Sommerpause und der Bundesrat im September 2021 beschlossen. Mit ihm wird § 362 StPO, der die Wiederaufnahme von Strafverfahren zuungunsten des Verurteilten regelt, um die hier verfahrensgegenständliche Nr. 5 ergänzt. Die Norm lautet:
§ 362 StPO (Wiederaufnahme zuungunsten des Verurteilten)
Die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zuungunsten des Angeklagten ist zulässig,
5. wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit früher erhobenen Beweisen dringende Gründe dafür bilden, dass der freigesprochene Angeklagte wegen Mordes (§ 211 des Strafgesetzbuches), Völkermordes (§ 6 Absatz 1 des Völkerstrafgesetzbuches), des Verbrechens gegen die Menschlichkeit (§ 7 Absatz 1 Nummer 1 und 2 des Völkerstrafgesetzbuches) oder Kriegsverbrechens gegen eine Person (§ 8 Absatz 1 Nummer 1 des Völkerstrafgesetzbuches) verurteilt wird.
Die Gesetzesbegründung nimmt sowohl auf eine insbesondere vom Vater des Tatopfers initiierte Petition an den Deutschen Bundestag (Petition Nr. 82568 vom 19. Juli 2018; Beschluss des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages - Pet 4-19-07-3123-009551 -) als auch auf den streitgegenständlichen Fall Bezug (vgl. BTDrucks 19/30399, S. 10).
4. a) Mit Blick auf die gesetzliche Neuregelung beantragte die zuständige Staatsanwaltschaft im Februar 2022 beim Landgericht Verden (nachfolgend: Landgericht) die Wiederaufnahme des Strafverfahrens zuungunsten des Beschwerdeführers und den Erlass eines Haftbefehls.
b) Das Landgericht erklärte den Wiederaufnahmeantrag mit angegriffenem Beschluss vom 25. Februar 2022 für zulässig und ordnete zugleich die Untersuchungshaft gegen den Beschwerdeführer an, weil dringender Tatverdacht gegen ihn bestehe und der Haftgrund der Schwerkriminalität gemäß § 112 Abs. 3 StPO vorliege.
Der Antrag auf Anordnung der Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß § 362 Nr. 5 StPO sei gemäß § 368 Abs. 1 StPO zulässig. Das molekulargenetische Gutachten des Landeskriminalamts aus dem Jahr 2012 stelle ein „neues“ Beweismittel im Sinne der Norm dar. Es bilde nach summarischer Prüfung - zusammen mit den im ursprünglichen Verfahren erhobenen Beweisen - dringende Gründe für eine Verurteilung wegen Mordes. Der Kammer seien die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen § 362 Nr. 5 StPO bekannt. Sie sei jedoch nicht von dessen Verfassungswidrigkeit überzeugt, weshalb sie eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht unterlassen habe.
Die Voraussetzungen für die Anordnung der Untersuchungshaft seien gegeben, weil der Beschwerdeführer eines Mordes und damit einer Katalogtat des § 112 Abs. 3 StPO dringend verdächtig sei. Ausweislich des molekulargenetischen Gutachtens komme der Beschwerdeführer als Spurenverursacher einer Spermaspur in Betracht. Dieses bedeutsame Indiz werde durch weitere Beweismittel gestützt. Ein dringender Tatverdacht gelte zwar nicht hinsichtlich des Mordmerkmals „grausam“, von dem die Anklage von 1982 ausgegangen sei. Allerdings bestehe entsprechend den zutreffenden Ausführungen im Urteil des Landgerichts Lüneburg vom 1. Juli 1982 ein dringender Tatverdacht hinsichtlich des Mordmerkmals der Verdeckungsabsicht. Dass der Geschlechtsverkehr mit Einverständnis des Opfers erfolgt sei, komme nicht ernstlich in Betracht.
Davon abgesehen, dass der Beschwerdeführer einer Katalogtat des § 112 Abs. 3 StPO dringend verdächtig sei, bestehe auch eine nicht unerhebliche Fluchtgefahr. Der Beschwerdeführer gehe keiner selbständigen oder unselbständigen Erwerbstätigkeit nach. Zudem habe er im August 2021 und damit in unmittelbarem Zusammenhang mit der gesetzlichen Einführung des neuen Wiederaufnahmegrundes sämtliche der drei zuvor auf ihn und seine Frau eingetragenen Immobilien auf die gemeinsamen Kinder übertragen. Aufgrund der türkischen Herkunft des Beschwerdeführers sei nicht auszuschließen, dass er weiterhin über gute Kontakte in sein Heimatland und über die Möglichkeit verfüge, sich dort verborgen zu halten und sich staatlicher Verfolgung zu entziehen, auch wenn er mittlerweile die deutsche und nicht mehr die türkische Staatsangehörigkeit besitze.
c) Der Beschwerdeführer wurde noch am selben Tag festgenommen und befindet sich seither in Untersuchungshaft.
d) Seine gegen diesen Beschluss gerichtete Beschwerde verwarf das Oberlandesgericht Celle (nachfolgend: Oberlandesgericht) mit angegriffenem Beschluss vom 20. April 2022.
