HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 517
Bearbeiter: Holger Mann
Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 890/16, Beschluss v. 06.05.2016, HRRS 2016 Nr. 517
Die einstweilige Anordnung vom 29. April 2016 wird für die Dauer von sechs Monaten, längstens jedoch bis zur Entscheidung in der Hauptsache, wiederholt (§ 93d Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1, § 32 Abs. 6 Satz 2 BVerfGG).
Die Verfassungsbeschwerde und der gleichzeitig gestellte Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung betreffen die Auslieferung des Beschwerdeführers an das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland. Das Bundesverfassungsgericht hat durch einstweilige Anordnung vom 29. April 2016 die Übergabe des Beschwerdeführers an die Behörden des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von zehn Tagen, einstweilen ausgesetzt. Binnen dieser Frist war die Vollmacht im Original vorzulegen. Diese ist am 4. Mai 2016 beim Bundesverfassungsgericht eingegangen. Die Begründung der einstweiligen Anordnung war im Beschluss vom 29. April 2016 zurückgestellt worden. Sie wird im Folgenden unter den Gliederungspunkten I. bis IV. nachgeholt.
1. Der in Großbritannien geborene Beschwerdeführer ist inzwischen kroatischer Staatsangehöriger und lebt und wohnt in Kroatien. Er wurde am 4. Februar 2016 durch das Landeskriminalamt Berlin aufgrund einer Ausschreibung der britischen Behörden im Schengener Informationssystem und der Übermittlung eines Europäischen Haftbefehls des Central Hertfordshire Magistrates? Court vom 12. Dezember 2007 in Berlin festgenommen und befindet sich seither in Haft.
Dem Europäischen Haftbefehl liegt ein Haftbefehl des Central Hertfordshire Magistrates? Court vom 13. April 2007 zugrunde, in dem dem Beschwerdeführer zur Last gelegt wird, am 26. April 1993 in Hertfordshire einen Mann erschossen zu haben. Zuvor soll er ihn - zusammen mit zwei Mittätern - unter dem Vorwand, ihm Cannabis verkaufen zu wollen, an den Tatort gelockt haben. Er soll sich dort in einem Gebüsch versteckt gehalten haben und nach Ankunft des Opfers ohne Vorwarnung zu dem von diesem geführten Fahrzeug gelaufen sein, um sodann mit einer Handfeuerwaffe durch das Fahrzeugfenster auf das Opfer zu schießen, das seinen Verletzungen erlag; nach dem Recht des ersuchenden Staates strafbar als Mord, Besitz einer Schusswaffe mit der Absicht der Begehung einer schweren Straftat, Verabredung zum Betrug und Angebot der Lieferung einer kontrollierten Droge. Der Europäische Haftbefehl führt weiter aus, dass sich zwei der bereits verurteilten Mitbeschuldigten als Belastungszeugen gegen den Beschwerdeführer zur Verfügung gestellt hätten.
2. Mit dem angegriffenen Beschluss vom 21. April 2016 erklärte das Kammergericht die Auslieferung des Beschwerdeführers an das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland zum Zwecke der Strafverfolgung wegen der in dem Europäischen Haftbefehl des Central Hertfordshire Magistrates? Court vom 12. Dezember 2007 bezeichneten Straftaten für zulässig und ordnete die Fortdauer der Auslieferungshaft an (<4> 151 AuslA 214/15 <29/16>). Zur Begründung wurde unter anderem ausgeführt, dass Hindernisse, die der Auslieferung des Beschwerdeführers entgegenstünden, nicht ersichtlich seien. Der Auslieferung stehe insbesondere auch nicht entgegen, dass nach dem - nach Auskunft der britischen Behörden auf den Fall des Beschwerdeführers anwendbaren - § 35 Criminal Justice and Public Order Act 1994 das Schweigen des Angeklagten und die Nichtbeantwortung einzelner Fragen im Rahmen der Beweiswürdigung zu seinem Nachteil gewertet werden könnten. Dies stelle keine im Rahmen des § 73 IRG beachtliche Verletzung völkerrechtlicher Mindeststandards dar (unter Verweis auf BVerfG, Beschluss vom 22. Juni 1992 - 2 BvR 1901/91 -, juris, Rn. 10 zur weitgehend wortlautidentischen Vorschrift des § 4 Criminal Evidence <Northern Ireland> Order 1988). § 38 Abs. 3 Criminal Justice and Public Order Act 1994 stelle klar, dass das in § 35 genannte Verhalten des Angeklagten nicht alleinige Grundlage einer Verurteilung sein könne. Der Beschluss wurde dem Beschwerdeführer am 27. April 2016 zugestellt.
