HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 520
Bearbeiter: Holger Mann
Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 156/21, Beschluss v. 27.04.2021, HRRS 2021 Nr. 520
Der Beschluss des Hanseatischen Oberlandesgerichts vom 8. Januar 2021 - Ausl 87/20 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, soweit die Auslieferung für zulässig erklärt wurde; er wird in diesem Umfang aufgehoben.
Die Sache wird an das Hanseatische Oberlandesgericht zurückverwiesen.
Die Freie und Hansestadt Hamburg hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren und für das Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten.
Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 15.000 (in Worten: fünfzehntausend) Euro und für das einstweilige Anordnungsverfahren auf 7.500 (in Worten: siebentausendfünfhundert) Euro festgesetzt.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Überstellung eines lettischen Staatsangehörigen zur Strafverfolgung nach Lettland.
1. Gegen den Beschwerdeführer besteht ein Europäischer Haftbefehl vom 9. September 2019 zur Strafverfolgung. Danach führen die lettischen Justizbehörden gegen ihn ein Ermittlungsverfahren wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln. Er soll am 19. Juni 2017 in Riga, Lettland, Betäubungsmittel erworben und weiterverkauft haben.
2. Nachdem er am 13. November 2020 vorläufig festgenommen worden war, ordnete das Hanseatische Oberlandesgericht mit Beschluss vom 17. November 2020 die förmliche Auslieferungshaft an. Der Beschwerdeführer erklärte sich mit einer vereinfachten Auslieferung nicht einverstanden.
3. Mit Schriftsatz vom 8. Dezember 2020 trug der Beschwerdeführer vor, dass aufgrund mehrerer Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und nach aktuellen Berichten des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (im Folgenden: CPT) konkrete Anhaltspunkte dafür bestünden, dass er im Falle seiner Auslieferung menschenunwürdigen Haftbedingungen ausgesetzt sei. Mehrere Haftanstalten in Lettland entsprächen nicht den Mindestanforderungen an Haftbedingungen nach Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Ausreichende Hygieneartikel würden nicht zur Verfügung gestellt und der Sanitärbereich sei vom restlichen Haftraum nicht abgetrennt. Teilweise sei die medizinische Versorgung unzulänglich und der Hygienezustand als unmenschlich und erniedrigend bezeichnet worden. Eine natürliche Lichtzufuhr in den Hafträumen sei nicht gewährleistet, teilweise fehle ein Zugang zum Freistundenhof und Untersuchungsgefangene seien in der Regel bis zu 23 Stunden am Tag eingeschlossen. Es gebe kaum Aktivitäten außerhalb der Hafträume. Lediglich einmal wöchentlich bestehe die Möglichkeit zu duschen. In mehreren Haftanstalten stelle die Gewalt zwischen Gefangenen ein großes Problem dar, welches unter anderem auf einen Mitarbeitermangel innerhalb der Haftanstalten zurückzuführen sei.
4. Am 9. Dezember 2020 bat das Oberlandesgericht die Generalstaatsanwaltschaft Hamburg um die Einholung einer Zusicherung der lettischen Behörden, dass die den Beschwerdeführer im Falle einer Auslieferung erwartenden Haftbedingungen den in Art. 3 EMRK verankerten menschenrechtlichen Mindestanforderungen genügten. Dies sei erforderlich vor dem Hintergrund des Schriftsatzes des Beschwerdeführers vom 8. Dezember 2020 und des Berichts von Amnesty International, Lettland 2019, wonach die Haftbedingungen in den lettischen Haftanstalten noch immer nicht den internationalen Standards in Bezug auf Hygiene und Sanitäranlagen, Luftfeuchtigkeit, Belüftung und ausreichendes Tageslicht genügten. Mit Schreiben vom 11. Dezember 2020 forderte die Generalstaatsanwaltschaft die lettischen Behörden zur Abgabe einer entsprechenden Zusicherung auf.
