HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 401
Bearbeiter: Holger Mann
Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 866/20, Beschluss v. 03.03.2021, HRRS 2021 Nr. 401
Die Beschlüsse des Kammergerichts vom 9. April 2020 - 2 Ws 32/20 Vollz - und des Landgerichts Berlin vom 11. Februar 2020 - 589 StVK 227/19 Vollz - verletzen den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 und Artikel 6 Absatz 1 des Grundgesetzes.
Die Beschlüsse werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Berlin zurückverwiesen.
Das Land Berlin hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Gewährung von begleiteten Ausgängen oder Ausführungen.
1. Der Beschwerdeführer befand sich seit Oktober 2015 in Untersuchungs- und seit Juni 2017 in Strafhaft. Mit Strafurteil des Landgerichts Mosbach vom 7. September 2017 wurde er wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt. Darüber hinaus wurde die Sicherungsverwahrung angeordnet.
2. Im Vollzugsplan vom 29. November 2018 ist unter dem Titel „Lockerungen zur Erreichung des Vollzugsziels“ ausgeführt, dass Lockerungen Behandlungsmaßnahmen seien, die erst dann gewährt würden, wenn sie in einem übergeordneten Behandlungskontext angezeigt seien. Der Vergabe von selbständigen Vollzugslockerungen stehe eine Missbrauchsgefahr entgegen, die sich aus der die Straftaten bedingenden Persönlichkeitsdynamik des Beschwerdeführers ergebe. Durch eine deliktsorientierte Therapie und Verhaltenskontrolle könne er die Eignung für Lockerungen zukünftig erreichen. Diese Einschätzung solle im Rahmen der Vollzugsplanfortschreibung überprüft werden. Unter dem Titel „Ausführungen“ heißt es im Vollzugsplan, dass diese nicht geplant seien und erforderliche Ausführungen bei Bedarf geprüft werden müssten.
3. Am 12. März 2019 beantragte der Beschwerdeführer begleitete Ausgänge oder Ausführungen. Zeitlich einander nachfolgend wolle er 1. in den Volkspark Friedrichshain, 2. in ein Restaurant und 3. zum Besuch seiner Familie (Mutter, Schwester und Bruder) sowie des dortigen Friedhofs in deren namentlich genannten Wohnort. Die drei „Ausführungen/Ausgänge“ würden dazu dienen, seiner Depression entgegenzuwirken und den Kontakt zu seiner Familie zu fördern. Aufgrund des Strafvollzugs habe er an der Beerdigung seines 2017 verstorbenen Vaters nicht teilnehmen können. Der Volkspark sowie das Restaurant hätten für ihn einen hohen symbolischen Erinnerungswert an seinen Vater. Er habe bislang keine Besuche seiner Familie erhalten. Die Justizvollzugsanstalt lehnte den Antrag unter Bezugnahme auf den Vollzugsplan, in dem die Eignung für Lockerungen verneint worden sei, am selben Tag mündlich ab.
4. Am 10. Mai 2019 forderte die Justizvollzugsanstalt den Beschwerdeführer mündlich auf, die Sterbeurkunde seines Vaters einzureichen und darzulegen, ob und in welchem Ausmaß er Kontakt zu seiner Familie habe. Dieser wiederholte am selben Tag seinen Antrag vom 12. März 2019 und beantragte einen schriftlichen Ablehnungsbescheid.
5. Mit Schreiben vom 10. Mai 2019 beantragte der Beschwerdeführer zudem eine gerichtliche Entscheidung. Ihm seien umgehend Vollzugslockerungen in Form von begleiteten Ausgängen beziehungsweise Ausführungen zu gewähren. Die Justizvollzugsanstalt habe nicht berücksichtigt, dass er an Depressionen leide. Das Bestehen des Kontakts zu seiner Familie sei aus dem Briefwechsel und deren regelmäßiger finanzieller Unterstützung für ihn offensichtlich erkennbar. Sein Recht auf Resozialisierung und Art. 6 Abs. 1 GG seien verletzt.
