HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 353
Bearbeiter: Holger Mann
Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvL 11/22, Beschluss v. 03.03.2023, HRRS 2023 Nr. 353
Die Verfahren werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.
Die Vorlagen sind unzulässig.
Die Vorlagen betreffen die Frage, ob die für Straftaten nach § 184b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Strafgesetzbuches (StGB) vorgesehene Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
Die Vorschrift des § 184b StGB lautet in ihrer derzeit geltenden Fassung:
§ 184b Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornographischer Inhalte
(1) 1Mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren wird bestraft, wer
1. einen kinderpornographischen Inhalt verbreitet oder der Öffentlichkeit zugänglich macht; kinderpornographisch ist ein pornographischer Inhalt (§ 11 Absatz 3), wenn er zum Gegenstand hat:
a) sexuelle Handlungen von, an oder vor einer Person unter vierzehn Jahren (Kind),
b) die Wiedergabe eines ganz oder teilweise unbekleideten Kindes in aufreizend geschlechtsbetonter Körperhaltung oder
c) die sexuell aufreizende Wiedergabe der unbekleideten Genitalien oder des unbekleideten Gesäßes eines Kindes,
2. es unternimmt, einer anderen Person einen kinderpornographischen Inhalt, der ein tatsächliches oder wirklichkeitsnahes Geschehen wiedergibt, zugänglich zu machen oder den Besitz daran zu verschaffen,
3. einen kinderpornographischen Inhalt, der ein tatsächliches Geschehen wiedergibt, herstellt oder
4. einen kinderpornographischen Inhalt herstellt, bezieht, liefert, vorrätig hält, anbietet, bewirbt oder es unternimmt, diesen ein- oder auszuführen, um ihn im Sinne der Nummer 1 oder der Nummer 2 zu verwenden oder einer anderen Person eine solche Verwendung zu ermöglichen, soweit die Tat nicht nach Nummer 3 mit Strafe bedroht ist.
2Gibt der kinderpornographische Inhalt in den Fällen von Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 und 4 kein tatsächliches oder wirklichkeitsnahes Geschehen wieder, so ist auf Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen.
(2) Handelt der Täter in den Fällen des Absatzes 1 Satz 1 gewerbsmäßig oder als Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung solcher Taten verbunden hat, und gibt der Inhalt in den Fällen des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 1, 2 und 4 ein tatsächliches oder wirklichkeitsnahes Geschehen wieder, so ist auf Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren zu erkennen.
(3) Wer es unternimmt, einen kinderpornographischen Inhalt, der ein tatsächliches oder wirklichkeitsnahes Geschehen wiedergibt, abzurufen oder sich den Besitz an einem solchen Inhalt zu verschaffen oder wer einen solchen Inhalt besitzt, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren bestraft.
(4) Der Versuch ist in den Fällen des Absatzes 1 Satz 2 in Verbindung mit Satz 1 Nummer 1 strafbar.
(…)
Diese Fassung geht auf das Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder (BGBl I 2021 S. 1810 ff.) zurück, das mit Wirkung zum 1. Juli 2021 den Strafrahmen für die Verbreitung, den Erwerb und den Besitz von Kinderpornographie verschärfte; die Delikte wurden als Verbrechen qualifiziert. Mit der Verschärfung sollte stärker als bisher die Schwere des Vorwurfs deutlich und eine dieser Schwere angemessene Bestrafung sichergestellt werden.
Eine Ausnahme hiervon bildet der Fall der sogenannten fiktiven Kinderpornographie. In Absatz 1 wurde ein Satz 2 eingefügt; danach gilt für Taten mit kinderpornographischem Inhalt, der kein tatsächliches oder wirklichkeitsnahes Geschehen wiedergibt, der bisherige Strafrahmen von drei Monaten bis zu fünf Jahren. Der Gesetzgeber hielt bei diesen Taten eine Strafrahmenverschiebung nicht für verhältnismäßig (vgl. BTDrucks 19/23707, S. 23).