5. Die lettischen Behörden teilten mit Schreiben vom 30. Dezember 2020 mit, dass der Beschwerdeführer bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung im Strafverfahren in der zentralen Haftanstalt in Riga untergebracht werden solle. Danach werde unter Berücksichtigung der festgelegten Vollstreckungsart und der Anzahl der freien Plätze über die weitere Unterbringung entschieden. Je nach Art der verhängten Strafe werde der Beschwerdeführer in den geschlossenen oder halboffenen Vollzug überstellt. Derzeit sei in keiner der lettischen Haftanstalten die maximale Belegungsanzahl erreicht. Nach lettischen Vorschriften dürfe die individuelle Haftraumfläche nicht weniger als 4 m² betragen. Alle Hafträume seien mit Sanitäranlagen ausgestattet, die vom restlichen Raum abgegrenzt seien oder sich in einem anderen Raum befänden, wodurch der Schutz der Privatsphäre sichergestellt werde. Darüber hinaus seien genügend Frischluftzufuhr, Licht und während der kalten Jahreszeit auch eine ausreichende Beheizung sichergestellt. Es gebe in allen Hafträumen ein Sanitärbecken und einen Wasserhahn, wodurch ein ständiger Zugang zu Wasser gewährleistet sei. Für jeden Gefangenen gebe es einen individuellen Schlafplatz. Einmal wöchentlich könnten Bettwäsche und Handtücher sowie einmal monatlich Oberbekleidung gewaschen werden. Dreimal am Tag gebe es warmes Essen. Monatlich würden Hygieneartikel verteilt und einmal wöchentlich bestehe eine Duschmöglichkeit. Eine primäre und bei Indikation auch eine sekundäre medizinische Versorgung seien gewährleistet, wobei die medizinische Versorgung mit derjenigen der lettischen Bevölkerung vergleichbar sei. Deshalb seien die Behörden der Ansicht, dass in den lettischen Haftanstalten Haftverhältnisse gewährleistet seien, die die Menschenrechte der Strafgefangenen nicht verletzten.
6. Mit angegriffenem Beschluss vom 8. Januar 2021 erklärte das Hanseatische Oberlandesgericht die Auslieferung für zulässig. Zwar bestünden nach Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie Berichten des CPT Anhaltspunkte dafür, dass die Haftbedingungen in Lettland aufgrund systemischer Mängel eine Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung des Beschwerdeführers im Sinne von Art. 4 GRCh begründen können. Aufgrund der Angaben der lettischen Behörden sei jedoch sichergestellt, dass die Haftbedingungen, die er im Falle seiner Auslieferung zu erwarten habe, den in Art. 3 EMRK verankerten menschenrechtlichen Mindestanforderungen genügen. Am 13. Januar 2021 bewilligte die Generalstaatsanwaltschaft Hamburg die Auslieferung.
7. Am 14. Januar 2021 erhob der Beschwerdeführer eine Anhörungsrüge. Konkrete, im Schriftsatz vom 8. Dezember 2020 aufgeführte problematische Haftbedingungen in lettischen Haftanstalten habe der Senat nicht zur Kenntnis genommen. Die lettischen Behörden hätten nicht mitgeteilt, in welcher Haftanstalt er nach einer Verurteilung wahrscheinlich untergebracht werden würde. Es seien keine konkreten Informationen hinsichtlich der Verfügbarkeit von Tageslicht und Frischluft in den Hafträumen sowie in Bezug auf die Gewaltproblematik unter den Gefangenen eingeholt worden. Auch die Berechnung der individuellen Haftraumfläche und das Maß an Bewegungsfreiheit im Haftraum seien klärungsbedürftig, ebenso, wie abgegrenzte Sanitäranlagen zu verstehen seien. Es sei eklatant von der Entscheidung des Oberlandesgerichts Bremen vom 3. August 2016 - 1 Ausl A 14/15 - in einer die Auslieferung nach Lettland betreffenden Rechtsfrage abgewichen worden. Mit Schriftsatz vom 18. Januar 2021 trug der Beschwerdeführer ergänzend vor, dass das Oberlandesgericht verpflichtet sei, die Haftbedingungen näher aufzuklären. Die lettischen Behörden hätten keine verbindliche Zusicherung abgegeben. Die Mitteilung sei allgemein gehalten und habe keine konkrete Haftanstalt benannt.