6. Unter dem 5. Juni 2019 erwiderte die Justizvollzugsanstalt, dass die Gewährung von Lockerungen derzeit nicht verantwortet werden könne. Ausweislich des Vollzugsplans bestehe eine erhebliche Missbrauchsgefahr. Es werde konkret befürchtet, dass er die Lockerungen zur Begehung weiterer Straftaten nutzen werde. Die Festsetzungen des Vollstreckungsplans seien als Regelung mit Dauerwirkung maßgeblich. Die Ablehnung einer Einzelmaßnahme bedürfe nur dann einer erneuten Begründung, wenn sich die maßgebenden Umstände seit dem letzten Vollzugsplan geändert hätten oder der Vollzugsplan selbst eine Änderung vorsehe. Dies sei nicht der Fall. In der nächsten Vollzugsplankonferenz werde über die Lockerungseignung sowie über mögliche erforderliche Ausführungen entschieden.
7. Mit Schreiben vom 11. Juni 2019 replizierte der Beschwerdeführer unter Bezugnahme auf den Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 21. September 2018 - 2 BvR 1649/17 -, dass es dahinstehen könne, ob eine Missbrauchsgefahr bestehe, da er (auch) begleitete Ausführungen beantragt habe. Der Tod seines Vaters und seine damit verbundene Trauer seien nicht als neue Umstände berücksichtigt worden. Die Justizvollzugsanstalt habe auch verkannt, dass er nach mehrjähriger Haftdauer ein Recht habe, am „normalen Leben“ wieder teilzunehmen, und die Ausführungen seiner Wiedereingliederung dienen würden.
8. Am 4. Juli 2019 entgegnete die Justizvollzugsanstalt, dass auch bei begleiteten Ausgängen - im Gegensatz zur Ausführung, die unter den erforderlichen Sicherheitsmodalitäten wie zum Beispiel der Fesselung und Begleitung durch Vollzugsbedienstete in Dienstkleidung stattfinde - eine Flucht nicht ausgeschlossen und deshalb ein gewisses Maß an Vereinbarungsfähigkeit und Kooperationsbereitschaft erforderlich sei. Um eine Prognose erstellen zu können, seien Gespräche zur Straftataufbereitung erforderlich, die der Beschwerdeführer jedoch ablehne. Sein Antrag auf Ausführung zum Grab seines Vaters habe bislang nicht bearbeitet werden können, da er weder die Sterbeurkunde vorgelegt noch mitgeteilt habe, wo sein Vater beerdigt worden sei.
9. Der Beschwerdeführer trug mit Schreiben vom 12. Juli 2019 vor, dass im Vollzugsplan festgehalten worden sei, dass keine Fluchtgefahr bestehe. Für die Gewährung von Lockerungen sei eine Straftataufbereitung nicht notwendig. Die Justizvollzugsanstalt habe nicht berücksichtigt, dass er sich beanstandungsfrei führe und eine Ausführung zu einem Arztbesuch bereits ohne Beanstandungen durchgeführt worden sei. Zudem sei nicht berücksichtigt worden, dass er seine schnellstmögliche Kastration beantragt habe. Er habe im gegenständlichen Verfahren die Sterbeurkunde seines Vaters vorgelegt und den Friedhof bereits ausdrücklich benannt.
10. Unter dem 23. August 2019 wurde der Vollzugsplan fortgeschrieben. Unter „Unterbringung“ ist ausgeführt, dass Missbrauchsbefürchtungen für Kinder aufgrund der noch nicht behandelten tatursächlichen Verhaltensmuster bestünden. Es bestehe die erhöhte Gefahr, dass der Beschwerdeführer Lockerungen zur Vorbereitung und Begehung erneuter Sexualstraftaten missbrauche. Er habe den Entschluss gefasst, sich kastrieren zu lassen, um die Sicherungsverwahrung abwenden zu können. Eine therapeutische Aufarbeitung seines Delinquenzverhaltens schließe er aus. Unter „Ausführungen zur Erreichung des Vollzugsziels und Außenbeschäftigung“ ist festgehalten, dass Ausführungen Behandlungsmaßnahmen seien, die „regelmäßig in einen übergeordneten Behandlungskontext eingebettet“ seien. Entsprechende Maßnahmen würden derzeit nicht gesehen. Bei Vorliegen eines wichtigen Anlasses werde die Möglichkeit einer Ausführung auf Antrag geprüft. Der Beschwerdeführer habe am 10. Mai 2019 eine Ausführung zum Grab seines Vaters beantragt und die restlichen Unterlagen am 10. Juli 2019 vorgelegt. Eine Ausführung sei unter entsprechenden Sicherungsmodalitäten möglich. Unter „Lockerungen“ ist ausgeführt, dass wegen Missbrauchsbefürchtungen, die sich aus den unbehandelten Persönlichkeitsstörungen ergäben, derzeit Lockerungen nicht gewährt werden könnten.