Die Notwendigkeit zur Regelung eines minder schweren Falls sah der Gesetzgeber nicht. Die in dem Grundtatbestand abstrakt vertypte Schwere des Delikts erlaube es, von einer solchen Regelung abzusehen. Ziel der Gesetzesänderung sei, dass sich die Schwere der Tat stärker als bisher in den Verurteilungen widerspiegele. Das solle für alle Fälle der sexualisierten Gewalt gegen Kinder gelten, denn hinter Kinderpornographie stehe häufig sexualisierte Gewalt gegen Kinder (vgl. BTDrucks 19/23707, S. 22 f., 41). Die Gesetzesänderung bezwecke damit das klare Signal, dass sexuelle Handlungen mit Kindern nie als leichte Fälle eingeordnet werden könnten. Angesichts der furchtbaren Folgen, die sexualisierte Gewalt für Kinder haben könne, sei das Absehen von einer solchen Regelung eines minder schweren Falls nicht unverhältnismäßig (vgl. BTDrucks 19/23707, S. 38 zu § 176 StGB).
1. a) Wie sich aus den Akten ergibt, erhob im Ausgangsverfahren des Amtsgerichts München die Staatsanwaltschaft gegen die Angeschuldigte Anklage zum Schöffengericht unter anderem wegen der Verbreitung und Drittbesitzverschaffung kinderpornographischer Inhalte.
Die achtjährige Tochter der Angeschuldigten war mit einem gleichaltrigen Mädchen in einer Schulklasse. Dieses versandte in einem Privatchat eine von ihr selbst gefertigte Großaufnahme ihres entblößten Intimbereichs an die Tochter der Angeschuldigten. Aus Verärgerung und zur Warnung soll die Angeschuldigte einen Screenshot des Chats mit dem Bild in eine WhatsApp-Gruppe der Eltern der Klassenkameraden und in einem Privatchat mit der Mutter des Mädchens hochgeladen haben. Die Angeschuldigte hatte im Ermittlungsverfahren die vorgeworfene Handlung weitgehend eingeräumt, allerdings aufgrund ihrer Motive ein bedingt vorsätzliches Handeln bestritten oder hierin jedenfalls einen Rechtfertigungsgrund gesehen.
b) Der für die Eröffnung des Hauptverfahrens zuständige Richter entschied mit Beschluss vom 17. Juni 2022, das Verfahren auszusetzen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungskonformität von § 184b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB einzuholen. Aufgrund der geständigen Einlassung der Angeschuldigten hielt es die Angeschuldigte hinsichtlich der in der Anklageschrift vorgeworfenen Straftaten allerdings für hinreichend verdächtig im Sinne des § 203 StPO.
Die Angeschuldigte habe aus Empörung über das zuvor erfolgte Handeln des Mädchens gehandelt und sei mit ihrer Art, damit umzugehen, völlig über das Ziel hinausgeschossen. Sie habe jedoch sicher ohne pädosexuellen Hintergrund gehandelt, im Vordergrund ihres Handelns dürfte die Bloßstellung des Kindes gegenüber anderen Eltern gestanden haben. Es dürfte weder ein Tatbestandsirrtum im Sinne des § 16 StGB noch eine Rechtfertigung für ihr Verhalten im Sinne eines rechtfertigenden Notstandes gegeben sein. Möglicherweise sei die Angeschuldigte aber einem vermeidbaren Verbotsirrtum unterlegen, sodass gegebenenfalls eine Strafmilderung nach § 17 Satz 2 StGB in Betracht komme.
Aus Sicht des Amtsgerichts begegnet die Strafrahmenverschiebung und Qualifikation als Verbrechen verfassungsrechtlichen Bedenken, da mangels Regelung eines minder schweren Falles für den denkbar harmlosesten Fall nunmehr zwingend eine Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe zu verhängen sei. Im Übrigen begegne die Strafvorschrift des § 184b Abs. 1 StGB keinen Bedenken.
aa) Die Strafrahmenverschiebung verstoße gegen das Übermaßverbot und greife daher verfassungswidrig in das Grundrecht auf „freiheitliche Entfaltung der Persönlichkeit gemäß Art. 2 Abs. 2 GG“ ein. Ausgangspunkt der Strafrahmenverschiebung im Sexualstrafrecht seien einige spektakuläre Fälle der Kinderpornographie und des sexuellen Missbrauchs von Kindern gewesen. Der Gesetzgeber sei bei der Gesetzesänderung aber seinerseits weit über das Ziel hinausgeschossen, was bei relativ unerheblichen oder außergewöhnlich „harmlosen“ Fällen zu nicht mehr hinnehmbaren Ergebnissen führe. Für solche Fälle fehle eine gesetzliche Regelung, insbesondere ein minder schwerer Fall mit reduzierter Mindeststrafe.
