HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 550
Bearbeiter: Holger Mann
Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvQ 21/20, Beschluss v. 21.04.2020, HRRS 2020 Nr. 550
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
Der Antragsteller, um dessen Auslieferung von den Vereinigten Staaten von Amerika ersucht wird und der sich seit dem 23. September 2019 in Haft befindet, beantragt, im Wege der einstweiligen Anordnung den Auslieferungshaftbefehl aufzuheben, hilfsweise, dessen Vollziehung auszusetzen. Über die Zulässigkeit der Auslieferung ist wegen ausstehender Informationen beziehungsweise Zusicherungen der US-amerikanischen Behörden noch nicht entschieden worden.
Der Zulässigkeit des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung steht eine Vorwegnahme der Hauptsache nicht entgegen. Eine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache ist anzunehmen, wenn der beantragte Inhalt der einstweiligen Anordnung und das Rechtsschutzziel in der Hauptsache, wenn nicht deckungsgleich, so doch zumindest vergleichbar sind, wenn also die stattgebende einstweilige Anordnung mit dem Zeitpunkt ihres Erlasses einen Zustand in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht zu verwirklichen erlaubt, der erst durch die zeitlich spätere Entscheidung in der Hauptsache hergestellt werden soll (vgl. BVerfGE 147, 39 <47>). Allerdings steht eine Vorwegnahme der Hauptsache der Zulässigkeit eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung dann nicht entgegen, wenn eine Entscheidung in der Hauptsache möglicherweise zu spät käme, dem Antragsteller in anderer Weise ausreichender Rechtsschutz nicht mehr gewährt werden könnte (vgl. BVerfGE 34, 160 <162 f.>; 67, 149 <151>; 108, 34 <40>; 130, 367 <369>) oder ihm ein schwerer, nicht wiedergutzumachender Nachteil entstünde (vgl. BVerfGE 147, 39 <48>). Ob der durch die fortdauernde Auslieferungshaft gewichtige Eingriff in das Recht auf Freiheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 104 GG per se einen solchen schweren, nicht wiedergutzumachenden Nachteil darstellt (vgl. etwa BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 14. Januar 2000 - 2 BvR 66/00 -, Rn. 12), bedarf vorliegend keiner Entscheidung. Der Antrag auf einstweilige Anordnung hat, selbst wenn man von einer zulässigen (Teil-)Vorwegnahme der Hauptsache wegen des nicht wiedergutzumachenden Nachteils des persönlichen Freiheitsentzugs ausgeht, jedenfalls im Rahmen der Folgenabwägung keine Aussicht auf Erfolg.
Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG in Verbindung mit § 93d Abs. 2 BVerfGG kann die Kammer im Verfassungsbeschwerdeverfahren im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erweist sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 88, 25 <35>; 89, 109 <110 f.>; 121, 1 < 14 f.>; 122, 63 <74>; 132, 195 <232>; stRspr).
Die angekündigte, noch einzulegende Verfassungsbeschwerde gegen die angegriffenen Beschlüsse des Oberlandesgerichts München vom 17. März 2020 und vom 2. April 2020 - 1 AR 355/19 - erscheint unter Zugrundelegung dieses Maßstabs derzeit nicht von vornherein unzulässig. Insbesondere kann sie noch fristgerecht erhoben werden.
Sie ist nach summarischer Prüfung der vom Antragsteller vorgelegten Unterlagen zurzeit auch nicht offensichtlich unbegründet. Das Oberlandesgericht München, das in den angegriffenen Beschlüssen vom 17. März 2020 und vom 2. April 2020 - 1 AR 355/19 - jeweils auf seine im Auslieferungshaftbefehl vom 8. Oktober 2019 geäußerte Rechtsansicht zur Auslegung und Anwendung der Art. 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ) und Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) bei Auslieferungen in Drittstaaten verweist und hierauf Bezug nimmt, lehnte in diesem Auslieferungshaftbefehl eine offensichtliche Unzulässigkeit der Auslieferung im Sinne des § 15 Abs. 2 IRG ab. Ob sich das Gericht im Rahmen dieser Prüfung gehalten sehen musste, seine Rechtsauffassung mit Blick auf neuere Entwicklungen in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (vgl. etwa EuGH, Urteil vom 6. September 2016, C-182/15 „Petruhhin“, und EuGH, Urteil vom 10. April 2018, C-191/16 „Pisciotti“) zu hinterfragen und die Sache gegebenenfalls dem Gerichtshof vorzulegen, bedarf im Hauptsacheverfahren einer näheren Prüfung.
Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 105, 365 <371>; 106, 351 <355>; 108, 238 <246>; 125, 385 <393>; 126, 158 <168>; 129, 284 <298>; 132, 195 <232>; stRspr).
Die danach erforderliche Folgenabwägung fällt zu Lasten des Antragstellers aus. Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, würde für den Antragsteller zwar, jedenfalls bis zu einer Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung, der gewichtige Eingriff in sein Recht auf Freiheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 104 GG fortdauern. Dieser Eingriff ist derzeit allerdings noch zumutbar, weil das Auslieferungsverfahren, mit dem schwierige Rechtsfragen verbunden sind, dem Gebot der Verfahrensbeschleunigung noch genügt. Erginge demgegenüber die einstweilige Anordnung, bliebe der Verfassungsbeschwerde später aber der Erfolg versagt, so entstünde mit Blick auf die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege und des zwischenstaatlichen Auslieferungs- und Rechtshilfeverkehrs, der im vorliegenden Fall von erkennbaren gegenseitigen Anstrengungen geprägt ist, ein erheblicher, unter Umständen irreversibler Nachteil. Angesichts der dem Antragsteller im Falle der Auslieferung möglicherweise drohenden langjährigen Freiheitsstrafe kann nicht davon ausgegangen werden, dass er sich dem weiteren Auslieferungsverfahren stellen wird. Konkrete Bedingungen, unter denen die Auslieferungshaft bei gleich effektiver Verfahrenssicherung außer Vollzug gesetzt werden könnte, hat der Antragsteller nicht genannt. Soziale oder berufliche Bindungen nach Deutschland sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Wägt man die Folgen gegeneinander ab, so ergibt sich derzeit kein eindeutiges Übergewicht zugunsten der Belange des Antragstellers.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 550
Bearbeiter: Holger Mann