11. Mit angegriffenem Beschluss vom 11. Februar 2020 wies das Landgericht Berlin die Anträge zurück. Der Antrag auf Ausführung zum Grab des Vaters habe sich erledigt, da die Justizvollzugsanstalt den erneuten Antrag vom 10. Mai 2019 ausweislich der Fortschreibung des Vollzugsplans vom 23. August 2019 bewilligt habe. Im Übrigen sei der Antrag zulässig, aber unbegründet. Die Justizvollzugsanstalt habe die weiteren Anträge für „Ausgänge“ nach Berlin und zu seiner Familie rechtmäßig auf der Grundlage des bestandskräftigen Vollzugsplans mündlich abgelehnt. Die Ablehnung einer Einzelfallmaßnahme auf der Grundlage eines Vollzugsplans bedürfe nur dann einer umfassenden Begründung, wenn sich maßgebliche Umstände geändert hätten. Dies sei nicht der Fall. Der Besuch zweier Ausflugsziele und seiner Familie aus Gründen der Trauerbewältigung stelle keinen neuen Umstand dar, der eine erneute Erforderlichkeitsprüfung anstoßen könnte. Der Beschwerdeführer hätte diese Wünsche und den Tod seines Vaters bereits in der Vollzugsplankonferenz für den Vollzugsplan vom 29. November 2018 vortragen können.
12. Der Beschwerdeführer erhob am 6. März 2020 Rechtsbeschwerde und ergänzte diese mit Schreiben vom 13. März 2020. Das Landgericht habe sein Resozialisierungsrecht sowie Art. 6 Abs. 1 GG missachtet. Die Justizvollzugsanstalt mache in verfassungswidriger Weise die Gewährung von Lockerungen von seinem Wohlverhalten und seiner Therapiebereitschaft abhängig. Er könne nicht auf Feststellungen im Vollzugsplan verwiesen werden, da er jederzeit das Recht habe, neue Anträge zu stellen, und der Vollzugsplan selbst vorsehe, dass über etwaige Anträge gesondert zu entscheiden sei. Das Landgericht habe nicht berücksichtigt, dass er bislang keinen Besuch erhalten habe. Er habe seine Familie seit Haftbeginn nicht mehr gesehen. Sein Antrag auf Ausführung zum Grab seines Vaters habe sich nicht erledigt, da im neuen Vollzugsplan lediglich ausgeführt sei, dass eine Ausführung „möglich“ sei. Die Argumentation des Landgerichts sei willkürlich und verletze Art. 3 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 GG. Ohne eigene Sachverhaltsaufklärung habe das Landgericht fehlerhafte Mitteilungen der Justizvollzugsanstalt übernommen und Widersprüche nicht aufgeklärt.
13. Mit angegriffenem Beschluss vom 9. April 2020, der dem Beschwerdeführer am 30. April 2020 zugestellt wurde, verwarf das Kammergericht die Rechtsbeschwerde als unzulässig. Die ergänzende Beschwerdebegründung entspreche nicht den formalen Anforderungen des § 118 Abs. 3 StVollzG. Auch eine Sachrüge sei nicht zulässig erhoben worden. Hinsichtlich der beantragten Ausführung zum Grab des Vaters habe das Landgericht zu Recht eine Erledigung festgestellt. Hinsichtlich der weiteren Anträge seien die besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 116 Abs. 1 StVollzG nicht erfüllt. Die Nachprüfung der angefochtenen Entscheidung decke hinsichtlich der weiteren beantragten Ausgänge oder Ausführungen keine klärungsbedürftigen Rechtsfragen auf. Es sei bereits entschieden, dass der Justizvollzugsanstalt bei der Prüfung, ob ein Gefangener für Vollzugslockerungen geeignet sei und Flucht- sowie Missbrauchsgefahr nicht entgegenstehe, ein Beurteilungsspielraum zustehe, der gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar sei. Es sei auch bereits geklärt, dass Entscheidungen, die auf Feststellungen im Vollzugsplan bezogen seien, nur dann einer besonderen Begründung bedürften, wenn von den Bestimmungen des Vollzugsplans abgewichen werden solle. Dies gelte auch für Ausführungen nach § 45 Abs. 1 Berliner Strafvollzugsgesetz (StVollzG Bln). Es sei nicht ersichtlich, dass das Landgericht von den danach anzuwendenden Grundsätzen abgewichen sei. Von weiteren Ausführungen sah das Kammergericht nach § 119 Abs. 3 StVollzG ab.