Der zur Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens berufene Richter verweist auf seine 17-jährige Erfahrung auf dem Gebiet der strafrechtlichen Sanktion von Kinderpornographie, die zu der gesicherten Erkenntnis führe, dass die in der Vergangenheit ausgeurteilten Strafen grundsätzlich geeignet waren, die Täter vor erneuter einschlägiger Straffälligkeit abzuschrecken.
bb) Das Amtsgericht bildet - auf der Grundlage eines von ihm im Hinblick auf den sexuellen Missbrauch von Kindern tatsächlich verhandelten Falles - ein fiktives Beispiel für einen „außergewöhnlich harmlosen Fall“ zum § 184b StGB: Ein 22-jähriger habe - so der tatsächliche Fall - auf der Geburtstagsparty seiner Freundin, eines 13-jährigen Mädchens, diese noch vor Mitternacht und damit vor ihrem 14. Geburtstag „in sexuell bestimmter Weise geküsst“. Würde ein Gast von diesem Kuss ein Foto machen und in die für die Party gegründete WhatsApp-Gruppe stellen, verbreitete er hierdurch Kinderpornographie und wäre nach § 184b Abs. 1 StGB zu einer Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe zu verurteilen. Entsprechendes gelte nach § 184b Abs. 3 StGB für die Teilnehmer der WhatsApp-Gruppe, sofern diese das Bild nicht unmittelbar löschten. Während das § 176 StGB betreffende Verfahren Jahre später völlig zurecht gemäß § 153a StPO eingestellt worden sei, sei dies für fiktive Besitzer von Fotos dieses Kusses seit der Gesetzesänderung nicht mehr möglich.
Die Verurteilung zu mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe habe für die Angeklagten weitreichende Konsequenzen, da diese auch im Falle der Strafaussetzung zur Bewährung zukünftig als erheblich vorbestraft gölten und einen entsprechenden Eintrag im Führungszeugnis hätten.
Weiter sei zu berücksichtigen, dass nicht nur die eigentliche Strafe „Wirkung“ auf den Täter entfalte, sondern eine Verurteilung auch mit gravierenden sozialen und finanziellen Beeinträchtigungen einhergehe. Ein Ermittlungsverfahren wegen Kinderpornographie führe regelmäßig zur Durchsuchung der Wohnung und/oder des Arbeitsplatzes, sodass das soziale Umfeld hiervon Kenntnis erlange. Des Weiteren erfolge die Sicherstellung oder Beschlagnahme aller elektronischer Geräte mit Speichermedien, sodass hierdurch dem Täter plötzlich sämtliche Verbindungsmöglichkeiten in den sozialen Medien genommen würden. Aufgrund der Kostenfolge des § 465 Abs. 1 StPO habe ein Täter auch die erheblichen Sachverständigenkosten zu tragen, welche zur Auswertung der sichergestellten oder beschlagnahmten Speichermedien erforderlich seien und im Einzelfall bis zu knapp 20.000 Euro betragen könnten. Daher bedürfe es zur schuldangemessenen Aburteilung solcher Fälle, die einen minder schweren Fall darstellten, keiner Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr.
cc) Die Heraufstufung von § 184b Abs. 1 StGB zum Verbrechen verstoße auch gegen Art. 12 GG. Nunmehr sei bei relativ harmlosen Fällen eine Einstellung des Verfahrens nach §§ 153, 153a StPO und damit die Vermeidung eines Eintrags ins Führungszeugnis nicht mehr möglich. Je nach beruflicher Situation des Angeklagten könne dies gravierende Folgen haben. Dies betreffe beispielsweise Erzieher, Lehrer, Nachhilfelehrer oder auch Leiter von Jugendgruppen, die ein sogenanntes erweitertes Führungszeugnis nach § 30a BZRG vorlegen müssten. Ebenso seien Beamte betroffen, da diese nach § 41 Abs. 1 Nr. 1 BBG oder den vergleichbaren gesetzlichen Vorschriften der Länder mit dem Tag der Rechtskraft des Urteils ihre Beamtenstellung verlören. Unter dem Gesichtspunkt der Resozialisierung des Täters stelle sich die Frage, ob für harmlose Fälle tatsächlich eine derart gravierende Einwirkung auf die berufliche Existenz unumgänglich sei, da gerade diese sehr weitreichenden Konsequenzen durch die Regelung eines minder schweren Falles in ein angemessenes Verhältnis gebracht werden könnten.