8. Mit Beschluss vom 20. Januar 2021 wies das Hanseatische Oberlandesgericht die Anhörungsrüge zurück. Der Schriftsatz vom 8. Dezember 2020 sei vollumfänglich zur Kenntnis genommen worden. Die Mitteilung der lettischen Behörden sei zu den Berichten des CPT in Beziehung gesetzt worden. Der Senat sei zu dem Ergebnis gekommen, dass hinsichtlich der zu erwartenden Haftbedingungen kein Auslieferungshindernis bestehe. Der Beschluss des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Bremen sei durch die Urteile des Europäischen Gerichtshofs vom 15. Oktober 2019, Dorobantu, C-128/18, EU:C:2019:857, und vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft <Haftbedingungen in Ungarn>, C-220/18 PPU, EU:C:2018:859, mittlerweile überholt. Es seien nur die Haftbedingungen in der Haftanstalt zu prüfen, in denen der Beschwerdeführer nach den vorliegenden Informationen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit inhaftiert werden solle. Die Haftanstalt für eine eventuelle spätere Strafhaft sei nicht hinreichend individualisierbar. Die Auskunft der lettischen Behörden sei auf die Haftraumgröße, Frischluftzufuhr, Beleuchtung, Beheizung, Wasserversorgung, Möblierung und Schlafplatz, Ernährung, Hygiene sowie medizinische Versorgung eingegangen. Hinsichtlich der abgegrenzten Sanitärräume hätten die lettischen Behörden mitgeteilt, dass der Schutz der Privatsphäre sichergestellt sei. Sämtliche geschilderten Parameter entsprächen den Mindestanforderungen des Art. 3 EMRK. Die Nichtmitteilung der Aufschlusszeiten sei nicht geeignet, dies in Frage zu stellen. Der Senat verstehe die Erklärung der lettischen Behörden, dass in den Strafanstalten solche Haftverhältnisse gewährleistet würden, die die Menschenrechte der Strafgefangenen nicht verletzten, als Zusicherung der dargelegten Haftbedingungen.
Mit seiner am 27. Januar 2021 fristgemäß eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 1 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 und Art. 103 Abs. 1 GG sowie von Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK.
1. Trotz hinreichender Anhaltspunkte dafür, dass er im Falle seiner Auslieferung in Lettland menschenunwürdigen Haftbedingungen ausgesetzt sein werde, habe das Oberlandesgericht den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt. Das Gericht hätte weitere Informationen, insbesondere auch zu der Haftanstalt, in der er wahrscheinlich nach einer eventuellen Verurteilung inhaftiert werden könnte, einholen müssen. Die tatsächliche Haftraumgröße sei nicht mitgeteilt worden. So sei fraglich, wie diese berechnet werde, ob die Sanitärfläche einberechnet und wie diese abgegrenzt sei. Unklar bleibe auch, ob er in einer Gemeinschaftszelle oder in Einzelhaft untergebracht werden solle, wie groß die tatsächliche Bewegungsfreiheit sei, welche Lichtverhältnisse und ob eine Frischluftzufuhr gewährleistet seien sowie welche Aufschlusszeiten gelten würden. Eine konkrete Zusicherung hinsichtlich der ihn erwartenden Haftbedingungen liege nicht vor. Die Erklärung der lettischen Behörden sei auch nicht hinsichtlich ihrer Belastbarkeit überprüft worden. Die Rechtsfrage, welche Mindesthaftraumgröße für Einzelhaftzellen gälten und inwiefern Aufschlusszeiten relevant seien, hätte dem Gerichtshof der Europäischen Union vorgelegt werden müssen.