Zum einen griffen die seitens des Beschwerdeführers vorgetragenen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen § 362 Nr. 5 StPO nicht durch. Die Neuregelung schränke den Schutzbereich des Art. 103 Abs. 3 GG nicht in unzulässiger Weise ein. Die Norm genüge dem Bestimmtheitsgrundsatz, verletze nicht das verfassungsrechtlich garantierte Rückwirkungsverbot und verstoße auch nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz nach Art. 3 Abs. 1 GG. Zum anderen habe das Landgericht die Voraussetzungen für den Wiederaufnahmegrund des § 362 Nr. 5 StPO zutreffend bejaht.
Die Untersuchungshaft gegen den Beschwerdeführer sei weiter aufrechtzuerhalten. Es bestünden ein dringender Tatverdacht und der Haftgrund der Schwerkriminalität gemäß § 112 Abs. 3 StPO. Dem Beschwerdeführer drohe eine lebenslange und nicht nur eine zeitige Freiheitsstrafe, die einen immensen Fluchtanreiz begründe. Die von der Verteidigung abgegebene Erklärung, der Beschwerdeführer sei anwaltlich beraten und werde sich dem weiteren Verfahren im eigenen Interesse stellen, gehe über eine pauschale Absichtserklärung nicht hinaus. Daher sei eine Fluchtgefahr im Sinne der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu § 112 Abs. 3 StPO nicht auszuschließen.
Mit seiner am 19. Mai 2022 eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 103 Abs. 3 GG sowie aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
Zugleich beantragt er, den Haftbefehl im Wege der einstweiligen Anordnung bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde außer Vollzug zu setzen. Zur Begründung führt er aus, die gebotene Folgenabwägung ergebe ein Übergewicht für den Erlass der einstweiligen Anordnung. Im Wissen um die bevorstehende Gesetzesänderung und um die naheliegende Absicht der Staatsanwaltschaft, einen Haftbefehl gegen ihn zu erwirken, habe sich der Beschwerdeführer dem Verfahren nicht entzogen. Mit dem Vollzug der Untersuchungshaft über einen Zeitraum von unabsehbarer Dauer würde ihm ein nicht wiedergutzumachender, eine existenzielle Betroffenheit begründender Schaden zugefügt.
1. Das Niedersächsische Justizministerium, der Bundestag, der Bundesrat, die Bundesregierung und alle Landesregierungen sowie der Bundesgerichtshof hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
Das Niedersächsische Justizministerium hält die angegriffenen Beschlüsse für rechtmäßig und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung für unbegründet.
Auf die dem Deutschen Bundestag eingeräumte Gelegenheit zur Stellungnahme teilt die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit, aus ihrer Sicht sei die vom Bundespräsidenten angeregte erneute parlamentarische Prüfung und Beratung der Neuregelung noch nicht abgeschlossen. Ohne eine Außervollzugsetzung des § 362 Nr. 5 StPO könnten die grundlegenden Vorstellungen darüber, was Gerechtigkeit unter Geltung des Grundgesetzes bedeute, weiter beschädigt werden.
2. Das Landgericht hat für den Fall, dass es gemäß § 370 StPO beschließt, dass der Wiederaufnahmeantrag begründet ist, mitgeteilt, der Beginn der neuen Hauptverhandlung sei im August 2022 vorgesehen. Am 5. Juli 2022 hat es beschlossen, bis spätestens zum 21. Juli 2022 mit einer Entscheidung über die Begründetheit des Wiederaufnahmeantrags und, im Falle einer Feststellung seiner Begründetheit, mit der Terminierung zuzuwarten und den Haftbefehl vom 25. Februar 2022 nicht aufzuheben. Ausnahmsweise sei das Zuwarten angesichts der konkreten Umstände des Einzelfalls wegen der in Kürze anstehenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die eingelegte Verfassungsbeschwerde und/oder den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung angezeigt. Der Haftbefehl sei jedoch nicht von Amts wegen aufzuheben, weil eine Verfahrensverzögerung nicht gegeben sei.
3. Die Verfahrensakten des Landgerichts haben dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat teilweise Erfolg.
Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Bei der Entscheidung über die einstweilige Anordnung haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben (vgl. BVerfGE 89, 38 <43 f.>; 143, 65 <87 Rn. 35>; 157, 332 <375 Rn. 68>; stRspr). Für die einstweilige Anordnung ist allerdings kein Raum, wenn sich die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet erweist (vgl. BVerfGE 104, 23 <28>; 111, 147 <152 f.>; 157, 332 <375 Rn. 68>; stRspr). Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens hat das Bundesverfassungsgericht im Rahmen einer Folgenabwägung die Nachteile abzuwägen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Antrag aber in der Hauptsache Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, dem Antrag in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 105, 365 <371>; 143, 65 <87 Rn. 35>; 157, 332 <377 Rn. 73>; stRspr). Wegen der meist weittragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsrechtlichen Verfahren auslöst, gilt für die Beurteilung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG ein strenger Maßstab (vgl. BVerfGE 55, 1 <3>; 104, 23 <27>; 158, 210 <230 Rn. 50>).
