hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 3

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 2194/19, Beschluss v. 09.12.2020, HRRS 2021 Nr. 3


BVerfG 2 BvR 2194/19 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 9. Dezember 2020 (BayObLG / LG Amberg)

Verstoß gegen die gerichtliche Sachaufklärungspflicht im Strafvollzug (Einsichtnahme in einen Haftraum durch ein Sichtfenster; Privat- und Intimsphäre des Gefangenen; allgemeines Persönlichkeitsrecht; Recht auf effektiven Rechtsschutz; Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; Aufklärung von Anlass, Häufigkeit und Ausgestaltung der Einsichtnahmen; keine unbeschränkte Zulässigkeit jeglicher Einsichtnahmen in Gemeinschaftshafträume); Absehen von der Begründung einer Rechtsbeschwerdeentscheidung (kein Leerlaufen des Rechtsmittels; erhebliche Zweifel an der Vereinbarkeit mit Grundrechten; Abweichung von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; § 109 Abs. 1 StVollzG; § 119 Abs. 3 StVollzG; Art. 6 Abs. 2 BayStVollzG; Art. 96 Abs. 2 Nr. 2 BayStVollzG

Leitsätze des Bearbeiters

1. Beanstandet ein Strafgefangener unter Benennung mehrerer Zeugen, während seiner Unterbringung in einem Gemeinschaftshaftraum hätten Justizvollzugsbeamte in zahlreichen Fällen ohne konkreten Anlass durch ein Sichtfenster Einsicht in den Haftraum genommen, so verletzt die Strafvollstreckungskammer den Anspruch des Gefangenen auf effektiven Rechtsschutz, wenn sie seinen Antrag auf gerichtliche Entscheidung zurückweist, ohne aufgeklärt zu haben, wie häufig tatsächlich Einsichtnahmen stattgefunden haben, ob jeweils ein Anlass hierfür bestand und ob eine weniger eingriffsintensive Ausgestaltung möglich war.

2. Soweit das Gericht von einer weiteren Aufklärung absieht, weil es allein aufgrund der erhöhten Gefährdung der Gefangenen bei der Unterbringung in Gemeinschaftshafträumen jede mögliche Einsichtnahme pauschal für rechtmäßig erachtet, verkennt es, dass die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme nur dann tragfähig beurteilt werden kann, wenn ihre konkrete Häufigkeit und Ausgestaltung bekannt sind.

3. Der Haftraum bietet für den Gefangenen regelmäßig die einzige Möglichkeit, sich eine gewisse Privatsphäre zu schaffen und ungestört zu sein. Die Justizvollzugsanstalt hat die Privat- und Intimsphäre des Gefangenen als Ausdruck seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu wahren. Hinsichtlich der Einsichtnahme in den Haftraum ist sie an das Willkürverbot und an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden, die ein schonendes Vorgehen gebieten.

4. Sieht das Rechtsbeschwerdegericht nach § 119 Abs. 3 StVollzG von einer Begründung seiner Entscheidung ab, so ist dies mit Art. 19 Abs. 4 GG nur vereinbar, wenn dadurch das Rechtsmittel nicht leerläuft. Letzteres ist bereits dann anzunehmen, wenn erhebliche Zweifel an der Vereinbarkeit der angegriffenen Entscheidung mit Grundrechten bestehen, etwa weil die Entscheidung von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - hier: zur gerichtlichen Sachaufklärungspflicht - abweicht.

Entscheidungstenor

Der Beschluss des Landgerichts Amberg vom 26. September 2019 - 2 StVK 484/19 - sowie der Beschluss des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 5. Dezember 2019 - 203 StObWs 2324/19 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes.

Die Beschlüsse werden aufgehoben und die Sache wird an das Landgericht Amberg zurückverwiesen.

Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe

Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Einsichtnahme durch ein in der Wand angebrachtes Sichtfenster in seinen Haftraum.

I.

1. Der Beschwerdeführer war vom 22. Mai 2019 bis zum 2. August 2019 in einem von sechs Personen belegten Gemeinschaftshaftraum in der Justizvollzugsanstalt Amberg inhaftiert, in dessen Wand ein Sichtfenster angebracht ist. Der Beschwerdeführer ist mittlerweile aus der Haft entlassen.