3. Mit Schriftsätzen vom 29. April 2016, eingegangen am selben Tag, erhob der Beschwerdeführer durch seine Verfahrensbevollmächtigte Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Kammergerichts vom 21. April 2016, soweit darin die Auslieferung für zulässig erklärt wurde, und beantragte zugleich, im Wege der einstweiligen Anordnung die Wirksamkeit des Beschlusses vom 21. April 2016 bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde auszusetzen und es der Bundesrepublik Deutschland zu untersagen, den Beschwerdeführer an das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland auszuliefern. Den Schriftsätzen lag keine schriftliche, sich ausdrücklich auf das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht beziehende Vollmacht bei. Die Verfahrensbevollmächtigte des Beschwerdeführers versicherte jedoch auf Rückfrage am 29. April 2016 telefonisch, vom Beschwerdeführer bevollmächtigt zu sein.
Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG.
1. Das Kammergericht habe die Reichweite des Schweigerechts des Beschwerdeführers und des Schutzes des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit verkannt. Das aus dem Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit herrührende Schweigerecht des Angeklagten sowie die Pflicht des Gerichts, das Schweigen des Angeklagten im Rahmen der Beweiswürdigung außer Acht zu lassen, gehöre zur Verfassungsidentität der Bundesrepublik Deutschland. Im Fall seiner Auslieferung an das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland sei eine Wahrung dieses Rechts aufgrund von § 35 Criminal Justice and Public Order Act 1994 jedoch nicht gewährleistet, da dieser einem Gericht und einer Jury die Möglichkeit eröffne, aus dem Schweigen des Angeklagten Schlüsse auf seine Schuld zu ziehen.
2. Zwar unterlägen Entscheidungen in Auslieferungsverfahren im Rahmen des Europäischen Haftbefehls grundsätzlich nur eingeschränkter verfassungsgerichtlicher Kontrolle. In seinem Beschluss vom 15. Dezember 2015 habe das Bundesverfassungsgericht allerdings klargestellt, dass es im Wege der Identitätskontrolle den gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 und Art. 1 Abs. 1 GG unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz uneingeschränkt und im Einzelfall gewährleiste (unter Verweis auf BVerfG, Beschluss vom 15. Dezember 2015 - 2 BvR 2735/14 -, NJW 2016, S. 1149).
3. Der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit sei verfassungsrechtlich durch Art. 1 Abs. 1 GG geschützt (unter Verweis auf BVerfGE 56, 37 <41 ff.>). Das Bundesverfassungsgericht habe wiederholt betont, dass der Schutz, den der Beschuldigte durch den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit genieße, auch nicht dadurch entwertet werden dürfe, dass er befürchten müsse, sein Schweigen werde später bei der Beweiswürdigung zu seinem Nachteil verwendet (unter Verweis auf BVerfGK 14, 295 <303>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 7. Juli 1995 - 2 BvR 326/92 -, NStZ 1995, S. 555 <555>). Aus dem Schweigerecht folge insofern nicht nur ein Verwertungsverbot hinsichtlich erzwungener Aussagen. Vielmehr dürfe das Schweigen als solches im Strafverfahren jedenfalls dann nicht als belastendes Indiz verwendet werden, wenn der Beschuldigte die Einlassung zur Sache im Ermittlungsverfahren oder während der Hauptverhandlung vollständig verweigere (unter Verweis auf BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 7. Juli 1995 - 2 BvR 326/92 -, NStZ 1995, S. 555).