Die Hürde für eine einstweilige Anordnung erhöht sich weiter, wenn ein Gesetz außer Vollzug gesetzt werden soll; die Gründe für eine einstweilige Anordnung müssen dann besonderes Gewicht haben (vgl. BVerfGE 3, 41 <44>; 140, 99 <106 f.>; 157, 332 <374 Rn. 67>; stRspr). Wird mit einer einstweiligen Anordnung der Vollzug eines Gesetzes suspendiert, so wird das angegriffene Gesetz allgemein und nicht nur in der Beziehung zum Beschwerdeführer ausgesetzt. Deshalb sind bei der Folgenabwägung die Auswirkungen auf alle von dem Gesetz Betroffenen zu berücksichtigen, nicht nur diejenigen für den Beschwerdeführer (vgl. BVerfGE 112, 216 <221>; 122, 342 <362>; 140, 99 <107 Rn. 12>; stRspr). Wenn die jeweiligen Nachteile der abzuwägenden Folgenkonstellationen einander in etwa gleichgewichtig gegenüberstehen, verbietet es der Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG), das angegriffene Gesetz auszusetzen, bevor geklärt ist, ob es vor der Verfassung Bestand hat (vgl. BVerfGE 104, 51 <60>; 140, 99 <107 Rn. 12>; stRspr).
Gemessen an diesen Maßstäben hat der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung teilweise Erfolg. Er ist mit dem Inhalt, den Haftbefehl außer Vollzug zu setzen, zulässig (1.). Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet (2.). Die Folgenabwägung ergibt, dass die Nachteile, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Antrag aber in der Hauptsache Erfolg hätte (3. a), gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, dem Antrag in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre (3. b), überwiegen. Dies gilt allerdings nur unter der Voraussetzung, dass geeignete, im Vergleich zur Untersuchungshaft weniger eingreifende Maßnahmen zur Minimierung der Fluchtgefahr getroffen werden (3. c). Der weitergehende Antrag auf uneingeschränkte Außervollzugsetzung des Haftbefehls hat daher keinen Erfolg (4.).
1. Der Beschwerdeführer beantragt im Wege der einstweiligen Anordnung die Außervollzugsetzung des gegen ihn erlassenen Haftbefehls vom 25. Februar 2022. Mit Blick auf die Fortführung des Wiederaufnahmeverfahrens hat er keinen Eilantrag gestellt, so dass hierüber nicht zu entscheiden ist.
Der Beschluss des Landgerichts vom 5. Juli 2022 steht der Zulässigkeit des Eilantrags im vorliegenden Fall nicht entgegen. Die fortdauernde Untersuchungshaft stellt einen intensiven Eingriff in die Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 Abs. 1 GG dar und damit einen schweren Nachteil im Sinne des § 32 Abs. 1 BVerfGG.
2. Die gegen den Beschluss vom 25. Februar 2022 sowie die diesen bestätigende Beschwerdeentscheidung des Oberlandesgerichts erhobene Verfassungsbeschwerde ist nicht von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet.
a) Die Verfassungsbeschwerde genügt den Zulässigkeitsanforderungen.
aa) Der Beschwerdeführer hat den Rechtsweg erschöpft. Gemäß § 372 Satz 1 StPO können alle Entscheidungen, die aus Anlass eines Antrags auf Wiederaufnahme des Verfahrens erlassen werden, mit der sofortigen Beschwerde angefochten werden, auch die Entscheidung über die Zulassung des Wiederaufnahmeantrags gemäß § 368 StPO (im Folgenden: Aditionsentscheidung). Die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers hat das Oberlandesgericht verworfen. Weitere Rechtsmittel sieht die Strafprozessordnung nicht vor.
Entsprechendes gilt für den Haftbefehl, den das Landgericht zugleich mit der Aditionsentscheidung gemäß § 112 Abs. 3 StPO erlassen hat, und für die Beschwerdeentscheidung des Oberlandesgerichts, soweit sie die gegen diesen Haftbefehl erhobene Beschwerde verworfen hat.
bb) Der Beschwerdeführer kann insoweit auch nicht auf andere prozessuale Möglichkeiten zur Beseitigung der behaupteten Grundrechtsverletzung verwiesen werden. Der in § 90 Abs. 2 BVerfGG zum Ausdruck kommende Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde, dass Beschwerdeführer alle nach Lage der Dinge zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreifen müssen, um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung schon im fachgerichtlichen Verfahren zu verhindern oder zu beseitigen (vgl. BVerfGE 107, 395 <414>; 134, 106 <115 Rn. 27>; 149, 407 <410 Rn. 9>; stRspr), kommt hier nicht zum Tragen.
