HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 873
Bearbeiter: Holger Mann
Zitiervorschlag: BVerfG, 1 BvR 2124/21, Beschluss v. 23.05.2023, HRRS 2023 Nr. 873
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine strafrechtliche Verurteilung wegen Volksverhetzung. Im Mittelpunkt steht die Frage, ob ein selbst gestalteter Aufkleber, der einen Zusammenhang zwischen der Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (im Folgenden: die/den Grünen) und Pädophilie herstellt, von der Meinungs- beziehungsweise Kunstfreiheit gedeckt ist.
1. Der Beschwerdeführer hatte einen Aufkleber entworfen, auf dem vor einem grünen Hintergrund verschiedene Symbole und Text dargestellt werden. Oben rechts befindet sich ein weißer Text in Versform, der lautet: „Wir ficken Kinder bei jeder Gelegenheit - egal, ob ihr dafür oder ob ihr dagegen seid.“ Darunter befindet sich eine gelbe Sonnenblume, die zu ihrer linken Seite unvollständig ist. Links neben der Sonnenblume befindet sich ein weißer großgeschriebener Text, der lautet: „UND DU?“. Auf der linken Hälfte des Aufklebers sind zwei Strichmännchen, ein weißes und ein schwarzes, dargestellt. Das weiße Strichmännchen ist kleiner, liegt auf dem Rücken auf einer weißen Unterlage und streckt Arme und Beine nach oben. Es soll sich augenscheinlich um ein Kind handeln, das auf einem Wickeltisch liegt. Direkt rechts daneben steht das schwarze größere Strichmännchen, das augenscheinlich eine erwachsene Person darstellen soll. Der Wickeltisch und das Kind befinden sich ungefähr auf Bauchhöhe der Person. Die Person hält ihre Hände am Gesäß des Kindes und beugt sich mit dem Oberkörper nach hinten. Unter den beiden Strichmännchen befindet sich ein weißer großgeschriebener Text mit blauem Unterstrich, der lautet: „INZEST 90 DIE PÄDOPHILEN“.
Diesen Aufkleber ließ der Beschwerdeführer in Auflage von mindestens 100 Stück drucken. Im Mai 2019 verteilte er die Aufkleber sodann auf einer Gegendemonstration gegen eine Veranstaltung der Partei Alternative für Deutschland in Hannover an mehrere Personen, unter anderem an einen Minderjährigen und eine Frau mittleren Alters auf einem Fahrrad, an dem eine Fahne der Grünen befestigt war.
2. Wegen der Verteilung der Aufkleber verurteilte das Amtsgericht Hannover den Beschwerdeführer mit angegriffenem Urteil wegen Volksverhetzung. Der Beschwerdeführer habe sich gemäß § 130 Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe c StGB strafbar gemacht, weil er eine Schrift verbreitet beziehungsweise einem Minderjährigen ausgehändigt habe, die die Menschenwürde eines Teils der Bevölkerung - der Parteimitglieder der Grünen - dadurch angreife, dass diese beschimpft, böswillig verächtlich gemacht oder verleumdet würden.
Der Beschwerdeführer könne sich nicht auf die Meinungsfreiheit stützen und der Aufkleber unterliege auch nicht etwa als Satire dem Schutz der Kunstfreiheit. Zwar habe der Beschwerdeführer hier ausgeführt, dass es sein Ziel gewesen sei, mit dem Verteilen des Aufklebers auf die seiner Ansicht nach nicht ausreichend geführte Debatte über Pädophilie-Fälle bei den Grünen aufmerksam machen zu wollen. Auch müssten die Grünen vor dem Hintergrund der historischen und aktuellen Ereignisse in diesem Kontext in erhöhtem Maße Kritik erdulden. Zudem möge die Aufschrift „INZEST 90 DIE PÄDOPHILEN“ für sich genommen einen satirischen Charakter haben. Der Aufkleber stelle aber in der Gesamtschau die persönliche Kränkung der Parteimitglieder der Grünen in den Vordergrund, indem bildlich und sprachlich unwahr und in hohem Maße ehrverletzend behauptet werde, Parteimitglieder seien aktuell und in einer Vielzahl von Fällen Täter schweren sexuellen Kindesmissbrauchs.
Berufung und Revision blieben vor dem Landgericht und dem Oberlandesgericht ohne Erfolg. Nach der vom Landgericht im Berufungsurteil geteilten Deutung des Amtsgerichts stellt der Aufkleber die Penetration eines (Wickel-)Kindes durch einen Erwachsenen stilisiert dar.
3. Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 5 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 1 GG durch die angegriffenen Entscheidungen und trägt im Wesentlichen vor, die Gerichte hätten den satirischen Charakter des Aufklebers verkannt.
Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil keine zwingenden Annahmegründe nach § 93a Abs. 2 BVerfGG vorliegen und auch sonst kein Grund für ihre Annahme ersichtlich ist. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig.
1. Der Beschwerdeführer hat den in Art. 94 Abs. 2 Satz 2 GG angelegten und in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zum Ausdruck kommenden Grundsatz der Subsidiarität nicht gewahrt.
a) Die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde verlangt, dass ein Beschwerdeführer vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde alle zur Verfügung stehenden und zumutbaren prozessualen Möglichkeiten ergreift, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern (vgl. BVerfGE 123, 148 <172>; 134, 242 <285 Rn. 150>; stRspr). Das gilt auch, wenn zweifelhaft ist, ob ein entsprechender Rechtsbehelf statthaft ist und im konkreten Fall in zulässiger Weise eingelegt werden kann (vgl. BVerfGE 70, 180 <185>; 91, 93 <106>).
b) Das Gebot der Erschöpfung des Rechtswegs nach § 90 Abs. 2 BVerfGG und der daran anknüpfende Grundsatz der materiellen Subsidiarität fordern zwar nicht, dass ein Beschwerdeführer das fachgerichtliche Verfahren bereits als „Verfassungsprozess“ führt, also von Beginn des fachgerichtlichen Verfahrens an verfassungsrechtliche Erwägungen und Bedenken geltend macht (vgl. BVerfGE 112, 50 <60 f.>). Etwas anderes gilt aber in den Fällen, in denen bei verständiger Einschätzung der Rechtslage und der jeweiligen verfahrensrechtlichen Situation ein Begehren nur dann Aussicht auf Erfolg haben kann, wenn verfassungsrechtliche Erwägungen in das fachgerichtliche Verfahren eingeführt werden. Das ist insbesondere der Fall, wenn der Ausgang des Verfahrens von der Verfassungswidrigkeit einer Vorschrift abhängt oder eine bestimmte Normauslegung angestrebt wird, die ohne verfassungsrechtliche Erwägungen nicht begründbar ist (vgl. BVerfGE 112, 50 <62>). Verfassungsrechtliche Darlegungen sind zudem veranlasst, wenn nach dem fachgerichtlichen Verfahrensrecht der Antrag auf Zulassung eines Rechtsmittels oder das Rechtsmittel selbst auf die Verletzung von Verfassungsrecht zu stützen sind (vgl. BVerfGE 112, 50 <62>). In solchen Fällen hat ein Beschwerdeführer, um dem Gebot der Rechtswegerschöpfung und dem Grundsatz der materiellen Subsidiarität zu genügen, die Fachgerichte in geeigneter Weise mit der verfassungsrechtlichen Frage zu befassen, bevor sich das Bundesverfassungsgericht im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde mit der Behauptung des Beschwerdeführers befasst, er sei durch die angegriffenen gerichtlichen Entscheidungen und durch die darin angewandten Vorschriften in seinen Grundrechten verletzt (vgl. BVerfGE 112, 50 <62 f.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 30. März 2011 - 1 BvR 1146/08 -, Rn. 12).
c) Die Verfassungsbeschwerde genügt dem Subsidiaritätsgrundsatz nicht.
aa) Der Beschwerdeführer hat ausweislich der Entscheidung des Oberlandesgerichts eine statthafte Verfahrensrüge nicht zulässig erhoben. Daher war das Oberlandesgericht an den vom Landgericht festgestellten Inhalt des Augenscheinsobjekts mit der stilisierten Darstellung der Penetration eines (Wickel-)Kindes durch einen Erwachsenen gebunden. Auf dieser Feststellung beruht die rechtliche Würdigung des Sachverhalts. Da der Beschwerdeführer die Revisionsbegründungsschrift nicht vorgelegt und auch deren wesentlichen Inhalt nicht mitgeteilt hat, ist nicht ersichtlich, dass er alle zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergriffen hat, um die gerügte Grundrechtsverletzung aus der Welt zu schaffen. Insbesondere kann er nicht mit dem Einwand gehört werden, der Aufkleber zeige nicht die Penetration eines Kindes. Darüber hinaus ist offen, ob eine zulässig erhobene Verfahrensrüge nicht möglicherweise zur Aufhebung des Urteils des Landgerichts und somit zum Wegfall der Beschwer geführt hätte.
bb) Weiter ist nicht ersichtlich, inwiefern der Beschwerdeführer vor dem Oberlandesgericht in einer den Anforderungen der materiellen Subsidiarität genügenden Weise auf einen möglichen Einfluss der Kunstfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 GG hingewiesen hat. Da die Revisionsbegründungsschrift nicht vorliegt und das Oberlandesgericht sich zwar ausführlich mit der Meinungsfreiheit, aber nur sehr kurz mit der Kunstfreiheit auseinandergesetzt hat, ist nicht ersichtlich, dass der Beschwerdeführer im Revisionsverfahren auch insoweit schon die verfassungsrechtlichen Implikationen geltend gemacht hat, die er in der Verfassungsbeschwerde anführt.
