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HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 1202

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 1 BvR 2276/19, Beschluss v. 10.10.2019, HRRS 2019 Nr. 1202


BVerfG 1 BvR 2276/19 (2. Kammer des Ersten Senats) - Beschluss vom 10. Oktober 2019 (LG Kassel)

Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen eine sitzungspolizeiliche Anordnung (Bildberichterstattung; Anfertigung und Verbreitung den Angeklagten identifizierbar abbildender Zeichnungen; allgemeines Persönlichkeitsrecht; Verdachtsberichterstattung; Möglichkeit von Anonymisierungsanordnungen); Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (vorrangige Inanspruchnahme zivilgerichtlichen Rechtsschutzes).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG

Leitsätze des Bearbeiters

1. Eine Verfassungsbeschwerde gegen eine sitzungspolizeiliche Anordnung, nach welcher die Anfertigung und Verbreitung von Zeichnungen zulässig bleibt, die den nicht öffentlich bekannten Angeklagten identifizierbar abbilden, ist wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Subsidiarität unzulässig, wenn es der Angeklagte unterlassen hat, gegen eine sich konkret abzeichnende Veröffentlichung Rechtsschutz vor den Zivilgerichten in Anspruch zu nehmen.

2. Es kann deshalb offen bleiben, ob die Bildberichterstattung mit identifizierenden Zeichnungen nach den Grundsätzen der Verdachtsberichterstattung zulässig wäre und ob sich die Möglichkeit der Strafgerichte, zum Schutz von Persönlichkeitsrechten Anonymisierungsanordnungen zu treffen, auch auf identifizierende Zeichnungen erstreckt oder ob sie auf Foto und Videoaufnahmen beschränkt ist.

Entscheidungstenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos (§ 40 Abs. 3 GOBVerfG).

Gründe

I.

Die Verfassungsbeschwerde und der damit verbundene Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung betreffen die teilweise Zurückweisung eines Antrags auf Erlass einer sitzungspolizeilichen Anordnung zum Schutz der Persönlichkeitsrechte eines Angeklagten in einem Strafverfahren.

1. Der nicht öffentlich bekannte Beschwerdeführer ist einer der Angeklagten in einem Strafverfahren vor dem Landgericht Kassel wegen Korruptionsvorwürfen im Zusammenhang mit Aufträgen seitens einer Tochtergesellschaft der Deutschen Bahn. Das sich über mehrere Verhandlungstage erstreckende, weiterhin andauernde Strafverfahren war mehrfach Gegenstand der Presseberichterstattung, ohne dass bisher in identifizierender Weise über die Angeklagten berichtet worden wäre. In der Sitzung vom 1. Oktober 2019 erschien erstmals im Auftrag einer regionalen Tageszeitung eine Gerichtszeichnerin.

2. In der Sitzung vom 1. Oktober 2019 wies der Vorsitzende den Antrag des Beschwerdeführers auf Erlass einer Anonymisierungsanordnung hinsichtlich etwaiger ihn identifizierender, im Gerichtssaal angefertigter Bildaufnahmen oder Zeichnungen zurück, soweit der Antrag die Verbreitung oder Veröffentlichung von Zeichnungen betraf. Eine Störung der Sitzung durch das Anfertigen von Zeichnungen sei nicht zu erkennen. Das Gericht sei auch nicht dazu berufen, zum Schutz der Privatsphäre des Angeklagten auf Inhalt und Umfang einer Presseberichterstattung einzuwirken. Die hiergegen gerichtete Beanstandung des Beschwerdeführers wies die Strafkammer mit ebenfalls angegriffenem Beschluss zurück.

3. Hiergegen wendet sich der Beschwerdeführer mit seiner Verfassungsbeschwerde und beantragt zugleich, im Wege der einstweiligen Anordnung für die weiteren Verhandlungstage eine Anonymisierung hinsichtlich von ihm im Gerichtssaal angefertigter Zeichnungen zu verfügen. Er rügt eine Verletzung seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts gemäß Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG durch mangelnden Schutz seitens des Strafgerichts. Im Fall der Veröffentlichung einer ihn identifizierenden Zeichnung drohe ihm eine Vorverurteilung und damit ein nicht hinnehmbarer Persönlichkeitsschaden.

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen (§ 93a Abs. 2 BVerfGG), weil sie unzulässig ist. Die Verfassungsbeschwerde wird dem Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde nicht gerecht (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG).

Nach dem Grundsatz der materiellen Subsidiarität war der Beschwerdeführer vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde gehalten, sich auch anderer zur Erreichung seines Anliegens geeigneter, zumutbarer und möglicherweise erfolgversprechender rechtlicher Schritte zu bedienen.

Dem ist der Beschwerdeführer nicht gerecht geworden. Hier wäre es dem Beschwerdeführer, soweit aus dem Vortrag ersichtlich, möglich gewesen und weiterhin möglich, gegenüber einer sich konkret abzeichnenden Verbreitung oder Veröffentlichung ihn identifizierender Zeichnungen - auch einstweiligen - Rechtsschutz vor den Zivilgerichten zu suchen. Der Beschwerdeführer hat weder vorgetragen noch ist sonst ersichtlich, dass ihm dieser grundsätzlich gangbare Weg vorliegend versperrt oder unzumutbar sei. Insbesondere gibt es keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Zivilgerichte ein solches Rechtsschutzbegehren wegen eines Hineinwirkens in den laufenden Strafprozess zurückgewiesen hätten oder zurückweisen müssten. Denn das sachliche Anliegen des Beschwerdeführers - der Schutz seiner Persönlichkeitsrechte gegenüber der Verbreitung und Veröffentlichung ihn identifizierender Zeichnungen - ist auch ohne ein Hineinwirken in den Strafprozess erreichbar, nämlich durch das Verbot der Verbreitung oder Veröffentlichung solcher Zeichnungen. In der Sache handelt es sich daher um ein Begehren, das vor den Zivilgerichten als Unterlassungsbegehren verfolgbar wäre.

Es kommt daher nicht darauf an, ob vorliegend eine mit identifizierenden Zeichnungen des Beschwerdeführers bebilderte Berichterstattung nach den Grundsätzen der Verdachtsberichterstattung zulässig wäre. Ebenso kann offenbleiben, ob sich die vom Bundesverfassungsgericht im Grundsatz gebilligte Möglichkeit der Strafgerichte, Anonymisierungsanordnungen zum Schutz von Persönlichkeitsrechten zu treffen, auch auf identifizierende Zeichnungen erstreckt oder auf den Bereich von Video- oder Fotoaufnahmen beschränkt ist.

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 1202

Bearbeiter: Holger Mann