(1) Der Beschwerdeführer ist nicht darauf verwiesen, Rechtsschutz erst gegen die Entscheidung über die Begründetheit des Wiederaufnahmeantrags gemäß § 370 StPO (im Folgenden: Probationsentscheidung) zu suchen. Zwar werden das Landgericht und - im Fall einer sofortigen Beschwerde - das Oberlandesgericht möglicherweise erneut mit der Frage konfrontiert sein, ob § 362 Nr. 5 StPO verfassungskonform ist. Gleichwohl kann dem Beschwerdeführer die Geltendmachung einer Grundrechtsverletzung durch die erneute Strafverfolgung und insbesondere durch die Untersuchungshaft infolge der Aditionsentscheidung nicht bis zur noch ausstehenden Probationsentscheidung und bis zur Erschöpfung des dagegen bestehenden Rechtswegs vorenthalten werden.
Die Trennung zwischen der Aditionsentscheidung gemäß § 368 StPO und der Probationsentscheidung gemäß § 370 StPO dient der Verfahrensökonomie, indem eine Schlüssigkeitsprüfung erfolgt und dadurch eine Beweisaufnahme vermieden wird (vgl. Gössel, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Bd. 7/2, 26. Aufl. 2013, § 368 Rn. 8 f. m.w.N.; Frister, in: SK-StPO, 5. Aufl. 2018, Vor § 359 Rn. 10; Engländer/Zimmermann, in: MüKo StPO, Bd. 3/1, 2019, § 368 Rn. 2 ff.; kritisch Eschelbach, in: Kleinknecht/Müller/Reitberger, StPO, § 368 Rn. 2 <Mai 2014>). Sie bietet im Zusammenhang mit der fristgebundenen sofortigen Beschwerde gemäß § 372 StPO frühestmögliche Rechtssicherheit (vgl. Frister, in: SK-StPO, 5. Aufl. 2018, § 372 Rn. 1; Engländer/Zimmermann, in: MüKo StPO, Bd. 3/1, 2019, § 372 Rn. 1) und bei der Wiederaufnahme zuungunsten des Verurteilten beziehungsweise Freigesprochenen auch effektiven Schutz des Grundrechts aus Art. 103 Abs. 3 GG. Verletzen die Entscheidungen im Aditionsverfahren Grundrechte, muss mit Blick auf das verfassungsrechtliche Gebot der Gewährleistung frühzeitigen und effektiven Rechtsschutzes (vgl. im Falle erneuter Anklageerhebung nach einem unanfechtbaren Nichteröffnungsbeschluss BVerfGK 4, 49 <53>; BGH, Beschluss vom 1. Dezember 2016 - 3 StR 230/16 -, juris, Rn. 10 f.) eine Verfassungsbeschwerde hiergegen zulässig sein.
(2) Auch die jederzeitige Möglichkeit, eine Haftprüfung gemäß § 117 StPO zu beantragen, führt zu keinem anderen Ergebnis. Zwar könnte der Beschwerdeführer damit rügen, dass die Voraussetzungen des § 112 Abs. 3 StPO - bei unterstellter Verfassungskonformität des § 362 Nr. 5 StPO - nicht gegeben seien. Jedoch kann er damit nicht die Beseitigung der geltend gemachten Grundrechtsverletzung durch die Aditionsentscheidung selbst erreichen, sondern allenfalls die Aufhebung des damit verbundenen Haftbefehls.
cc) Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht auch der zwischenzeitlich ergangene Haftfortdauerbeschluss des Landgerichts vom 5. Juli 2022 nicht entgegen. Er führt nicht zum Entfallen des Rechtsschutzbedürfnisses für die Verfassungsbeschwerde, denn die angegriffene Entscheidung war jedenfalls Grundlage der ab dem 25. Februar 2022 vollzogenen Untersuchungshaft und damit eines tiefgreifenden Eingriffs in das Grundrecht des Beschwerdeführers auf die Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGK 5, 230 <234 f.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 25. Juni 2018 - 2 BvR 631/18 -, Rn. 27; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 8. Juli 2021 - 2 BvR 575/21 -, Rn. 35).
b) Die Verfassungsbeschwerde ist auch nicht offensichtlich unbegründet. Die Frage, ob § 362 Nr. 5 StPO verfassungskonform ist und damit Grundlage sowohl für das Wiederaufnahmeverfahren als auch für die erneute Strafverfolgung des Beschwerdeführers, konkret die Anordnung und Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft zur Sicherung der Durchführung des Wiederaufnahmeverfahrens, sein kann, ist offen. Ihre Klärung muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.