2. Mit Schreiben vom 1. August 2019 beantragte der Beschwerdeführer beim Landgericht Amberg, festzustellen, dass die Nutzung des Sichtfensters durch Vollzugspersonal mit Ausnahme des Zeitraums vom 25. bis zum 31. Juli 2019 rechtswidrig gewesen sei. Zudem wurde Prozesskostenhilfe und die Beiordnung eines Rechtsanwalts beantragt. Der Beschwerdeführer sei in einer Gemeinschaftszelle untergebracht, in deren Wand ein Sichtfenster eingelassen sei, dessen Vorhang von außen aufgezogen werden könne. Das Fenster könne geöffnet werden und werde als Kostklappe genutzt. Die vom Beschwerdeführer angebrachten Sichtblenden seien vom Vollzugspersonal entfernt worden. Das Personal (auch Frauen) habe im maßgeblichen Zeitraum mindestens 20-mal Einsicht genommen. Während des im Antrag ausgenommenen Zeitraums habe sich eine Person im Haftraum im Hungerstreik befunden. Im Übrigen habe keine schwerwiegende Gefährdung der Sicherheit und Ordnung der Anstalt vorgelegen.

3. Mit Schreiben vom 12. September 2019 beantragte die Justizvollzugsanstalt, den Antrag zu verwerfen. Alle Gemeinschaftshafträume verfügten über solche verglasten Klappen der Größe 16,5 x 32,5 cm, die nach den Einschlusszeiten zur Ausgabe der Abend- und Nachtmedikation geöffnet würden. Eine kurze Einsichtnahme erfolge bei medizinischen Notfällen oder wenn es einen Anlass bezüglich der Störung der Sicherheit und Ordnung gebe. Bevor der diensthabende Stationsbeamte einen Gemeinschaftshaftraum öffne, müsse er sich versichern, ob personelle Verstärkung notwendig sei. Auch bei aus dem Haftraum dringendem Lärm, der auf eine Störung der Sicherheit und Ordnung hindeute, verschaffe sich das Personal durch eine kurze Einsichtnahme einen Überblick.

4. Mit Schreiben vom 18. September 2019 erwiderte der Beschwerdeführer, er bestreite die Angabe der Justizvollzugsanstalt, dass die Sichtluke nur bei verdächtigen Vorgängen oder zur Medikamentenausgabe genutzt werde, zumal keiner der Gefangenen Tabletten erhalte. Auch andere Gefangene könnten jederzeit Einsicht in den Haftraum nehmen und hätten dies sehr häufig getan. Der angebrachte Vorhang decke das Sichtfenster nicht vollständig ab, sodass man durch einen Spalt hineinsehen könne. Die Nutzung des Fensters greife in die Intimsphäre der Betroffenen ein. Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit müsse das Personal sich bemerkbar machen. Ein konkretes Beispiel sei eine Einsichtnahme des Spätdienstes, während der Beschwerdeführer ferngesehen habe. Etwa 30 Minuten später habe eine erneute Einsichtnahme stattgefunden, obwohl es im Haftraum still gewesen sei und nur der Beschwerdeführer und ein (namentlich benannter) Mitgefangener wach gewesen seien. Der Beschwerdeführer benannte fünf Zeugen für die Einsichtnahmen.

5. Mit angegriffenem Beschluss vom 26. September 2019 wies das Landgericht Amberg den Antrag auf gerichtliche Entscheidung sowie den Antrag auf Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts zurück. Es könne dahingestellt bleiben, ob es tatsächlich zu anlasslosen Einsichtnahmen durch Vollzugsbedienstete gekommen sei, ohne dass diese sich bemerkbar gemacht hätten, weil solche Einsichtnahmen jedenfalls rechtmäßig seien. Die Voraussetzungen von Art. 6 Abs. 2 BayStVollzG hätten vorgelegen. Die Privatsphäre des Beschwerdeführers sei nur geringfügig betroffen gewesen, da er sich in den nicht einsehbaren Toilettenraum hätte zurückziehen können und die Einsichtnahmen auch nach seinem Vorbringen nur stichprobenartig und nicht dauerhaft erfolgt seien. Die Justizvollzugsanstalt habe für die Aufrechterhaltung der Sicherheit zu sorgen. Gerichtsbekannt komme es in Gemeinschaftszellen wie der streitgegenständlichen zu Aggressionshandlungen und Straftaten. Die Möglichkeit von stichprobenartigen Einsichtnahmen wirke Fluchtversuchen, Selbsttötungsversuchen und potentiellen Übergriffen zwischen Gefangenen entgegen. Die Fürsorgepflicht wiege schwer.