1. Mit seiner Verfassungsbeschwerde vom 22. Mai 2020 macht der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3 und Art. 103 Abs. 1 GG geltend.
Die Fachgerichte seien von eindeutiger verfassungsrechtlicher Rechtsprechung abgewichen. Aufgrund der überlangen Verfahrensdauer sei Art. 19 Abs. 4 GG verletzt und seine Wiedereingliederung verzögert worden. Das Kammergericht habe zu hohe Anforderungen an die Begründung seiner Rechtsbeschwerde gestellt und unter Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG die verfassungswidrige Entscheidung des Landgerichts nicht korrigiert. Grundrechtsverletzungen würden stets eine Rechtsbeschwerde begründen können und etwaige Fehler in seiner Begründungsschrift wären allein dem protokollierenden Rechtspfleger anzulasten. Weder die Justizvollzugsanstalt noch die Fachgerichte hätten begründet, weshalb der Besuch seiner Familie nicht gleichzeitig mit dem Besuch des Grabs seines Vaters stattfinden könne. Art. 6 Abs. 1 GG sei insoweit missachtet worden. An Ausführungen dürften nicht die strengen Anforderungen wie an Ausgänge gestellt werden. Ausführungen seien keine Belohnungen für Wohlverhalten. Trag- und Reichweite seines Resozialisierungsrechts sowie seines Rechts aus Art. 6 GG seien deshalb verkannt worden. Unter Wiederholung seines fachgerichtlichen Vortrags führt er aus, dass die angegriffenen Beschlüsse widersprüchlich und willkürlich begründet seien. Das Landgericht habe den Sachverhalt nicht aufgeklärt, sondern ungeprüft die Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt übernommen. Der Grundsatz des fairen Verfahrens sowie der Grundsatz der Chancen- und Waffengleichheit hätten es außerdem zwingend erfordert, ihm einen Rechtsanwalt beizuordnen.
2. Mit Schreiben vom 3. November 2020 legte der Beschwerdeführer einen Beschluss des Landgerichts Berlin vom 7. Oktober 2020 vor, ohne diesen zum Gegenstand seiner Verfassungsbeschwerde zu machen. In diesem Beschluss hob das Landgericht mangels Einzelfallprüfung einen mündlichen Ablehnungsbescheid der Justizvollzugsanstalt vom 15. April 2019 auf und verpflichtete diese, über einen Antrag des Beschwerdeführers vom 11. April 2020 auf Ausführung zu entscheiden. Unter dem 20. November 2020 legte er zur Information einen weiteren fachgerichtlichen Antrag auf eine gerichtliche Entscheidung vom 11. November 2020 vor, da die Justizvollzugsanstalt am 10. November 2020 seinen erneuten Antrag vom 12. Oktober 2020 auf Ausführung zum Grab seines Vaters mündlich abgelehnt habe. Mit weiterem Schreiben vom 14. Dezember 2020 legte er ein Schreiben der Justizvollzugsanstalt vom 10. Dezember 2020 vor, in dem diese abermals einen Ausgang oder eine Ausführung zum Grab ablehnte. Der Beschwerdeführer erklärte, dass dieses Schreiben in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit den angegriffenen Entscheidungen stehe, aber zeige, dass die Justizvollzugsanstalt ihm gegenüber willkürlich handele.
3. Die Berliner Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung hat mit Schreiben vom 17. November 2020 von einer Stellungnahme abgesehen.