2. Zur Verfahrenssicherung hat die 1. Kammer des Zweiten Senats mit Beschluss vom 2. Februar 2021 die Übergabe des Beschwerdeführers an die lettischen Behörden einstweilen bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, untersagt.
3. Die Behörde für Justiz und Verbraucherschutz der Freien und Hansestadt Hamburg hat von einer Stellungnahme abgesehen.
4. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an. Dies ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 4 GRCh angezeigt (vgl. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden. Demnach ist die zulässige Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet (vgl. § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
1. Die angegriffene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 4 GRCh.
a) Aus Art. 4 GRCh folgt für ein mit einem Überstellungsersuchen befasstes Gericht die Pflicht, in zwei Prüfungsschritten von Amts wegen aufzuklären, ob die konkrete Gefahr besteht, dass die zu überstellende Person nach einer Übergabe einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein wird (vgl. Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 1. Dezember 2020 - 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 -, Rn. 42 ff.).
b) Im zweiten, auf die Situation des Betroffenen bezogenen Prüfungsschritt ist das Gericht verpflichtet, genau zu prüfen, ob es unter den konkreten Umständen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die gesuchte Person im Anschluss an ihre Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat aufgrund der Bedingungen, unter denen sie inhaftiert sein wird, dort einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt sein wird. Dies erfordert eine aktuelle und eingehende Prüfung der Situation, wie sie sich zum Entscheidungszeitpunkt darstellt. Da das Verbot einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung absoluten Charakter hat, darf die vom Gericht vorzunehmende Prüfung der Haftbedingungen nicht auf offensichtliche Unzulänglichkeiten beschränkt werden, sondern muss auf einer Gesamtwürdigung der maßgeblichen materiellen Haftbedingungen beruhen (vgl. Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 1. Dezember 2020 - 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 -, Rn. 46 ff. m.w.N.).
c) Mit dem zweistufigen Prüfprogramm sind Aufklärungspflichten des mit einem Überstellungsersuchen befassten Gerichts verbunden. Aus Art. 4 GRCh folgt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union die Pflicht, im Einzelfall zu prüfen und durch zusätzliche Informationen aufzuklären, ob das Grundrecht des zu Überstellenden aus Art. 4 GRCh gewahrt ist (vgl. Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 1. Dezember 2020 - 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 -, Rn. 52).
aa) Zunächst muss sich das Gericht auf objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben über die Haftbedingungen in den Haftanstalten des Ausstellungsmitgliedstaats stützen, die das Vorliegen systemischer oder allgemeiner, bestimmte Personengruppen oder bestimmte Haftanstalten betreffender Mängel belegen können (vgl. EuGH, Urteile vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft <Haftbedingungen in Ungarn>, C-220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 60; und vom 15. Oktober 2019, Dorobantu, C-128/18, EU:C:2019:857, Rn. 52). Für die gründlich vorzunehmende Prüfung, ob es unter den konkreten Umständen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die zu überstellende Person im Anschluss an ihre Übergabe aufgrund der Haftbedingungen einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt sein wird, muss das Gericht innerhalb der nach Art. 17 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl (im Folgenden: RbEuHb) zu beachtenden Fristen den Ausstellungsmitgliedstaat um die unverzügliche Übermittlung aller notwendigen zusätzlichen Informationen in Bezug auf die Bedingungen bitten, unter denen die betreffende Person in diesem Mitgliedstaat inhaftiert werden soll. Der Ausstellungsmitgliedstaat ist verpflichtet, die ersuchten Informationen innerhalb der ihm vom ersuchten Mitgliedstaat gesetzten Frist zu übermitteln (vgl. EuGH, Urteil vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft <Haftbedingungen in Ungarn>, C-220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 64; Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 1. Dezember 2020 - 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 -, Rn. 53).