4. Soweit sich das Kammergericht auf einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Juni 1992 (2 BvR 1901/91) berufen habe, vermöge dies in Anbetracht der seitdem erfolgten europarechtlichen Entwicklungen und der seitdem geänderten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht zu überzeugen. Zwar betreffe der zitierte Beschluss einen bei oberflächlicher Betrachtung vergleichbaren Fall; auch sei der dem Beschluss zugrunde liegende § 4 Criminal Evidence (Northern Ireland) Order 1988 weitestgehend wortgleich mit dem hier einschlägigen § 35 Criminal Justice and Public Order Act 1994. Das Kammergericht verkenne jedoch, dass die Entscheidung zeitlich nicht nur vor Gründung der Europäischen Union und der damit verbundenen später eingetretenen Vielzahl an europarechtlichen Veränderungen ergangen sei, sondern vor allem auch vor der zentralen, den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit und des Schweigerechts ausgestaltenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Vor diesem Hintergrund sei nicht davon auszugehen, dass das Bundesverfassungsgericht an der damaligen Argumentation festhalten werde.
1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Als Mittel des vorläufigen Rechtsschutzes hat die einstweilige Anordnung auch im verfassungsgerichtlichen Verfahren die Aufgabe, die Schaffung vollendeter Tatsachen zu verhindern; sie soll auf diese Weise dazu beitragen, Wirkung und Bedeutung einer erst noch zu erwartenden Entscheidung in der Hauptsache zu sichern und zu erhalten (vgl. BVerfGE 42, 103 <119>). Deshalb bleiben die Gründe, welche für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme sprechen, außer Betracht, es sei denn, die Hauptsache erwiese sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 77, 130 <135>; 89, 91 <94>; 104, 23 <27 f.>; 105, 365 <370 f.>; 106, 359 <363>; 122, 374 <384>; stRspr). Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen abwägen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 76, 253 <255>).
2. Die vorliegende Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig (a) noch offensichtlich unbegründet (b).
a) Die Verfassungsbeschwerde ist nicht von vornherein unzulässig.
aa) Insbesondere genügt die Verfassungsbeschwerde den Begründungsanforderungen gemäß § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG. Sie stellt den grundrechtsrelevanten Sachverhalt, die einfachgesetzliche Rechtslage und die Möglichkeit einer Verletzung verfassungsbeschwerdefähiger Rechte des Beschwerdeführers in ausreichendem Umfang dar. Sie geht auf die für den Prüfungsmaßstab im vorliegenden Verfahren relevante Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein und setzt sich dabei auch - wie geboten - mit dem in der angegriffenen Entscheidung des Kammergerichts zitierten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Juni 1992 auseinander.
bb) Zwar hat die Verfahrensbevollmächtigte des Beschwerdeführers ihre ordnungsgemäße Bevollmächtigung zunächst nicht - wie von § 22 Abs. 2 BVerfGG geboten (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 6. August 2014 - 2 BvR 1340/14 -, juris, Rn. 9) - durch Vorlage des Originals der Vollmacht, die sich ausdrücklich auf das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht bezieht, nachgewiesen. Die Vollmacht für die Verfassungsbeschwerde muss jedoch grundsätzlich nicht bereits zum Zeitpunkt der Erhebung der Verfassungsbeschwerde vorgelegt werden; vielmehr kann sie nachgereicht werden (vgl. BVerfGE 50, 381 <383>).
Getrennt davon ist die ordnungsgemäße Bevollmächtigung für den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu betrachten. Grundsätzlich ist ein durch einen Verfahrensbevollmächtigten erhobener Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung unzulässig, solange nicht eine schriftliche Vollmacht gemäß § 22 Abs. 2 BVerfGG für diesen beziehungsweise das gleichzeitig eingeleitete Verfassungsbeschwerdeverfahren nachgewiesen wird (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 12. März 2000 - 1 BvQ 5/00 -, NVwZ-RR 2000, S. 553 <553>). Allerdings kann das Bundesverfassungsgericht für die Nachreichung der Vollmacht eine Frist bestimmen (vgl. BVerfGE 50, 381 <384>). Dies ist vorliegend ausnahmsweise auch für das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes und zudem in der begehrten einstweiligen Anordnung selbst dadurch gerechtfertigt, dass die Verfahrensbevollmächtigte des Beschwerdeführers telefonisch ihre Bevollmächtigung versichert hat, die Erteilung und Übersendung einer schriftlichen Vollmacht angesichts der Gesamtumstände, insbesondere der Inhaftierung des Beschwerdeführers und des gleichzeitig bestehenden erheblichen Zeitdrucks, unter dem der Erlass einer einstweiligen Anordnung zur vorläufigen Verhinderung der Auslieferung des Beschwerdeführers beantragt werden musste, kaum möglich war und angesichts des unmittelbar bevorstehenden Vollzugs der Auslieferung eine sofortige Entscheidung über die einstweilige Anordnung geboten war, um den Eintritt irreversibler Tatsachen zu verhindern.