Im Gesetzgebungsverfahren wurden verfassungsrechtliche Bedenken an der Einführung des neuen Wiederaufnahmetatbestandes geäußert (vgl. BTDrucks 19/31110, S. 2 ff.). Auch der Bundespräsident hat bei der Ausfertigung und Verkündung des Gesetzes seine Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit durch ein Schreiben an die Präsidentin des 20. Deutschen Bundestages öffentlich gemacht (vgl. Pressemitteilung vom 22. Dezember 2021).
Im Schrifttum wird die Neuregelung intensiv und kontrovers diskutiert. Einige Autoren halten § 362 Nr. 5 StPO für verfassungskonform (vgl. Zehetgruber, JR 2020, S. 157; Hoven, JZ 2021, S. 1154; Kubiciel, GA 2021, S. 380; Eisele, BRJ 2022, S. 6). Andere sehen die Norm aus unterschiedlichen Gründen als verfassungswidrig an. Neben einem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 3 GG beziehungsweise seinen Kerngehalt werden Verletzungen des Rückwirkungsverbots, des Bestimmtheitsgrundsatzes, des Gleichheitssatzes und der Unschuldsvermutung sowie der Menschenwürde erörtert (vgl. Arnemann, NJW-Spezial 2021, S. 440; dies., StraFO 2021, S. 442; Aust/Schmidt, ZRP 2020, S. 251; Brade, AöR 146 <2021>, S. 130; Kaspar, GA 2022, S. 21; Leitmeier, StV 2021, S. 341; Lenk, StV 2022, S. 118; Singelnstein, NJW 2022, S. 1058; Slogsnat, ZStW 133 <2021>, S. 741; Schweiger, ZfIStw 2022, S. 397).
3. Die somit vorzunehmende Folgenabwägung gebietet den Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Inhalt, den Vollzug des Haftbefehls unter Anordnung der im Tenor aufgeführten Maßnahmen auszusetzen.
a) Erginge die einstweilige Anordnung nicht, hätte die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg, drohten dem Beschwerdeführer erhebliche und irreversible Nachteile. Er würde nach einer Wiederaufnahme des Verfahrens durch das Landgericht voraussichtlich bis zu dessen rechtskräftigem Abschluss in Untersuchungshaft bleiben, wenn nicht vorher über die Verfassungsbeschwerde entschieden wird.
Das Landgericht hat mitgeteilt, dass es in Kürze über die Begründetheit des Wiederaufnahmeantrags entscheiden und im Fall seiner Begründetheit die erneute Hauptverhandlung im August 2022 beginnen werde. Am 5. Juli 2022 hat das Landgericht von Amts wegen geprüft, ob der Haftbefehl aufzuheben sei, und dies verneint. Es ist gegenwärtig nicht ersichtlich, dass sich die Bewertung der Fachgerichte zum Vorliegen der Fluchtgefahr während des Wiederaufnahmeverfahrens ändern wird. Denn sie haben die Fluchtgefahr auf die zu erwartende lebenslange Freiheitsstrafe im Fall einer Verurteilung, auf die nicht (mehr) bestehende Erwerbstätigkeit des inzwischen 63-jährigen Beschwerdeführers und die Übertragung seiner Grundstücke auf seine Kinder im August 2021 sowie auf seine Herkunft aus der Türkei gestützt. Keiner dieser tatsächlichen Umstände dürfte sich im Laufe des Wiederaufnahmeverfahrens ändern. Auch eine andere Straferwartung ist ausgeschlossen, da die Wiederaufnahme gemäß § 362 Nr. 5 StPO gerade auf dringende Gründe für die Annahme einer Verurteilung wegen Mordes beschränkt ist.
Hätte die Verfassungsbeschwerde Erfolg, so verletzte die Untersuchungshaft das Grundrecht aus Art. 103 Abs. 3 GG, keiner weiteren Strafverfolgung ausgesetzt zu sein, sowie das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 Abs. 1 GG, keine ungerechtfertigte Freiheitsentziehung hinnehmen zu müssen. Die Untersuchungshaft stellt einen besonders intensiven Grundrechtseingriff dar und ist zudem nachträglich nicht mehr korrigierbar. Die möglichen Grundrechtsverletzungen wiegen daher schwer.
aa) Art. 103 Abs. 3 GG garantiert als Prozessgrundrecht (vgl. BVerfGE 56, 22 <32>; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 3, 3. Aufl. 2018, Art. 103 Abs. 3 Rn. 14; Nolte/Aust, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 7. Aufl. 2018, Art. 103 Rn. 183) dem verurteilten Straftäter Schutz nicht nur gegen erneute Bestrafung, sondern bereits gegen erneute Verfolgung wegen derselben Tat (vgl. BVerfGE 12, 62 <66>; 23, 191 <202>). Verfahrensrechtlich errichtet Art. 103 Abs. 3 GG ein Prozesshindernis (vgl. BGHSt 5, 323 <328>) und begründet zugleich auch die Verfassungswidrigkeit einer erneuten Einleitung eines Strafverfahrens (vgl. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 3, 3. Aufl. 2018, Art. 103 Abs. 3 Rn. 25, 30; Nolte/Aust, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 7. Aufl. 2018, Art. 103 Rn. 174, 216; Remmert, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 103 Abs. 3 Rn. 3 f., 40, 61 <Nov. 2018>; Pohlreich, in: Bonner Kommentar, Art. 103 Abs. 3 Rn. 42 <Nov. 2018>; Kunig/Saliger, in: von Münch/Kunig, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2021, Art. 103 Rn. 64).
