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HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 413

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 2459/16, Beschluss v. 22.03.2017, HRRS 2017 Nr. 413


BVerfG 2 BvR 2459/16 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 22. März 2017 (OLG Frankfurt am Main / LG Marburg)

Verfassungsrechtliche Zweifel an einer Fesselungsanordnung im Vollzug der Sicherungsverwahrung (Resozialisierungsgebot im Maßregelvollzug; Begründung einer Entweichungsgefahr; mangelnde prognostische Kraft älterer Sachverständigengutachten); Glaubhaftmachung eines Zugangszeitpunkts im Gehörsrügeverfahren (Recht auf effektiven Rechtsschutz; Recht auf rechtliches Gehör; schlichte Erklärung des Betroffenen als Mittel der Glaubhaftmachung ausnahmsweise ausreichend bei Fehlen anderer Mittel); Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (Substantiierungserfordernis; Vorlage entscheidungsrelevanter Unterlagen).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG; Art. 103 Abs. 1 GG; § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfG; § 92 BVerfGG; § 356a Satz 3 StPO; § 50 Abs. 4 Hess. SiVVollzG

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die eine gegenüber einem Sicherungsverwahrten ergangene Fesselungsanordnung bestätigende Entscheidung einer Strafvollstreckungskammer begegnet Bedenken im Hinblick auf das Resozialisierungsgebot, wenn die Kammer eine Entweichungsgefahr unter Heranziehung über acht und bis zu 18 Jahre alter externer Sachverständigengutachten begründet, ohne sich mit der Frage auseinanderzusetzen, inwieweit diesen gegenwärtig noch eine prognostische Kraft zukommen kann.

2. Die schlichte Erklärung des Betroffenen kann vor dem Hintergrund des Rechts auf effektiven Rechtsschutz und auf rechtliches Gehör als Mittel der Glaubhaftmachung ausnahmsweise zuzulassen sein, wenn in der konkreten Fallgestaltung andere Mittel nicht zur Verfügung stehen. Dies liegt etwa nahe, wenn ein Sicherungsverwahrter im Gehörsrügeverfahren den Zeitpunkt des Zugangs des angegriffenen Beschlusses glaubhaft zu machen hat, der zugehörige Briefumschlag jedoch nicht mit einem Poststempel versehen war.

3. Eine Verfassungsbeschwerde wegen einer strafvollzugsrechtlichen Fesselungsanordnung ist nicht hinreichend substantiiert und damit unzulässig, wenn sie weder die einschlägigen Gefährlichkeitsgutachten noch den zuletzt ergangenen Beschluss über die Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung oder den aktuellen Vollzugs- und Behandlungsplan vorlegt, aus denen die der angegriffenen Anordnung zugrunde gelegte Entweichungsgefahr hergeleitet worden ist.

Entscheidungstenor

1. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwalt W. wird abgelehnt, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet.

2. Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil ein Annahmegrund gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegt.

1. Die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg.

a) Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen die gerichtlichen Entscheidungen über die Rechtmäßigkeit der Anordnung der Fesselung richtet, ist sie unzulässig, weil sie dem Begründungserfordernis gemäß § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG nicht genügt. Der Beschwerdeführer ist seiner Substantiierungspflicht nicht nachgekommen. Er hat es insbesondere unterlassen, entscheidungserhebliche Unterlagen - wie etwa die beiden Gutachten des Prof. Dr. Dr. B. aus den Jahren 2013 und 2014, das Gutachten von Dr. S. aus dem Jahr 2015, den aktuellen Vollzugs- und Behandlungsplan oder den Beschluss über die Fortdauer der Sicherungsverwahrung - (vollständig) vorzulegen oder ausreichend wiederzugeben.

b) Soweit der Beschwerdeführer die gerichtliche Entscheidung über die Anhörungsrüge angreift, ist weder dargelegt noch ersichtlich, dass diese auf einem Verfassungsverstoß beruht (vgl. BVerfGE 131, 66 <85>). Der Beschluss enthält, obgleich er die Anhörungsrüge als unzulässig bewertet, hilfsweise Ausführungen zur Begründetheit, die keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnen. Vor diesem Hintergrund kann dahinstehen, dass die angegriffenen Beschlüsse verfassungsrechtlich bedenklich sind.