b) Die Verfassungsbeschwerde ist auch nicht offensichtlich unbegründet.
aa) (1) Der Auslieferungsverkehr der Bundesrepublik Deutschland mit anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ist durch den Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl Nr. L 190 vom 18. Juli 2002 - RbEuHb -) zumindest teilweise unionsrechtlich determiniert. So zählt der Rahmenbeschluss - grundsätzlich abschließend - bestimmte Gründe auf, aus denen die Vollstreckung eines Auslieferungsersuchens eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines Europäischen Haftbefehls (vgl. Art. 1 Abs. 1 RbEuHb), abzulehnen ist oder abgelehnt werden kann (vgl. Art. 3 f. RbEuHb). Die nach der Rechtsordnung des ersuchenden Staates zulässige Verwertung des Schweigens des Angeklagten zu dessen Lasten ist im Rahmenbeschluss nicht als zwingender oder zulässiger Ablehnungsgrund genannt. Entsprechend dieser unionsrechtlichen Determinierung sieht auch das Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen einen solchen Ablehnungsgrund nicht (ausdrücklich) vor (vgl. §§ 81 ff. IRG).
(2) Durch das Unionsrecht determinierte Akte der deutschen öffentlichen Gewalt sind - wie Hoheitsakte der Europäischen Union selbst - mit Blick auf den Anwendungsvorrang des Unionsrechts grundsätzlich nicht am Maßstab der im Grundgesetz verankerten Grundrechte zu messen. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts findet - wie der Senat in einem ebenfalls die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls betreffenden Verfahren festgestellt hat - seine Grenze jedoch in den durch Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG für integrationsfest erklärten Grundsätzen der Verfassung. Dazu gehören namentlich die Grundsätze des Art. 1 GG. Die Gewährleistung dieser Grundsätze ist daher auch bei der Anwendung unionsrechtlich determinierter Vorschriften durch die deutsche öffentliche Gewalt sicherzustellen (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 15. Dezember 2015 - 2 BvR 2735/14 -, NJW 2016, S. 1149 <1150 Rn. 36>). Verletzt die Anwendung unionsrechtlich determinierter Vorschriften die von Art. 1 GG gewährleisteten Grundsätze, so kann dies im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde gerügt und festgestellt werden (vgl. BVerfGE 123, 267 <354>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 15. Dezember 2015 - 2 BvR 2735/14 -, NJW 2016, 1149 <1151 Rn. 43>).
(3) In der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ist geklärt, dass erzwingbare Auskunftspflichten einen Eingriff in die Handlungsfreiheit sowie eine Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts im Sinne des Art. 2 Abs. 1 GG darstellen (vgl. BVerfGE 56, 37 <41 f.>). Ein Zwang zur Selbstbezichtigung berührt zugleich die Würde des Menschen, dessen Aussage als (Beweis-)mittel gegen ihn selbst verwendet wird (vgl. BVerfGE 56, 37 <42>). Demgemäß gehört das Schweigerecht des Beschuldigten im Strafverfahren (§§ 136, 163a, 243 Abs. 4 StPO) seit langem zu den anerkannten Grundsätzen des Strafprozesses (nemo tenetur se ipsum accusare); es wird in Art. 14 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 (BGBl 1973 II S. 1533) ausdrücklich gewährleistet. Erzwungene Aussagen unterliegen einem strafprozessualen Verwertungsverbot nach Maßgabe des § 136a StPO (vgl. BVerfGE 56, 37 <43>). Ein dahingehend ausgestaltetes Schweigerecht wird in der Rechtsprechung als selbstverständlicher Ausdruck einer rechtsstaatlichen Grundhaltung bezeichnet, die auf dem Leitgedanken der Achtung vor der Menschenwürde beruhe (vgl. BVerfGE 38, 105 <113>; 56, 37 <43> m.w.N.). In der Literatur wird das Verbot der Selbstbezichtigung im Strafprozess als eine durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG gebotene Wertentscheidung zugunsten des Persönlichkeitsrechts des Beschuldigten gewürdigt, hinter dem das Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit zurücktreten müsse; die Menschenwürde gebiete, dass der Beschuldigte frei darüber entscheiden könne, ob er als Werkzeug zur Überführung seiner selbst benutzt werden dürfe (vgl. BVerfGE 56, 37 <43 f.> m.w.N.).