4. Die Akte des Ausgangsverfahrens hat dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor. Die Annahme ist nach § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Durchsetzung der als verletzt gerügten Rechte des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG sowie Art. 6 Abs. 1 GG angezeigt.
1. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet, soweit der Beschwerdeführer geltend macht, dass die angegriffenen Entscheidungen gegen seine Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 6 Abs. 1 GG verstoßen. Die Beschlüsse des Landgerichts und des Kammergerichts verletzen ihn in seinem Resozialisierungsgrundrecht und seinem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG.
a) Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verpflichtet den Staat, bei langjährig im Vollzug befindlichen Personen aktiv den schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzuges entgegenzuwirken und ihre Lebenstüchtigkeit zu erhalten und zu festigen (vgl. BVerfGE 45, 187 <238>; 64, 261 <277>; 98, 169 <200>; 109, 133 <150 f.>). Das Resozialisierungsinteresse richtet sich nicht nur darauf, vor schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzuges im Rahmen des Möglichen bewahrt zu werden, sondern auch auf die Rahmenbedingungen, die einer Bewährung und Wiedereingliederung förderlich sind (vgl. BVerfGE 35, 202 <235 f.>; 36, 174 <188>; 45, 187 <238 f.>; 64, 261 <272 f.>; stRspr). Solchen Zielen dienen mit Zustimmung des Gefangenen angeordnete Vollzugslockerungen (vgl. dazu BVerfGE 64, 261 <273>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 5. August 2010 - 2 BvR 729/08 -, Rn. 32; und Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 6. November 2019 - 2 BvR 2267/18 -, Rn. 17). Das Interesse des Gefangenen, vor den schädlichen Folgen aus der langjährigen Inhaftierung bewahrt zu werden und seine Lebenstüchtigkeit im Falle der Entlassung aus der Haft zu behalten, hat ein umso höheres Gewicht, je länger die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe bereits andauert (vgl. BVerfGE 64, 261 <272 f.>; 70, 297 <315>).
b) Dem Erhalt der Lebenstüchtigkeit dienen nicht nur Urlaub und Ausgänge, sondern auch Ausführungen (vgl. BVerfGK 17, 459 <462>; 19, 306 <315 f.>; 20, 307 <312>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 6. November 2019 - 2 BvR 2267/18 -, Rn. 18). Dabei greift das Gebot, die Lebenstüchtigkeit des Gefangenen zu erhalten und zu festigen, nicht erst dann ein, wenn er bereits Anzeichen einer haftbedingten Depravation aufweist (BVerfGK 19, 157 <165>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 18. September 2019 - 2 BvR 681/19 -, Rn. 17). Bei langjährig Inhaftierten kann daher, auch wenn eine konkrete Entlassungsperspektive sich noch nicht abzeichnet und weitergehenden Lockerungen eine Flucht- oder Missbrauchsgefahr entgegensteht, geboten sein, Lockerungen in Gestalt von Ausführungen dadurch zu ermöglichen, dass die Justizvollzugsanstalt einer von ihr angenommenen Flucht- oder Missbrauchsgefahr durch geeignete Sicherheitsvorkehrungen entgegenwirkt (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 10. September 2008 - 2 BvR 719/08 -, Rn. 3, und vom 5. August 2010 - 2 BvR 729/08 -, Rn. 32; und Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 18. September 2019 - 2 BvR 681/19 -, Rn. 19). Der damit verbundene personelle Aufwand ist hinzunehmen (vgl. BVerfGK 17, 459 <462 f.>; 19, 306 <316>; 20, 307 <313>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 18. September 2019 - 2 BvR 681/19 -, Rn. 19).