Gleiches gilt, wenn zuvor in einem Verfahren wegen derselben Tat ein Freispruch erfolgt ist (vgl. BVerfGE 12, 62 <66>; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 3, 3. Aufl. 2018, Art. 103 Abs. 3 Rn. 12, 25; Remmert, in Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 103 Abs. 3 Rn. 3 f., 2, 65 <Nov. 2018>; Pohlreich, in: Bonner Kommentar, Art. 103 Abs. 3 Rn. 42 <Nov. 2018>; Kunig/Saliger, in: von Münch/Kunig, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2021, Art. 103 Rn. 63).
Die gegen den Beschwerdeführer verhängte Untersuchungshaft, die im Rahmen des Wiederaufnahmeverfahrens zu dem Urteil des Landgerichts Stade vom 13. Mai 1983 ergangen ist, ist eine Maßnahme der erneuten Strafverfolgung wegen derselben Tat, die nicht gerechtfertigt wäre, wenn sich die Verfassungsbeschwerde gegen die zugrundeliegende Norm als begründet erwiese.
Der Schutz, den Art. 103 Abs. 3 GG vor einer erneuten Strafverfolgung gewährt, ist hier in seiner tatsächlichen Bedeutung besonders berührt. Die Haft ist nicht nur ein besonders intensiver Freiheitseingriff, sondern die Folge eines dringenden Tatverdachts, der sich bei der Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen nach § 362 Nr. 5 StPO auf eines der dort aufgeführten Verbrechen beziehen muss. Dies wird auch in der Öffentlichkeit wahrgenommen. So war die Untersuchungshaft des Beschwerdeführers bereits Gegenstand der medialen Berichterstattung (vgl. Tagesspiegel vom 13. April 2022, DIE ZEIT vom 9. Juni 2022, Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 21. April 2022 und vom 18. Juni 2022, Hamburger Abendblatt vom 21. Juni 2022).
bb) Die Untersuchungshaft ist darüber hinaus ein erheblicher und irreversibler Eingriff in die durch Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 Abs. 1 GG geschützte Freiheit der Person. Hätte die Verfassungsbeschwerde Erfolg, erwiese sich dieser Eingriff als rechtsgrundlos.
Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistet jedermann die Freiheit der Person und nimmt einen hohen Rang unter den Grundrechten ein. Das kommt darin zum Ausdruck, dass Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG die Freiheit der Person als „unverletzlich“ bezeichnet, Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG ihre Beschränkung nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes zulässt und Art. 104 Abs. 2 bis 4 GG besondere Verfahrensgarantien für ihre Beschränkung statuiert (vgl. BVerfGE 35, 185 <190>; 109, 133 <157>; 128, 326 <372>). Der Entzug der Freiheit eines der Straftat lediglich Verdächtigen ist wegen der Unschuldsvermutung, die ihre Wurzel in der Garantie der Menschenwürde und im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG hat (vgl. BVerfGE 95, 96 <140>; 133, 168 <197 f. Rn. 54>) und auch in Art. 6 Abs. 2 EMRK ausdrücklich hervorgehoben ist, nur in streng begrenzten Ausnahmefällen zulässig. Im Rechtsinstitut der Untersuchungshaft wird das Spannungsverhältnis zwischen dem Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den Bedürfnissen einer wirksamen Verbrechensbekämpfung deutlich sichtbar. Den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen muss daher der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten als Korrektiv entgegengehalten werden. Dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kommt für Anordnung und Vollzug der Untersuchungshaft - auch unabhängig von der zu erwartenden Strafe - eine maßgebliche Bedeutung zu (vgl. BVerfGE 19, 342 <347>; 20, 45 <49 f.>; 36, 264 <270>; 53, 152 <158 f.>).