2. Die Verfassungsbeschwerde genügt zudem nicht den Substantiierungsanforderungen, die aus § 23 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1, § 92 BVerfGG folgen.
a) Die Begründung der Verfassungsbeschwerde soll dem Bundesverfassungsgericht eine zuverlässige Grundlage für die weitere Behandlung des Verfahrens verschaffen (vgl. BVerfGE 15, 288 <292>). Hiernach ist der Beschwerdeführer gehalten, den Sachverhalt, aus dem sich die Grundrechtsverletzung ergeben soll, substantiiert und schlüssig darzulegen. Es ist alles darzutun, was dem Gericht eine Entscheidung der verfassungsrechtlichen Fragen ermöglicht (BVerfGE 131, 66 <82>). Es ist nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts aus Sachverhaltsfragmenten und angegriffenen Entscheidungen Relevantes für die verfassungsrechtliche Prüfung herauszusuchen (vgl. BVerfGE 80, 257 <263>; 83, 216 <228>).
Insoweit muss sich die Verfassungsbeschwerde mit dem zugrundeliegenden einfachen Recht sowie mit der verfassungsrechtlichen Beurteilung des vorgetragenen Sachverhalts auseinandersetzen und hinreichend substantiiert darlegen, dass eine Grundrechtsverletzung möglich erscheint (vgl. BVerfGE 89, 155 <171>; 108, 370 <386 f.>). Es muss deutlich werden, inwieweit durch die angegriffene Maßnahme das bezeichnete Grundrecht verletzt sein soll (vgl. BVerfGE 78, 320 <329>; 99, 84 <87>; 115, 166 <179 f.>).
Werden gerichtliche Entscheidungen angegriffen, muss sich der Beschwerdeführer auch mit deren Gründen auseinandersetzen (vgl. BVerfGE 101, 331 <345>; 105, 252 <264>). Werden fachgerichtliche Entscheidungen auf mehrere je selbständig tragende Gründe gestützt, bedarf es einer Auseinandersetzung mit jeder dieser Begründungen (BVerfGE 105, 252 <264>).
Soweit das Bundesverfassungsgericht für bestimmte Fragen bereits verfassungsrechtliche Maßstäbe entwickelt hat, muss anhand dieser Maßstäbe aufgezeigt werden, inwieweit Grundrechte durch die angegriffene Maßnahme verletzt werden (vgl. BVerfGE 99, 84 <87>; 101, 331 <346>; 102, 147 <164>; 140, 232 <232 Rn. 9>). Der behauptete Grundrechtsverstoß ist in Auseinandersetzung mit den vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Maßstäben zu begründen (vgl. BVerfGE 101, 331 <345 f.>; 123, 186 <234>; 130, 1 <21>; 142, 234 <251 Rn. 28>; 149, 86 <108 f. Rn. 61>).
b) Diesen Anforderungen genügt die Verfassungsbeschwerde nicht.
aa) Der Beschwerdeführer setzt sich mit den Gründen der angefochtenen Entscheidungen nicht hinreichend auseinander. Er weist zwar abstrakt auf die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Auslegung von Meinungen und von Kunstwerken hin, legt aber nicht konkret und substantiiert dar, weshalb die Auslegung in den angegriffenen Entscheidungen nicht eine den Schutzbereich der Meinungsfreiheit oder der Kunstfreiheit beachtende Interpretation des Aufklebers darstellt. Zwar mögen die strafgerichtlichen Feststellungen nicht die einzigen denkbaren Interpretationen des Sinngehalts des Aufklebers sein. Inwieweit von Verfassungs wegen aber anderweitige Feststellungen hätten getroffen oder berücksichtigt werden müssen, wird nicht in Auseinandersetzung mit den konkreten Feststellungen der strafgerichtlichen Entscheidungen dargelegt.
bb) Schließlich wird auch das Gebot der kontextabhängigen Auslegung von Meinungen und Kunstwerken zwar genannt, aber nicht konkret dessen Konsequenzen für den vorliegenden Fall dargelegt.
Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 873
Bearbeiter: Holger Mann