c) Die Justizvollzugsanstalt darf es in diesen Fällen nicht bei bloßen pauschalen Wertungen oder bei dem abstrakten Hinweis auf eine Flucht- oder Missbrauchsgefahr bewenden lassen. Sie hat vielmehr im Rahmen einer Gesamtwürdigung nähere Anhaltspunkte darzulegen, welche geeignet sind, die Prognose einer Flucht- oder Missbrauchsgefahr in der Person des Gefangenen zu konkretisieren (vgl. BVerfGE 64, 261 <277>; 70, 297 <312 ff.>). Ob dies geschehen ist, hat die Strafvollstreckungskammer zu überprüfen (vgl. BVerfGE 70, 297 <308>). Bei Ausführungen genügt die einfache Feststellung einer Flucht- oder Missbrauchsgefahr grundsätzlich nicht zur Ablehnung, denn die vorgesehene Begleitung des Gefangenen durch Vollzugsbedienstete dient gerade dem Zweck, einer solchen Gefahr entgegenzuwirken (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 21. September 2018 - 2 BvR 1649/17 -, Rn. 32 m.w.N.). Insbesondere sind Ausführungen keine Behandlungsmaßnahmen, deren Gewährung von der Erstellung eines Behandlungskonzepts oder dem Abschluss einer Therapie abhängig gemacht werden kann (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 15. Mai 2018 - 2 BvR 287/17 -, Rn. 38). Das mit jeder Vollzugslockerung verbundene Risiko eines Entweichens aus der Haft oder eines Missbrauchs der Maßnahme zu Straftaten muss aus diesen Gründen heraus unvertretbar erscheinen (vgl. BVerfGE 70, 297 <313>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 6. November 2019 - 2 BvR 2267/18 -, Rn. 18).
d) Für das Resozialisierungsziel, auf das der Strafvollzug von Verfassungs wegen auszurichten ist (vgl. BVerfGE 35, 202 <235 f.>; 36, 174 <188>; 45, 187 <238 f.>; 98, 169 <200 f.>), haben die familiären Beziehungen des Gefangenen wesentliche Bedeutung. Der Staat hat die Pflicht, die Ehe und die Familie durch geeignete Maßnahmen zu schützen und zu fördern (vgl. BVerfGE 105, 313 <346>; 124, 199 <225>; 130, 240 <252>). Art. 6 Abs. 1 GG kommt als wertentscheidender Grundsatznorm auch im Haftvollzug besondere Bedeutung zu. Regelmäßig fördern der Bestand und die Stärkung familiärer Beziehungen die Chancen der Eingliederung des Gefangenen (vgl. BVerfGE 89, 315 <322>; BVerfGK 8, 36 <41> m.w.N.). Den Belastungen und Gefährdungen, die der Vollzug einer Freiheitsstrafe für diese Beziehungen naturgemäß bedeutet, muss die Ausgestaltung des Vollzuges daher nicht nur mit Rücksicht auf das Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG, sondern auch im Hinblick auf das verfassungsrechtlich geschützte Resozialisierungsinteresse des Gefangenen nach Kräften entgegenzuwirken suchen (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 24. März 2020 - 2 BvR 1362/19 -, Rn. 2, und vom 20. Juni 2017 - 2 BvR 345/17 -, Rn. 36). Daher bleibt die Erhaltung des Kontakts zu den Familienangehörigen im Strafvollzug ein bei Vollzugsentscheidungen zu berücksichtigender, grundrechtlich geschützter Belang. Hier ist besonders die Bedeutung der Familienbeziehungen und die Möglichkeit, diese Beziehungen auch in der Haft zu pflegen, für die Vermeidung schädlicher Folgen des Freiheitsentzugs und für die Wiedereingliederungschancen des Inhaftierten zu berücksichtigen (vgl. BVerfGE 89, 315 <322>; 116, 69 <87>; BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 19. April 2006 - 2 BvR 818/05 -, Rn. 12, und vom 12. März 2008 - 2 BvR 2219/06 -, Rn. 16).
e) § 10 StVollzG Bln schreibt die Aufstellung eines Vollzugsplans mit bestimmten Mindestinhalten (Abs. 2) und dessen regelmäßige Fortschreibung nach Maßgabe der Entwicklung des Gefangenen und weiterer neu gewonnener Erkenntnisse über seine Persönlichkeit (Abs. 3) vor. Das Strafvollzugsgesetz Berlins hat den Vollzugsplan als eigenständiges Instrument eines auf Resozialisierung ausgerichteten Vollzugs konzipiert. Die Frage, ob lockerungsbezogene Inhalte des Vollzugsplans (§ 10 Abs. 1 Nr. 16 StVollzG Bln) Rechte des Gefangenen verletzen, ist daher von der Frage einer Rechtsverletzung durch konkrete Entscheidungen über Vollzugslockerungen (§ 42 StVollzG Bln) zu trennen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 3. Juli 2006 - 2 BvR 1383/03 -, Rn. 20, zu den vergleichbaren bundesgesetzlichen Regelungen in § 7 und § 11 StVollzG).