bb) Diese einzuholenden zusätzlichen Informationen sind Voraussetzung dafür, dass die Prüfung einer bestehenden Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung einer Person auf einer ausreichenden Tatsachengrundlage beruht. Das mit einem Übermittlungsersuchen befasste Gericht muss deshalb die Entscheidung über die Zulässigkeit der Übergabe so lange aufschieben, bis es die zusätzlichen Informationen erhalten hat, die es ihm gestatten, das Vorliegen einer solchen Gefahr auszuschließen. Kann das Vorliegen einer solchen Gefahr nicht innerhalb einer angemessenen Frist ausgeschlossen werden, muss das Gericht darüber entscheiden, ob das Übergabeverfahren zu beenden ist (vgl. Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 1. Dezember 2020 - 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 -, Rn. 54 m.w.N.).
cc) Art. 15 Abs. 2 RbEuHb verpflichtet das mit einem Überstellungsersuchen befasste Gericht zur Einholung zusätzlicher, für die Übergabeentscheidung notwendiger Informationen. Als Ausnahmebestimmung kann diese Regelung nicht dazu herangezogen werden, die Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats systematisch um allgemeine Auskünfte zu den Haftbedingungen in den dortigen Haftanstalten zu ersuchen. Die gerichtliche Aufklärungspflicht bezieht sich nicht auf die allgemeinen Haftbedingungen in sämtlichen Haftanstalten. Unter Berücksichtigung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens und der für den europäischen Rechtshilfeverkehr vorgesehenen Fristen beschränkt sich diese vielmehr auf die Prüfung derjenigen Haftanstalten, in denen die gesuchte Person nach den vorliegenden Informationen wahrscheinlich, sei es auch nur vorübergehend oder zu Übergangszwecken, konkret inhaftiert werden soll (vgl. EuGH, Urteile vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft <Haftbedingungen in Ungarn>, C-220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 84 bis 87 und Rn. 117; und vom 15. Oktober 2019, Dorobantu, C-128/18, EU:C:2019:857, Rn. 64 bis 66; Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 1. Dezember 2020 - 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 -, Rn. 55).
d) Hat der Ausstellungsmitgliedstaat eine Zusicherung abgegeben, dass die betroffene Person unabhängig von der Haftanstalt, in der sie im Ausstellungsmitgliedstaat inhaftiert wird, keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung erfahren werde, muss sich das mit einem Überstellungsersuchen befasste Gericht auf eine solche konkrete Zusicherung zumindest dann verlassen, wenn keine tatsächlichen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Haftbedingungen in einer bestimmten Haftanstalt gegen Art. 4 GRCh verstoßen. Auch eine Zusicherung des Ausstellungsmitgliedstaats entbindet das mit einem Überstellungsersuchen befasste Gericht aber nicht von der Pflicht, zunächst eine eigene Gefahrenprognose anzustellen, um so die Belastbarkeit einer Zusicherung einschätzen zu können. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände darf das Gericht auf der Grundlage konkreter Anhaltspunkte feststellen, dass für die betroffene Person trotz der Zusicherung eine echte Gefahr besteht, aufgrund der Bedingungen ihrer Inhaftierung im Ausstellungsmitgliedstaat einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh unterworfen zu werden (vgl. Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 1. Dezember 2020 - 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 -, Rn. 56 m.w.N.).
e) Nach diesen Maßstäben hält die angegriffene Entscheidung einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht stand. Das Hanseatische Oberlandesgericht ist seiner Verpflichtung nach Art. 4 GRCh, auf der zweiten Prüfungsstufe im Einzelfall zu prüfen und durch zusätzliche Informationen aufzuklären, ob der Beschwerdeführer nach seiner Überstellung in einer lettischen Haftanstalt einer Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt sein wird, nicht hinreichend nachgekommen.