2. a) Im Ausgangsverfahren des Amtsgerichts Wuppertal erhob die Staatsanwaltschaft gegen den Angeschuldigten Anklage zum Schöffengericht wegen der Verbreitung kinderpornographischer Inhalte. Dem Angeschuldigten wurde zur Last gelegt, über den Internetdienst Instagram mit seinem Mobiltelefon eine Videodatei kinderpornographischen Inhalts mit einer Spiellänge von 14 Sekunden hochgeladen und versandt zu haben. Die Videodatei zeigt einen etwa sieben bis neun Jahre alten Jungen. Er hält ein Huhn vor sich fest und penetriert dieses für einen kurzen Moment, woraufhin das Huhn aufschreit und vom Jungen losgelassen wird. Der Junge schaut sodann in die Richtung der Kamera, zeigt sich belustigt und unbekümmert. Der Angeschuldigte hatte im Ermittlungsverfahren im Rahmen seiner Vernehmung die vorgeworfene Handlung eingeräumt. Ihm sei nicht bewusst gewesen, dass es sich dabei um Kinderpornographie handle und die Verbreitung verboten sei. Das Video habe er im Internet gefunden, es sei nur Spaß gewesen.
b) Noch vor Eröffnung des Hauptverfahrens entschied das Amtsgericht mit Beschluss vom 17. Oktober 2022, das Verfahren auszusetzen und die Sache dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen. Aufgrund der geständigen Einlassung im Rahmen der Beschuldigtenvernehmung hält das Amtsgericht den Angeschuldigten hinsichtlich der in der Anklageschrift vorgeworfenen Straftat für hinreichend verdächtig im Sinne des § 203 StPO.
aa) Der Sachverhalt erfüllt nach der Überzeugung des Amtsgerichts jedenfalls den Tatbestand des § 184b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB, denn der Angeschuldigte habe mit der bewussten Übersendung der Videodatei an seinen Freund/Bekannten über Instagram dieser Person kinderpornographischen Inhalt zugänglich gemacht. Nach der Legaldefinition in § 184b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB sei ein pornographischer Inhalt unter anderem dann kinderpornographisch, wenn er sexuelle Handlungen von Kindern unter 14 Jahren zum Gegenstand habe. Obgleich damit sexuelle Handlungen von einiger Erheblichkeit gemeint seien, sei die Schwelle im vorliegenden Fall überschritten. Das Video zeige nämlich nicht nur den gut sichtbaren erigierten Penis des Jungen, sondern es sei auch erkennbar, wie er diesen in das vor ihm mit den Händen festgehaltene Huhn einführe. Der Aufschrei des Huhnes und die belustigte Reaktion des Jungen nähmen der Handlung nicht die Erheblichkeit und änderten an der Einordnung als sexuelle Handlung nichts.
bb) Das Amtsgericht hält die Strafrahmenuntergrenze von einem Jahr Freiheitsstrafe für verfassungswidrig und sieht keine Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung.
Die Strafrahmenuntergrenze verstoße gegen das Übermaßverbot und sei daher verfassungswidrig. Das Übermaßverbot sei verletzt, wenn bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht sowie der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit für die Adressaten des Verbots nicht mehr gewahrt sei. Daraus folge für das Strafrecht, dass die Schwere einer Straftat und das Verschulden des Täters zu der Strafe in einem gerechten Verhältnis stehen müssten. Tatbestand und Rechtsfolge seien sachgerecht aufeinander abzustimmen. Dem Gericht sei bewusst, dass dem Gesetzgeber bei der Bemessung des Strafrahmens ein weiterer Gestaltungsspielraum zugebilligt werde. Dieser finde aber seine Grenze, wenn sich die angedrohte Strafe nach Art und Maß der strafbewehrten Handlung als schlechthin unangemessen oder gar grausam, unmenschlich oder erniedrigend darstelle.