Die Anordnung der Untersuchungshaft gegen den Beschwerdeführer beruht auf den Angaben, die im Wiederaufnahmeantrag gemäß § 362 Nr. 5 StPO die dringenden Gründe dafür bilden, dass er in einer erneuten Hauptverhandlung wegen Mordes verurteilt wird. Hätte die Verfassungsbeschwerde Erfolg und erwiese sich § 362 Nr. 5 StPO als Rechtsgrundlage für das Wiederaufnahmeverfahren als verfassungswidrig, wäre die Strafverfolgung des Beschwerdeführers wegen des angeklagten Mordes von vornherein ausgeschlossen. Die Untersuchungshaft wäre daher zur Sicherung des erneuten Strafverfahrens nicht gerechtfertigt.
b) Erginge die beantragte einstweilige Anordnung und erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später als unbegründet, träten ebenfalls gewichtige Nachteile ein. Der Vollzug der Untersuchungshaft würde ausgesetzt und der Beschwerdeführer wäre nicht mehr in Haft. Nach den Feststellungen der Fachgerichte besteht damit die Gefahr, dass er sich dem Strafverfahren entzieht. In diesem Fall könnte nach der Entscheidung, dass der Wiederaufnahmeantrag begründet ist, die erneute Hauptverhandlung nicht ohne Fahndungsmaßnahmen und - bei deren Misserfolg - gar nicht durchgeführt werden.
In die Folgenabwägung ist ferner die Möglichkeit einzustellen, dass das Landgericht das Wiederaufnahmeverfahren erst zu einem späteren Zeitpunkt fortführt. Ob es bei Aussetzung der Untersuchungshaft an dem mitgeteilten Zeitplan für das weitere Wiederaufnahmeverfahren festhält, ist offen. Insbesondere den baldigen Beginn der erneuten Hauptverhandlung hat es mit Blick auf § 121 StPO und das in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG wurzelnde haftrechtliche Beschleunigungsgebot (vgl. nur BVerfGE 20, 45 <50>; 20, 144 <148 f.>; 36, 264 <270 ff.>, 53, 152 <158 f.>; BVerfGK 17, 517; stRspr) terminiert. Daher ist nicht ausgeschlossen, dass das Landgericht dringlichere (Haft-)Verfahren vorrangig zu bearbeiten hat, wenn die Untersuchungshaft des Beschwerdeführers ausgesetzt wird, auch wenn bei außer Vollzug gesetztem Haftbefehl der Beschleunigungsgrundsatz prinzipiell weiterhin gilt (vgl. BVerfGE 53, 152 <159 f.>).
aa) Entzieht sich der Beschwerdeführer dem Strafverfahren, wird das - im Fall der Erfolglosigkeit der Verfassungsbeschwerde bestehende - öffentliche Interesse an der Wiederaufnahme und der anschließenden Durchführung des Strafverfahrens gegen ihn beeinträchtigt und unter Umständen vereitelt.
(1) Die besonders strengen Voraussetzungen für die Aussetzung der Geltung eines Gesetzes müssen hier nicht erfüllt sein. Zwar besteht nach der Gesetzesbegründung ohne die Neuregelung die Gefahr einer nachhaltigen Störung des Rechtsfriedens und des Vertrauens in die Strafrechtspflege. Dabei nimmt sie ausdrücklich auf den hier streitgegenständlichen Fall Bezug (vgl. BTDrucks 19/30399, S. 10) und bringt damit zum Ausdruck, dass gerade die Wiederaufnahme des Strafverfahrens gegen den Beschwerdeführer ermöglicht werden soll. Dennoch blieben die Folgen des Erlasses einer einstweiligen Anordnung auf den vorliegenden Fall begrenzt. Entzöge sich der Beschwerdeführer infolge der Außervollzugsetzung des Haftbefehls dem erneuten Strafverfahren, bliebe die Anwendung des Gesetzes in anderen Wiederaufnahmefällen unberührt.
(2) Es besteht aber auch im Einzelfall ein gewichtiges Allgemeininteresse an der Strafverfolgung eines Mordes. Das Grundgesetz weist den Erfordernissen einer an rechtsstaatlichen Garantien ausgerichteten Rechtspflege einen hohen Rang zu (vgl. BVerfGE 80, 367 <375>). Das Rechtsstaatsprinzip gestattet und verlangt die Berücksichtigung der Belange einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege, ohne die der Gerechtigkeit nicht zum Durchbruch verholfen werden kann (vgl. BVerfGE 33, 367 <383>; 46, 214 <222>; 122, 248 <272>; 130, 1 <26>). Hierzu zählt, dass Straftäter im Rahmen der geltenden Gesetze verfolgt, abgeurteilt und einer gerechten Bestrafung zugeführt werden (vgl. BVerfGE 33, 367 <383>; 46, 214 <222 f.>; 122, 248 <272 f.>; 133, 168 <199 Rn. 57>). Dies umfasst die Pflicht, die Durchführung eingeleiteter Strafverfahren und die Vollstreckung rechtskräftig erkannter (Freiheits-)Strafen sicherzustellen (vgl. BVerfGE 46, 214 <222 f.>; 51, 324 <344>; 133, 168 <199 f. Rn. 57>).
bb) Käme es dagegen lediglich zu einer Verzögerung des Wiederaufnahmeverfahrens sowie der daran anschließenden erneuten Hauptverhandlung, so hätte dies für sich genommen angesichts der Besonderheiten des vorliegenden Falles kein besonders schweres Gewicht.