f) Versagt die Justizvollzugsanstalt eine Vollzugslockerung, prüfen die Fachgerichte, ob die Vollzugsbehörde die unbestimmten Rechtsbegriffe der Befürchtung von Flucht oder Missbrauch richtig ausgelegt und angewandt hat. Zwar eröffnet der Versagungsgrund der Flucht- und Missbrauchsgefahr als Prognoseentscheidung der Vollzugsbehörde einen - verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden - Beurteilungsspielraum, in dessen Rahmen sie bei Achtung der Grundrechte des Gefangenen mehrere Entscheidungen treffen kann, die gleichermaßen rechtlich vertretbar sind (vgl. BGHSt 30, 320 <324 f.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 18. September 2019 - 2 BvR 681/19 -, Rn. 17). Der Beurteilungsspielraum entbindet die Vollstreckungsgerichte indes nicht von ihrer rechtsstaatlich fundierten Prüfungspflicht (BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 1. April 1998 - 2 BvR 1951/96 -, Rn. 20, und vom 18. September 2019 - 2 BvR 681/19 -, Rn. 20). Das Gericht hat dementsprechend den Sachverhalt umfassend aufzuklären und dabei festzustellen, ob die Vollzugsbehörde den zugrunde gelegten Sachverhalt insgesamt vollständig ermittelt und damit eine hinreichende tatsächliche Grundlage für ihre Entscheidung geschaffen hat (vgl. BVerfGE 70, 297 <308>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 21. September 2018 - 2 BvR 1649/17 -, Rn. 28).
g) Legt das Strafvollstreckungsgericht diesen Maßstab seiner Entscheidung zugrunde, prüft das Bundesverfassungsgericht lediglich, ob das Strafvollstreckungsgericht der Vollzugsbehörde einen zu weiten Beurteilungsspielraum zugebilligt und damit Bedeutung und Tragweite des verfassungsrechtlich geschützten Resozialisierungsanspruchs und die wertentscheidende Grundsatznorm des Art. 6 Abs. 1 GG verkannt hat sowie ob die angegriffene Entscheidung unter Zugrundelegung des dargelegten fachgerichtlichen Maßstabs schlechthin nicht mehr nachvollziehbar ist und damit den aus dem allgemeinen Gleichheitssatz abzuleitenden Anspruch auf willkürfreie Entscheidung (Art. 3 Abs. 1 GG) verletzt (vgl. BVerfGE 70, 297 <313>; BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 21. September 2018 - 2 BvR 1649/17 -, Rn. 29, und vom 6. November 2019 - 2 BvR 2267/18 - Rn. 19).
2. a) Der Beschluss des Landgerichts Berlin vom 11. Februar 2020 genügt den dargelegten verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht.
aa) Die Sachprüfung des Gerichts beschränkt sich auf den Ausspruch, dass es wegen der bestandskräftigen Feststellungen im Vollzugsplan und des Fehlens neuer Umstände seit der letzten Vollzugsplankonferenz nicht zu beanstanden sei, dass die Eignung des Beschwerdeführers für Lockerungsmaßnahmen verneint worden sei. Damit hat das Landgericht bereits die gerichtlich vollumfänglich zu prüfende Frage der richtigen Auslegung und Anwendung der Versagungsgründe in der gegenständlichen Entscheidung der Justizvollzugsanstalt über einzelne Lockerungsmaßnahmen übergangen. Diese Einzelfallentscheidung nach § 42 StVollzG Bln ist grundsätzlich von lockerungsbezogenen Inhalten der Vollzugsplanentscheidung (§ 10 Abs. 1 Nr. 16 StVollzG Bln) zu trennen. Der Umstand, dass die Justizvollzugsanstalt in der ablehnenden Entscheidung auf bestandskräftige Feststellungen des Vollzugsplans Bezug genommen hat, lässt nicht die Pflicht des Gerichts entfallen, den Sachverhalt umfassend aufzuklären und dabei festzustellen, ob die Vollzugsbehörde den zugrunde gelegten Sachverhalt insgesamt vollständig ermittelt und somit eine hinreichende tatsächliche Grundlage für ihre Entscheidung bezogen auf die vom Beschwerdeführer konkret beantragten Lockerungsmaßnahmen geschaffen hat. Dabei hat sich das Landgericht insbesondere auch nicht damit auseinandergesetzt, dass im durch die Justizvollzugsanstalt in Bezug genommenen Vollzugsplan nur hinsichtlich „selbstständiger Vollzugslockerungen und Urlaub“, und folglich nicht hinsichtlich unselbständiger Formen wie begleiteten Ausgängen, das Bestehen einer Missbrauchsgefahr festgestellt worden ist.