Das dem Beschuldigten im Strafverfahren aus den erörterten verfassungsrechtlich relevanten Gründen zustehende Schweigerecht wird ergänzt und abgesichert durch den aus dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes in Verbindung mit dem allgemeinen Freiheitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG) hergeleiteten Anspruch auf ein rechtsstaatliches, faires Verfahren (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 7. Juli 1995 - 2 BvR 326/92 -, NStZ 1995, S. 555 <555>). Danach darf der Beschuldigte im Rechtsstaat des Grundgesetzes nicht bloßes Objekt des Verfahrens sein; ihm muss vielmehr die Möglichkeit gegeben werden, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Strafverfahrens Einfluss zu nehmen (vgl. BVerfGE 66, 313 <318>; stRspr). Steht dem Beschuldigten nach der Verfassung ein Schweigerecht zu, so folgt daraus nicht nur ein Verwertungsverbot hinsichtlich erzwungener Aussagen (vgl. BVerfGE 56, 37 <51>). Vielmehr darf das Schweigen des Beschuldigten als solches im Strafverfahren jedenfalls dann nicht als belastendes Indiz gegen ihn verwendet werden, wenn er die Einlassung zur Sache vollständig verweigert hat (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 7. Juli 1995 - 2 BvR 326/92 -, NStZ 1995, S. 555 <555>). Denn das aus der Menschenwürde des Beschuldigten hergeleitete Schweigerecht würde entwertet, müsste er befürchten, dass sein Schweigen später bei der Beweiswürdigung zu seinem Nachteil verwendet wird; eine Verwertung des Schweigens zum Schuldnachweis setzte den Beschuldigten mittelbar einem unzulässigen psychischen Zwang aus. Dabei kann es zumindest dann, wenn der Beschuldigte von Anfang an vollumfänglich zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen geschwiegen hat, keinen Unterschied machen, ob nachteilige Schlüsse aus seinem Schweigen im Ermittlungsverfahren oder aus dem Schweigen in der Hauptverhandlung gezogen werden sollen (vgl. BVerfGK 14, 295 <303>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 7. Juli 1995 - 2 BvR 326/92 -, NStZ 1995, S. 555 <555>).
bb) Gemessen hieran ist die Verfassungsbeschwerde jedenfalls nicht offensichtlich unbegründet. Aufgrund von §§ 35, 38 Criminal Justice and Public Order Act 1998, die nach Auskunft der Behörden des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland auf das dort gegen den Beschwerdeführer geführte Strafverfahren Anwendung finden können, droht dem Beschwerdeführer im ersuchenden Staat ein Strafverfahren, in dem seine - auch vollumfängliche - Weigerung, sich zu den Vorwürfen zu äußern, zu seinem Nachteil verwertet werden und - jedenfalls ergänzt durch andere Beweismittel - Grundlage für seine strafrechtliche Verurteilung sein kann. Nach der dargestellten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erscheint es zumindest möglich, dass dies den gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 und Art. 1 Abs. 1 GG unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz unterschreitet, der auch im Rahmen der Auslieferung auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls im Einzelfall zu gewährleisten ist. Ob die Verwertung des Schweigens des Angeklagten zu dessen Lasten - ergänzt durch weitere Beweismittel und Indizien - tatsächlich eine Verletzung von Art. 1 Abs. 1 GG darstellt, muss im Hauptsacheverfahren geklärt werden.