(1) Grundsätzlich ist auch eine zügige Durchführung des Strafverfahrens ein gewichtiger Belang einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege (vgl. BVerfGE 63, 45 <68 f.>; 122, 248 <273>; 133, 168 <200 f. Rn. 59>). Sie erfordert eine Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs innerhalb so kurzer Zeit, dass die Rechtsgemeinschaft die Strafe noch als Reaktion auf geschehenes Unrecht wahrnehmen kann (vgl. BVerfGE 122, 248 <273>). Die Zwecke der Kriminalstrafe werden durch unnötige Verfahrensverzögerungen in Frage gestellt (vgl. BVerfGE 122, 248 <273>) und die verfassungsrechtliche Pflicht zur bestmöglichen Erforschung der materiellen Wahrheit wird beeinträchtigt, da die Beweisgrundlage durch Zeitablauf verfälscht werden kann (vgl. BVerfGE 57, 250 <280>; 122, 248 <273>; 133, 169 <201>).
Hier liegt die verfolgte Straftat allerdings bereits über 40 Jahre zurück. Es steht daher nicht zu erwarten, dass eine spätere Durchführung der erneuten Hauptverhandlung eine substantielle Verschlechterung der Beweislage und damit eine (weitere) Erschwerung der Wahrheitsermittlung mit sich brächte. Ebenso geht vom Beschwerdeführer angesichts des langen Zeitraumes, in dem er strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten ist, keine mit dem Mordvorwurf typischerweise verbundene besondere Gefährlichkeit aus, der insbesondere der spezialpräventive Zweck der Bestrafung entgegenwirken soll.
(2) Auch kann die vom Gesetzgeber mit der Neuregelung bezweckte Befriedungswirkung besser erreicht werden, wenn über die Verfassungsbeschwerde bereits vor der Weiterführung des Wiederaufnahmeverfahrens abschließend entschieden ist. Es wäre nicht mit der Unsicherheit belastet, dass die Verfassungsbeschwerde Erfolg haben und ihm damit die Rechtsgrundlage entziehen könnte.
c) Sowohl die Folgen einer einstweiligen Anordnung als auch die Folgen ihres Unterlassens sind damit insgesamt von solchem Gewicht, dass sie jeweils nicht vollständig zurücktreten dürfen.
Anders als in anderen Fällen der Anordnung von Untersuchungshaft besteht nicht nur die Möglichkeit, dass sich der Tatverdacht im Zuge der Ermittlungen beziehungsweise des Strafverfahrens nicht erhärtet. Ausschlaggebend ist vielmehr die Möglichkeit, dass die Untersuchungshaft gar nicht hätte erfolgen dürfen, weil die Strafverfolgung insgesamt unzulässig ist, wenn sich die Norm, die die Strafverfolgung eröffnet, als verfassungswidrig erweist. Dem grundrechtlichen Schutz aus Art. 103 Abs. 3 sowie Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 Abs. 1 GG kommt unter diesen Umständen daher ein größeres Gewicht zu als dem durch die Untersuchungshaft gesicherten staatlichen Strafverfolgungsinteresse.
Die Schwere des Tatvorwurfs, der im Wiederaufnahmefall den berechtigten Strafverfolgungsanspruch des Staates begründet, hat jedoch ein solches Gewicht, dass auch dem staatlichen Interesse an einer effektiven Strafverfolgung Rechnung getragen werden muss. Dies kann zwar im Rahmen der hier erlassenen einstweiligen Anordnung den Vollzug des Haftbefehls nicht rechtfertigen, wohl aber die Anordnung von Maßnahmen, die weniger intensiv in Art. 103 Abs. 3 sowie Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 Abs. 1 GG eingreifen. Angesichts der von den Fachgerichten festgestellten Fluchtgefahr, die der Beschwerdeführer nicht substantiiert entkräftet hat, sind die im Tenor aufgeführten Maßnahmen geboten, um den staatlichen Strafverfolgungsanspruch ausreichend zu sichern. Dem Eilbegehren des Beschwerdeführers trägt dies größtmöglich Rechnung. Dem Landgericht obliegt es, die Außervollzugsetzung des Haftbefehls im Weiteren auszugestalten und - soweit erforderlich - den Zweck des Haftbefehls durch Maßnahmen nach § 116 Abs. 4 StPO zu gewährleisten. Ein verbleibendes Risiko, dass sich der Beschwerdeführer der Strafverfolgung dennoch entzieht, muss dabei angesichts der besonderen Grundrechtsbelastung, die mit der - erneuten - Untersuchungshaft im Zuge der Zulassung des Wiederaufnahmeantrags verbunden ist, hingenommen werden.
4. Soweit der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung darüber hinausgehend auf uneingeschränkte Außervollzugsetzung des Untersuchungshaftbefehls gerichtet ist, hat er aus den vorgenannten Gründen keinen Erfolg.
Die Entscheidung ist mit 5 : 3 Stimmen ergangen.
HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 762
Bearbeiter: Holger Mann