6. Der Beschwerdeführer legte am 10. Oktober 2019 Rechtsbeschwerde ein. Freiheitsbeschränkungen seien nur zulässig, soweit sie im Gesetz besonders geregelt seien. Art. 96 Abs. 2 Nr. 2 BayStVollzG ermögliche eine Überwachung der Gefangenen, die Voraussetzungen hätten jedoch nicht vorgelegen. Diese Spezialregelung schließe die Anwendung der Generalklausel aus. Auch deren Voraussetzungen hätten im Übrigen nicht vorgelegen, da keine Prüfung der Unerlässlichkeit im Einzelfall erfolgt sei. Konkrete Umstände, die eine Gefahr für die Sicherheit nahegelegt hätten, hätten nicht vorgelegen. Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit sei zudem zu verlangen, dass der jeweilige Bedienstete sich vor einer Einsichtnahme bemerkbar mache.

7. Die Generalstaatsanwaltschaft München beantragte mit Schreiben vom 31. Oktober 2019, die Rechtsbeschwerde zu verwerfen. Es bestehe kein Feststellungsinteresse, da der Beschwerdeführer in einen anderen Haftraum verlegt worden sei und keinen schweren Grundrechtseingriff vorgetragen habe. Konkrete Angaben zu Zeit und Anlass der Kontrollen fehlten.

8. Mit angegriffenem Beschluss vom 5. Dezember 2019 verwarf das Bayerische Oberste Landesgericht die Rechtsbeschwerde als unzulässig. Weder sei die Rechtsbeschwerde zur Nachprüfung der Fortbildung des Rechts noch zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich. Der vorliegende Einzelfall gebe keinen Anlass, Leitsätze für die Auslegung gesetzlicher Vorschriften des materiellen oder formellen Rechts aufzustellen oder Gesetzeslücken rechtsschöpferisch auszufüllen, auch sei die Rechtsbeschwerde nicht geboten, um die Entwicklung einer unterschiedlichen Rechtsprechung zu vermeiden.

II.

1. Mit der am 18. Dezember 2019 fristgemäß eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3 GG.

Auch die Hafträume unterfielen dem Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Die Fachgerichte hätten die Eingriffsintensität von anlasslosen, ständigen Einsichtnahmen in Hafträume verkannt. Der Eingriff sei erheblich, da nicht in jedem Fall absehbar sei, ob man beobachtet werde, und das Gefühl, ständig beobachtet zu werden, starke Auswirkungen auf den Gefangenen habe. Dies müsse insbesondere gelten, wenn die betroffenen Gefangenen keinerlei Anlass zu einer Einsichtnahme gegeben hätten. Selbst wenn dies in solchen Fällen vom Gefangenen hinzunehmen sei, fordere der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, sich bemerkbar zu machen, damit der Gefangene sich bekleiden könne. Es könne nichts Anderes gelten als beim Eintreten in einen Haftraum ohne Vorwarnung. Zudem sei es „mehr als zweifelhaft“, ob aufgrund von abstrakten Befürchtungen die Einsichtnahmen unerlässlich gewesen seien. Ferner seien die fachgerichtlichen Entscheidungen diesbezüglich lückenhaft. Es habe nicht offenbleiben dürfen, aus welchem Anlass und in welcher Ausgestaltung Einsichtnahmen vorgenommen worden seien. Die unzureichende Sachaufklärung verstoße gegen Art. 19 Abs. 4 GG. Die Generalklausel des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 BayStVollzG sei für unvorhergesehene Situationen gedacht. Beobachtungsmöglichkeiten seien in Art. 96 BayStVollzG speziell geregelt. Die Problematik sei vom Bundesgerichtshof bereits im Jahr 1991 behandelt worden und der Gesetzgeber habe keine entsprechende Norm geschaffen. Die Entscheidung des Bayerischen Obersten Landesgerichts verletze den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 19 Abs. 4 GG.

2. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz hat mit Schreiben vom 26. Oktober 2020 von einer Stellungnahme abgesehen.

3. Die Akten des fachgerichtlichen Verfahrens haben dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.

III.

Die Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung im Sinne des § 93c Abs. 1 BVerfGG liegen vor. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Grundsätze hat das Bundesverfassungsgericht bereits geklärt. Nach diesen Grundsätzen ist die Verfassungsbeschwerde zulässig und in einem die Zuständigkeit der Kammer begründenden Sinn offensichtlich begründet.

1. Der angegriffene Beschluss des Landgerichts Amberg vom 26. September 2019 verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG, weil er einer im Raume stehenden Verletzung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG nicht nachgegangen ist.

a) Der gesonderte Haftraum bietet für den Gefangenen regelmäßig die einzige (verbleibende) Möglichkeit, sich eine gewisse Privatsphäre zu schaffen und ungestört zu sein. Er ist zwar nicht vom Schutzbereich des Art. 13 GG umfasst, die Privat- und Intimsphäre des Gefangenen als Ausdruck seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) ist von der Justizvollzugsanstalt jedoch zu wahren. Eine Grundrechtsverletzung kann etwa in der Art und Weise liegen, in der sich der Anstaltsmitarbeiter beim Eintreten in den Haftraum verhält (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Mai 1996 - 2 BvR 727/94 -, Rn. 13). Auch hinsichtlich der Einsichtnahme in den Haftraum ist die Justizvollzugsanstalt insoweit an das Willkürverbot und an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden, die ein schonendes Vorgehen gebieten.

Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt (vgl. BVerfGE 67, 43 <58>; stRspr). Die Gerichte sind verpflichtet, bei der Auslegung und Anwendung des Prozessrechts einen wirkungsvollen Rechtsschutz zu gewährleisten (vgl. BVerfGE 77, 275 <284>) und den Zugang zu den eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren (vgl. BVerfGE 44, 302 <305>; 69, 381 <385>; 77, 275 <284>; 134, 106 <117 Rn. 34>). Die fachgerichtliche Überprüfung kann die rechtsstaatlich gebotene Beachtung des geltenden Rechts und den effektiven Schutz der berührten materiellen Rechte zudem nur gewährleisten, wenn sie auf zureichender Aufklärung des jeweiligen Sachverhalts beruht. Das Gericht hat im Rahmen der Amtsermittlungspflicht von sich aus die zur Aufklärung des Sachverhalts notwendigen Maßnahmen zu treffen (vgl. BVerfGE 101, 275 <294 f.>; BVerfGK 4, 119 <129>; 9, 390 <395>; 9, 460 <463>; 13, 472 <476>; 13, 487 <493>; 17, 429 <430 f.>; 19, 157 <164>; 20, 107 <112>). Um dem Gebot effektiven Rechtsschutzes zu genügen, darf ein Gericht auf die Ausschöpfung aller Erkenntnismöglichkeiten daher nur verzichten, wenn Beweismittel unzulässig, schlechterdings untauglich, unerreichbar oder für die Entscheidung unerheblich sind. Dagegen darf es von einer Beweisaufnahme nicht schon dann absehen, wenn die Aufklärung besonders arbeits- oder zeitaufwendig erscheint (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2017 - 2 BvR 2584/12 -, Rn. 18; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Dezember 2019 - 2 BvR 1258/19, 2 BvR 1497/19 -, Rn. 51). Art. 19 Abs. 4 GG ist verletzt, wenn ein Gericht die prozessrechtlichen Möglichkeiten zur Sachverhaltsfeststellung so eng auslegt, dass ihm eine sachliche Prüfung der ihm vorgelegten Fragen nicht möglich ist und das vom Gesetzgeber verfolgte Verfahrensziel deshalb nicht erreicht werden kann (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2017 - 2 BvR 2584/12 -, Rn. 18 m.w.N.). Dies gilt auch für die gerichtliche Überprüfung von Maßnahmen im Strafvollzug. Die materiell berührten Grundrechte, das Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG und das Rechtsstaatsprinzip sind verletzt, wenn grundrechtseingreifende Maßnahmen im Strafvollzug von den Gerichten ohne zureichende Sachverhaltsaufklärung als rechtmäßig bestätigt werden (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 28. November 2013 - 2 BvR 2784/12 -, Rn. 27 m.w.N.). Wird die Sachverhaltsdarstellung der Vollzugsanstalt vom Gefangenen bestritten, so darf das Gericht seiner Entscheidung die Ausführungen der Anstalt nicht ohne konkrete, auf die Umstände des Falles bezogene Gründe zugrunde legen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 18. März 2015 - 2 BvR 1111/13 -, Rn. 42; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Februar 2020 - 2 BvR 1719/19 -, Rn. 22).

b) Diesen Anforderungen wird der angegriffene Beschluss des Landgerichts Amberg nicht gerecht. Das Gericht ist davon ausgegangen, dass die Einsichtnahmen in den Haftraum bereits nach dem Vortrag des Beschwerdeführers nur kurzfristig und stichprobenartig erfolgt seien. Deshalb sei die Privatsphäre des Gefangenen nur geringfügig verletzt, zumal er sich in den Toilettenraum hätte zurückziehen können. Solche Kontrollen seien wegen der „gerichtsbekannten“ Aggressionshandlungen und Straftaten in Gemeinschaftshafträumen unerlässlich. Das Gericht hat jedoch nicht aufgeklärt, wie häufig tatsächlich Einsichtnahmen stattgefunden haben, ob jeweils ein Anlass bestand, auf welche Weise etwaige Einsichtnahmen für die Gefangenen bemerkbar waren und ob eine weniger eingriffsintensive Ausgestaltung der Einsichtnahme möglich war. Es ist dem Vortrag des Beschwerdeführers nicht nachgegangen, die Gefangenen seien dem Gefühl ausgesetzt gewesen, ständig beobachtet zu werden, und auch andere Gefangene hätten ungehindert Einsicht in den Haftraum nehmen können. Der Beschwerdeführer hatte eine konkrete anlasslose Einsichtnahme geschildert sowie fünf Zeugen benannt.