Zwar hat die 3. Kammer des Zweiten Senats in einem Beschluss vom 22. Juni 1992 eine Auslieferung, in deren Folge in dem im ersuchenden Staat durchzuführenden Strafverfahren aufgrund einer § 35 Criminal Justice and Public Order Act 1994 ähnlichen Regelung Schweigen des Angeklagten zu dessen Nachteil verwertet werden konnte, jedenfalls unter der Voraussetzung nicht als verfassungsrechtlich unzulässig angesehen, dass das Schweigen des Angeklagten allein - wie gemäß § 38 Abs. 3 Criminal Justice and Public Order Act 1994 - eine Verteilung nicht tragen, sondern sich allenfalls unterstützend auswirken kann (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Juni 1992 - 2 BvR 1901/91 -, juris, Rn. 9 ff.). Allerdings hat der Zweite Senat in der Zwischenzeit den der Entscheidung vom 22. Juni 1992 zugrunde gelegten verfassungsgerichtlichen Prüfungsmaßstab für Auslieferungen, dementsprechend diese und die ihr zugrunde liegenden Akte nur auf die Wahrung des völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandards (Art. 25 GG) sowie der unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze ihrer öffentlichen Ordnung zu überprüfen waren (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Juni 1992 - 2 BvR 1901/91 -, juris, Rn. 9), jedenfalls in Bezug auf Auslieferungen auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls dahingehend konkretisiert, dass zumindest die durch Art. 1 GG verbürgten Gewährleistungen gewahrt sein müssen (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 15. Dezember 2015 - 2 BvR 2735/14, NJW 2016, S. 1149 <1150 ff. Rn. 36 ff.>). Unter Berücksichtigung dieser in der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aufgestellten Maßstäbe erscheint es jedenfalls zweifelhaft, ob an der im Kammerbeschluss vom 22. Juni 1992 vertretenen Auffassung festzuhalten ist. Eine Antwort auf diese Frage ist dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.
c) Die somit gebotene Folgenabwägung führt zum Erlass der im Entscheidungsausspruch näher bezeichneten einstweiligen Anordnung und ihrer Verlängerung. Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, so entstünden dem Beschwerdeführer durch die Übergabe an die Behörden des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland erhebliche und möglicherweise nicht wiedergutzumachende Nachteile. Die Verzögerung der Übergabe des Beschwerdeführers wiegt demgegenüber weniger schwer. Es ist nicht erkennbar, dass das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland bei der Durchsetzung ihres Strafverfolgungsanspruchs oder die Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf ihre rechtlichen Verpflichtungen bereits durch die Verzögerung der Auslieferung unwiederbringliche Rechtsnachteile erlitten.
Wegen der besonderen Dringlichkeit, die sich daraus ergibt, dass der Beschwerdeführer bereits am 29. April 2016 nur wenige Stunden nach Eingang des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung den Behörden des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland übergeben werden sollte, erging die einstweilige Anordnung ohne vorherige Gelegenheit zur Stellungnahme (§ 32 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG).
Die Vollziehung des (im Rahmen dieses verfassungsgerichtlichen Verfahrens nicht angegriffenen) Auslieferungshaftbefehls bleibt vom Erlass der einstweiligen Anordnung unberührt.
Das Bundesverfassungsgericht kann eine einstweilige Anordnung dann wiederholen, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen für den erstmaligen Erlass einer solchen Anordnung noch gegeben sind (vgl. BVerfGE 21, 50 <50>; 89, 113 <115 f.>; 97, 102 <102>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Juni 2004 - 2 BvQ 70/03 -, juris, Rn. 3; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 11. November 2013 - 2 BvR 547/13 -, juris, Rn. 6). Dies ist vorliegend der Fall. Insbesondere wurde inzwischen die der Verfahrensbevollmächtigten des Beschwerdeführers erteilte Vollmacht im Original vorgelegt.
HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 517
Bearbeiter: Holger Mann