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HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 109

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 1974/22, Beschluss v. 16.01.2025, HRRS 2025 Nr. 109


BVerfG 2 BvR 1974/22 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 16. Januar 2025 (BGH / LG Mannheim)

Einstweilige Anordnung gegen die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe wegen Erpressung (strafrechtliches Bestimmtheitsgebot; Tatbestandsmerkmal des Vermögensnachteils; Übertragbarkeit der Maßstäbe zur Konkretisierung des Vermögensschadens bzw. -nachteils bei Betrug und Untreue).

Art. 103 Abs. 2 GG; § 32 BVerfGG; § 253 StGB; § 255 StGB; § 263 StGB; § 266 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Die weitere Vollstreckung einer unter anderem wegen (versuchter schwerer räuberischer) Erpressung verhängten Freiheitsstrafe verletzt möglicherweise das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot und ist daher einstweilen auszusetzen, wenn bei der Auslegung und Anwendung des Tatbestandsmerkmals des Vermögensnachteils die verfassungsrechtlichen Maßstäbe nicht beachtet worden sind, wie sie für die Konkretisierung des Vermögensschadens bzw. -nachteils im Sinne der §§ 263, 266 StGB gelten.

Entscheidungstenor

Die weitere Vollstreckung der gegen den Beschwerdeführer ausgesprochenen Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Mannheim vom 14. Januar 2022 - 1 Ks 810 Js 2037/21 - wird bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers - längstens für die Dauer von sechs Monaten (§ 32 Abs. 6 Satz 1 BVerfGG) - ausgesetzt.

Gründe

I.

1. a) Das Landgericht Mannheim verurteilte den Beschwerdeführer am 14. Januar 2022 wegen versuchter schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu der Freiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten.

b) Gegen das Urteil des Landgerichts legte der Beschwerdeführer Revision ein, mit der er geltend machte, es fehlten hinsichtlich der räuberischen Erpressung gänzlich Feststellungen zu einem vermeintlichen Vermögensschaden, insbesondere sei ein solcher nicht im Ansatz beziffert worden.

c) Mit Beschluss vom 21. September 2022 verwarf der Bundesgerichtshof die Revision des Beschwerdeführers ohne nähere Begründung gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet.

2. Der Beschwerdeführer rügt mit seiner Verfassungsbeschwerde die Verletzung des strafrechtlichen Bestimmtheitsgebots gemäß Art. 103 Abs. 2 GG. Die Sache gebe dem Bundesverfassungsgericht Gelegenheit klarzustellen, dass seine zur verfassungsrechtlichen Konkretisierung des Tatbestandsmerkmals des Vermögensnachteils in § 266 StGB beziehungsweise des Vermögensschadens in § 263 StGB entwickelten Maßstäbe ebenso für den Vermögensschaden als Merkmal der (räuberischen) Erpressung in §§ 253, 255 StGB anzuwenden seien.

3. Mit dem beim Bundesverfassungsgericht am 9. Januar 2025 eingegangenen Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung beantragt der Beschwerdeführer die Aussetzung der weiteren Vollstreckung der gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe.

II.

Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung liegen vor. Der zulässige Antrag ist begründet.

1. Nach § 32 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde wäre von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 103, 41 <42>; stRspr). Bei offenem Ausgang muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 99, 57 <66>; stRspr).

2. Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Im Rahmen der somit erforderlichen Abwägung überwiegen die Gründe für den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, könnte die ausgesprochene Freiheitsstrafe in der Zwischenzeit weiter vollstreckt werden. Dies wäre ein erheblicher, irreparabler Eingriff in das besonders gewichtige (vgl. BVerfGE 65, 317 <322>) Recht auf die Freiheit der Person (vgl. BVerfGE 22, 178 <180>; 104, 220 <234>). Erginge dagegen die einstweilige Anordnung, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später jedoch als unbegründet, wögen die damit verbundenen Nachteile deutlich weniger schwer. Zwar könnte dann die Freiheitsstrafe vorübergehend nicht vollstreckt werden. Es ist jedoch nicht ersichtlich, dass durch das Zurücktreten des öffentlichen Interesses an einer nachdrücklichen und beschleunigten Vollstreckung rechtskräftig verhängter Freiheitsstrafen hier ein erheblicher Nachteil für das Wohl der Allgemeinheit zu besorgen wäre, zumal bereits ein gewichtiger Teil der Strafe vollstreckt ist und sich der Beschwerdeführer im offenen Vollzug befindet.

HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 109

Bearbeiter: Holger Mann