bb) Überdies hätte das Landgericht, wenn es zu dem Schluss gekommen wäre, dass die Justizvollzugsanstalt in nicht zu beanstandender Weise hinsichtlich der begleiteten Ausgänge eine Missbrauchsgefahr bejaht, nach den verfassungsrechtlichen Vorgaben zumindest weiter prüfen müssen, ob die Justizvollzugsanstalt den Antrag des Beschwerdeführers auch hinsichtlich der Ausführungen gemäß § 45 Abs. 1 StVollzG Bln zulässigerweise abgelehnt hat. Der von der Justizvollzugsanstalt in Bezug genommene Vollzugsplan trifft in Bezug auf Ausführungen keine Feststellungen, sondern sieht vor, dass erforderliche Ausführungen bei Bedarf geprüft werden. Bei dieser Art der Vollzugslockerung genügt die einfache Feststellung einer Flucht- oder Missbrauchsgefahr grundsätzlich nicht zur Ablehnung. Deshalb hätte sich das Landgericht insbesondere damit auseinandersetzen müssen, dass die Justizvollzugsanstalt sich nicht näher dazu geäußert hat, warum der ihrer Ansicht nach bestehenden konkreten Missbrauchsgefahr während einer Ausführung die ständige Begleitung des Beschwerdeführers durch Vollzugsbedienstete nicht hätte entgegenwirken können.
cc) Ferner hat das Landgericht nicht geprüft, ob die Justizvollzugsanstalt bei ihrer Entscheidung Bedeutung und Tragweite des Grundrechts aus Art. 6 Abs. 1 GG verkannt hat. Ihren Ausführungen lässt sich nicht entnehmen, inwiefern die Bedeutung der Familienbeziehungen für die Vermeidung schädlicher Folgen des Freiheitsentzugs und für die Wiedereingliederungschancen des Beschwerdeführers Berücksichtigung gefunden hat und aus welchen Gründen zwar eine Ausführung zum Grab des Vaters, nicht aber zu einem Treffen mit der Mutter beziehungsweise den Geschwistern am selben Ort möglich sei.
b) Auch der Beschluss des Kammergerichts vom 9. April 2020 genügt den dargelegten verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht.
Indem das Kammergericht die Auffassung des Landgerichts bestätigt hat, dass Festlegungen im Vollzugplan bei der Entscheidung über konkrete Lockerungen maßgeblich zu berücksichtigen seien, dies auch für Ausführungen nach § 45 Abs. 1 StVollzG Bln gelte und der Beschluss vom 11. Februar 2020 insoweit keine klärungsbedürftigen Rechtsfragen aufdecke, hat es sich die landgerichtliche Entscheidung mit den zu beanstandenden Erwägungen zu eigen gemacht. Darin liegt eine eigenständige Verkennung der Bedeutung und Tragweite der verletzten Grundrechte des Beschwerdeführers.
3. Da die angegriffenen Entscheidungen schon wegen Verstoßes gegen das Resozialisierungsgrundrecht und Art. 6 Abs. 1 GG verfassungswidrig sind, kann offenbleiben, ob sie weitere Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte des Beschwerdeführers verletzen.
Nach § 93c Abs. 2, § 95 Abs. 2 BVerfGG sind die angegriffenen Beschlüsse aufzuheben. Die Sache ist zur erneuten Entscheidung an das Landgericht Berlin zurückzuverweisen.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.
HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 401
Bearbeiter: Holger Mann