(1) Das Amtsgericht ist der Auffassung, dass bei § 184b StGB Sachverhaltskonstellationen denkbar seien - wie der dem Verfahren zugrunde liegende Sachverhalt -, in denen eine Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe dem Unrechtsgehalt der Tat in keiner Weise mehr gerecht werde und eine derart harte Sanktion für den Täter bedeute, dass die zu verhängende Strafe zu schlechthin unangemessenen Ergebnissen führe. Die vorliegende Bilddatei sei nicht auf die Befriedigung sexueller Bedürfnisse ihrer Betrachter ausgelegt, sondern kursiere im Internet als „Spaßvideo“. Weiterhin agiere der Junge alleine und ohne von außen wirkenden körperlichen Zwang. Obwohl der objektive Unrechtsgehalt der Tat im unteren Bereich des denkbaren Spektrums liege und noch weitere strafmildernde Umstände für den Angeschuldigten stritten, sei nach dem Gesetz bei einer Verurteilung mindestens eine Freiheitsstrafe von einem Jahr auszusprechen, weil § 184b StGB keine Regelung zum minder schweren Fall enthalte. Eine mögliche Verurteilung könne für den Angeschuldigten über die eigentliche Strafe hinaus noch weitere gravierende Folgen nach sich ziehen. Die Strafe sei zwingend im Führungszeugnis zu vermerken, sodass bei einer Bewerbung unter Vorlage des Führungszeugnisses oder bei einer Adoption Nachteile drohten. Für einen Beamten würde eine Verurteilung weiterhin gemäß § 24 BeamtStG zu einem Verlust der Beamtenrechte führen.
(2) Der Gesetzgeber habe sich von den in den Jahren 2017 bis 2020 bekanntgewordenen Missbrauchsfällen von Staufen, Bergisch Gladbach, Lüdge und Münster leiten lassen. Es sei den Strafverfolgungsbehörden bewusst die Möglichkeit der Verfahrenseinstellung aus der Hand genommen worden, um härtere Strafen zu erreichen und eine spezialpräventive Wirkung zu entfalten (vgl. Referentenentwurf zum Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder, S. 40). Lediglich bei fiktiver Kinderpornographie sei der Gesetzgeber von einem geringeren Unrecht ausgegangen. Er müsse angenommen haben, mit dieser Sonderregelung alle notwendigen Ausnahmen hinreichend erfasst zu haben, weshalb es der generellen Möglichkeit für eine reduzierte Strafe nicht mehr bedürfe. Dabei habe der Gesetzgeber jedoch übersehen, dass es Sachverhaltskonstellationen gebe, welche von ihrem Unrechtsgehalt so deutlich gegenüber dem gesetzgeberischen Leitbild zurückblieben, dass für eine verfassungskonforme Strafe auch ihnen eine reduzierte Strafandrohung, sei es mittels Regelung eines minder schweren Falls oder einer anderweitigen tatbestandlichen Ausklammerung, zukommen müsse.
(3) Die Gesetzesänderung bei § 184b StGB führe auch zu einem Wertungswiderspruch, da der Besitz und die Verbreitung von Kinderpornographie härter bestraft werde als die Person, die das Kind zur Vornahme der in der Filmsequenz zu sehenden sexuellen Handlung ermuntere oder auffordere. Diese Person müsse sich womöglich nur nach § 176a StGB verantworten. Dessen Strafrahmen betrage sechs Monate bis zu zehn Jahre Freiheitsstrafe und ermögliche somit die Einstellung des Verfahrens nach § 153a StPO.
(4) Das Amtsgericht ist der Auffassung, dass eine verfassungskonforme Auslegung der Norm nicht möglich ist. Der Wortlaut lasse keine Interpretation zu, mit der das Geschehen auf Tatbestandsseite aussortiert und als straffrei bewertet werden könne. Auf der Rechtsfolgenseite seien ebenfalls keine Spielräume gegeben, um zu einer geringeren Freiheitstrafe zu gelangen. Auch wenn der Angeschuldigte beim Versenden des Videos vorliegend nicht in dem Bewusstsein gehandelt habe, sich der Verbreitung von Kinderpornographie schuldig gemacht zu haben, komme keine Strafmilderung des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuchs zur Anwendung. Aufgrund der Qualifikation als Verbrechen sei auch eine Einstellung des Verfahrens nach § 153 oder § 153a StPO nicht möglich.
cc) Das Amtsgericht sieht die Frage der Verfassungskonformität von § 184b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB für entscheidungserheblich an, da im Eröffnungsbeschluss diejenigen Strafvorschriften anzugeben seien, nach denen sich der Angeschuldigte strafbar gemacht haben solle. Daher stünde der Entscheidungserheblichkeit nicht entgegen, dass noch keine endgültige Sachentscheidung getroffen werde.
Die Vorlagen sind unzulässig.