aa) Die Beschränkung der gerichtlichen Prüfung auf die Haftanstalt der Untersuchungshaft wird den genannten Anforderungen nicht gerecht, weil die Einzelfallprüfung auf die Haftbedingungen der Haftanstalten zu beziehen ist, in denen der Beschwerdeführer nach den vorliegenden Informationen wahrscheinlich, sei es auch nur vorübergehend oder zu Übergangszwecken, konkret inhaftiert werden soll (vgl. EuGH, Urteil vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft <Haftbedingungen in Ungarn>, C-220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 84 bis 87 und Rn. 117; Urteil vom 15. Oktober 2019, Dorobantu, C-128/18, EU:C:2019:857, Rn. 64 bis 66; Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 1. Dezember 2020 - 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 -, Rn. 55). Auch die lettischen Behörden gehen nach ihrer Mitteilung bei einer Verurteilung des Beschwerdeführers von einer Unterbringung im geschlossenen oder im halboffenen Vollzug einer lettischen Haftanstalt aus, selbst wenn noch keine konkrete Anstalt benannt werden kann.
bb) Ferner lassen sich der Mitteilung der lettischen Behörden in Bezug auf die vom Oberlandesgericht aufgrund von CPT-Berichten beziehungsweise eines Berichts von Amnesty International erfragten Haftbedingungen, insbesondere hinsichtlich Luftfeuchtigkeit, Belüftung und ausreichendem Tageslicht, aber auch in Bezug auf die Aufschlusszeiten keine konkreten Informationen entnehmen. Daher fehlt es insoweit an einer hinreichenden Tatsachengrundlage für die Einzelfallprüfung des Gerichts. Eine solche Prüfung war nicht etwa entbehrlich, weil das Oberlandesgericht die Mitteilung der lettischen Behörden als Zusicherung der darin beschriebenen Haftbedingungen verstanden hat.
cc) Zwar ist eine rechtsverbindliche Zusicherung vom ersuchenden Mitgliedstaat grundsätzlich geeignet, etwaige Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit einer Überstellung auszuräumen. Der Mitteilung der lettischen Behörden lässt sich indes keine auf den konkreten Fall zugeschnittene Zusicherung hinsichtlich der Haftbedingungen entnehmen, die der Beschwerdeführer im Falle seiner Überstellung unabhängig von der Haftanstalt zu erwarten hat, in der er in Lettland inhaftiert werden wird (vgl. Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 1. Dezember 2020 - 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 -, Rn. 56). Die Ausführungen beschränken sich vielmehr auf eine allgemeine Wiedergabe der nach der lettischen Gesetzeslage vorgeschriebenen Haftbedingungen und enthalten keine auf den Beschwerdeführer bezogenen verbindlichen Erklärungen. Damit wird der Zweck einer konkreten Zusicherung nicht erfüllt.
dd) Darüber hinaus hat es das Oberlandesgericht versäumt, die von den lettischen Behörden abgegebene Erklärung hinsichtlich ihrer Belastbarkeit zu überprüfen. Selbst wenn die Mitteilung als eine konkrete, auf den Beschwerdeführer bezogene Zusicherung ausgelegt werden könnte, entbindet dies das Gericht nicht von der Pflicht, zunächst eine eigene Gefahrenprognose anzustellen, um so die Belastbarkeit einer Zusicherung einschätzen zu können (vgl. Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 1. Dezember 2020 - 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 -, Rn. 56). Hieran fehlt es.
2. Da die Verfassungsbeschwerde bereits wegen der Verletzung von Art. 4 GRCh Erfolg hat, bedarf es keiner Entscheidung, ob die angegriffene Entscheidung auch andere Unionsgrundrechte des Beschwerdeführers verletzt.
Der Beschluss des Hanseatischen Oberlandesgerichts vom 8. Januar 2021 - Ausl 87/20 - wird, soweit er die Zulässigkeit der Auslieferung betrifft, aufgehoben; die Sache wird an das Oberlandesgericht zurückverwiesen (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2, § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG).
Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Die Festsetzung des Gegenstandswertes für die anwaltliche Tätigkeit stützt sich auf § 37 Abs. 2 Satz 2, § 14 Abs. 1 RVG in Verbindung mit den Grundsätzen über die Festsetzung des Gegenstandswertes im verfassungsgerichtlichen Verfahren (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).
HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 520
Bearbeiter: Holger Mann