Soweit das Landgericht ausführt, es komme auf die Frage, ob Einsichtnahmen tatsächlich stattgefunden hätten, nicht an, verkennt es die Bedeutung ihrer konkreten Häufigkeit und Ausgestaltung für die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen.

Die vom Landgericht angewendete Generalklausel des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 BayStVollzG formuliert für solche Maßnahmen die Anforderung, dass Beschränkungen der Freiheit zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung der Anstalt nur erfolgen dürfen, wenn sie „unerlässlich“ sind. Entgegen seiner Aufklärungspflicht hat das Gericht hier unterstellt, dass jede mögliche Einsichtnahme allein aufgrund der erhöhten Gefährdung der Gefangenen bei der (von der Anstalt gewählten) Unterbringung in Gemeinschaftshafträumen unerlässlich sei. Da diese pauschale Wertung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht im Einklang steht, hätte es für die Überprüfung der Verhältnismäßigkeit des Vorgehens einer genaueren Sachaufklärung bedurft.

Die angegriffene Entscheidung beruht auf dem festgestellten Verfassungsverstoß. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Gericht bei hinreichender Sachaufklärung eine dem Beschwerdeführer günstigere Entscheidung getroffen hätte.

2. Die Verfassungsbeschwerde ist auch hinsichtlich des angegriffenen Beschlusses des Bayerischen Obersten Landesgerichts offensichtlich begründet.

a) Zwar fordert Art. 19 Abs. 4 GG keinen Instanzenzug. Eröffnet das Prozessrecht aber eine weitere Instanz, so gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG dem Bürger auch insoweit eine wirksame gerichtliche Kontrolle (vgl. BVerfGE 40, 272 <274 f.>; 54, 94 <96 f.>; 122, 248 <271>; stRspr). Die Rechtsmittelgerichte dürfen ein von der jeweiligen Rechtsordnung eröffnetes Rechtsmittel nicht durch die Art und Weise, in der sie die gesetzlichen Voraussetzungen für den Zugang zu einer Sachentscheidung auslegen und anwenden, ineffektiv machen und für den Rechtssuchenden „leer laufen“ lassen; der Zugang zu den in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanzen darf nicht in einer durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigenden Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 96, 27 <39>; 117, 244 <268>; 122, 248 <271>; stRspr).

b) Diesen Anforderungen hält der angegriffene Beschluss des Bayerischen Obersten Landesgerichts nicht stand.

§ 119 Abs. 3 StVollzG erlaubt, von einer Begründung der Rechtsbeschwerdeentscheidung abzusehen, wenn das Oberlandesgericht die Beschwerde für unzulässig oder offensichtlich unbegründet erachtet, was der Senat vorliegend getan hat. Dies ist verfassungsrechtlich grundsätzlich nicht zu beanstanden (vgl. BVerfGE 50, 287 <289 f.>; 71, 122 <135>; 81, 97 <106>). Daraus folgt jedoch nicht, dass sich der Beschluss selbst verfassungsrechtlicher Prüfung entzöge oder die Maßstäbe der Prüfung zu lockern wären. Vielmehr ist in einem solchen Fall die Entscheidung bereits dann aufzuheben, wenn an ihrer Vereinbarkeit mit Grundrechten des Beschwerdeführers erhebliche Zweifel bestehen (vgl. BVerfGK 19, 306 <317 f. m.w.N.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Februar 2020 - 2 BvR 1719/19 -, Rn. 26). Dies ist angesichts der aufgezeigten inhaltlichen Abweichung der Entscheidungsgründe des Landgerichts Amberg von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hier der Fall.

3. Da die Entscheidungen des Landgerichts und des Bayerischen Obersten Landesgerichts schon wegen des Verstoßes gegen Art. 19 Abs. 4 GG keinen Bestand haben, kann offenbleiben, ob die Beschlüsse weitere Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte des Beschwerdeführers verletzen (vgl. BVerfGE 128, 226 <268>).

IV.

Die Entscheidungen des Landgerichts Amberg vom 26. September 2019 und des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 5. Dezember 2019 sind daher aufzuheben. Die Sache ist an das Landgericht Amberg zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).

V.

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung ergibt sich aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 3

Bearbeiter: Holger Mann