In einem Normenkontrollverfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG muss die Begründung der Vorlage angeben, inwiefern die Entscheidung des vorlegenden Gerichts von der Gültigkeit der Rechtsvorschrift abhängt und mit welcher übergeordneten Rechtsnorm sie unvereinbar ist (§ 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG). Dabei muss der Vorlagebeschluss aus sich heraus verständlich sein, da der Begründungszwang des § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG das Bundesverfassungsgericht entlasten soll (stRspr; vgl. BVerfGE 22, 175 <177>; 65, 265 <277>; 141, 1 <10 Rn. 22>; 153, 310 <333 Rn. 55>; 159, 149 <170 Rn. 58>). Folglich hat das vorlegende Gericht den zugrunde liegenden Sachverhalt, soweit er für die verfassungsrechtliche Beurteilung wesentlich ist, und die maßgeblichen rechtlichen Erwägungen im Vorlagebeschluss erschöpfend darzulegen und vollständig aufzuklären (vgl. BVerfGE 22, 175 <177>; 37, 328 <333 f.>; 65, 308 <314>; 66, 265 <268>; 68, 311 <316>). Es muss sich mit der einfachrechtlichen Rechtslage auseinandersetzen, seine einschlägige Rechtsprechung erschöpfend darlegen und die in Schrifttum und Rechtsprechung entwickelten Rechtsauffassungen berücksichtigen, die für die Auslegung der vorgelegten Rechtsvorschrift von Bedeutung sind (vgl. BVerfGE 136, 127 <142 Rn. 45, 145 ff. Rn. 53 ff.>; 138, 1 <13 Rn. 37>; 141, 1 <11 Rn. 22>).
Ausgehend von diesen Maßstäben genügen die Vorlagebeschlüsse den Anforderungen nicht.
1. Die Vorlage des Amtsgerichts München ist schon deshalb unzulässig, weil der Vorlagebeschluss aus sich heraus nicht verständlich ist. Das Amtsgericht München lässt eine hinreichende Sachverhaltsdarstellung vermissen und führt in seinem Vorlagebeschluss lediglich zu fiktiven Beispielsfällen aus.
2. Die Vorlage des Amtsgerichts Wuppertal ist jedenfalls deshalb unzulässig, weil das Amtsgericht im Vorlagebeschluss nicht hinreichend darlegt, dass und warum das angeklagte Tatgeschehen dem Tatbestand des § 184b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB unterfällt. Aus dem Vorlagebeschluss erschließt sich nicht, warum das Amtsgericht davon ausgehen zu können meint, dass es sich bei der vom Angeschuldigten verbreiteten Datei um einen „pornographischen Inhalt“ im Sinne des § 184b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB handelt.
§ 184b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB setzt schon nach seinem Wortlaut voraus, dass es sich um „pornographischen Inhalt“ handelt. In Rechtsprechung und Schrifttum wird - auch wenn der Begriff der Pornographie des § 184 StGB insoweit nicht vollständig übertragen wird - für die Verwirklichung des Tatbestandes verlangt, dass die Vermittlung sexueller Inhalte ausschließlich oder überwiegend auf die Erregung sexueller Reize beim Betrachter ausgerichtet ist (vgl. BGHSt 59, 177 <178 Rn. 43, 179 Rn. 49>; BTDrucks 18/3202, S. 27; Hörnle, in: Münchener Kommentar zum StGB, 4. Aufl. 2021, § 184b Rn. 14; Eisele, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 30. Aufl. 2019, § 184b Rn. 5; Ziegler, in: BeckOK StGB, 54. Edition Stand 1.8.2022, § 184b Rn. 3).
Das ist hier zweifelhaft, da das Amtsgericht selbst annimmt, dass die Bilddatei nicht auf die Befriedigung sexueller Bedürfnisse ihrer Betrachter ausgelegt ist, sondern im Internet als „Spaßvideo“ kursiert. Das Bundesverfassungsgericht ist zwar an die einfachrechtliche Einordnung des vorlegenden Gerichts grundsätzlich gebunden (vgl. BVerfGE 2, 181 <190 f.>; 105, 61 <67>; 133, 1 <10 f. Rn. 35>). Das enthebt das vorlegende Gericht indes nicht der Aufgabe, sich mit den in Rechtsprechung und Schrifttum vertretenen Auffassungen auseinanderzusetzen, die dazu führen könnten, dass es auf die Frage der Verfassungsmäßigkeit der vorgelegten Norm nicht mehr ankommt, weil deren tatbestandliche Voraussetzungen schon nicht erfüllt sind. Das ist hier nicht geschehen.
Daher bedarf es keiner weiteren Erörterung, ob das Amtsgericht seine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit des § 184b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB hinreichend begründet hat.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 353
Bearbeiter: Holger Mann