2. Der angegriffene Beschluss des Landgerichts über die Rechtmäßigkeit der Fesselungsanordnung der Justizvollzugsanstalt im Rahmen einer Ausführung wirft im Hinblick auf das verfassungsrechtliche Resozialisierungsgebot (vgl. BVerfGE 109, 133 <151>; 128, 326 <377>) Zweifel auf. Das Gericht hat die Gefahr einer Entweichung im Sinne des § 50 Abs. 4 Hessisches Sicherungsverwahrungsvollzugsgesetz unter anderem mit dem Vorliegen einer „negativen Legalprognose“ begründet und zum Beleg auf externe Sachverständigengutachten aus den Jahren 1998, 2003 sowie 2008 verwiesen. Es hat sich allerdings nicht mit der Frage auseinander gesetzt, inwieweit diesen Gutachten wegen des seit der Begutachtung verstrichenen Zeitraums noch eine prognostische Kraft zukommen kann (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 8. Juli 2010 - 2 BvR 1771/09 -, juris, Rn. 17 ff.). Zudem ist nicht deutlich geworden, warum das Gericht das Gutachten von Dr. S. aus dem Jahr 2015 im angegriffenen Beschluss zwar erwähnt (vgl. Seite 3), bei der Frage des Vorliegens einer Entweichungsgefahr jedoch nicht einbezogen hat.

3. Auch die Anforderungen, die das Oberlandesgericht in der angegriffenen Entscheidung über die Anhörungsrüge an die Glaubhaftmachung des Zeitpunkts der Kenntniserlangung einer Verletzung des rechtlichen Gehörs gestellt hat (vgl. § 356a Satz 3 StPO), erscheinen mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und Art. 103 Abs. 1 GG als unangemessen.

a) Soweit das Oberlandesgericht die schlichte Erklärung des Beschwerdeführers zur Glaubhaftmachung als nicht ausreichend erachtet hat, hat es verkannt, dass das Bundesverfassungsgericht bereits mehrfach festgestellt hat, dass es in bestimmten Fallkonstellationen geboten sein kann, eine nicht durch weitere Mittel der Glaubhaftmachung unterstützte Erklärung als geeignet anzusehen, um eine richterliche Überzeugung zu begründen (vgl. BVerfGE 26, 315 <319 f.>; 38, 35 <39 f.>; 40, 88 <92 f.>; 41, 332 <339 f.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 2. Februar 1993 - 2 BvR 390/92 -, juris, Rn. 9 m.w.N.; vom 4. Februar 1993 - 2 BvR 389/92 -, juris, Rn. 9 m.w.N.; vom 14. Februar 1995 - 2 BvR 1950/94 -, juris, Rn. 18 m.w.N.; vom 26. März 1997 - 2 BvR 842/96 -, juris, Rn. 13; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Februar 2002 - 2 BvR 1707/01 -, juris, Rn. 12). Eine schlichte Erklärung kann insbesondere dann zuzulassen sein, wenn andere Mittel der Glaubhaftmachung in der jeweiligen Fallgestaltung nicht zur Verfügung stehen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 2. Februar 1993 - 2 BvR 390/92 -, juris, Rn. 9 m.w.N.; vom 4. Februar 1993 - 2 BvR 389/92 -, juris, Rn. 9 m.w.N.; vom 14. Februar 1995 - 2 BvR 1950/94 -, juris, Rn. 18 m.w.N.; vom 26. März 1997 - 2 BvR 842/96 -, juris, Rn. 13; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Februar 2002 - 2 BvR 1707/01 -, juris, Rn. 12).

b) Das Oberlandesgericht hätte sich daher damit auseinandersetzen müssen, welche Möglichkeiten dem sicherungsverwahrten Beschwerdeführer zur Glaubhaftmachung des Zeitpunkts der Kenntniserlangung einer Verletzung des rechtlichen Gehörs, der mit dem Zeitpunkt des Zugangs des angegriffenen Beschlusses übereinstimmen dürfte, verbleiben, wenn der Briefumschlag, in dem der angegriffene Beschluss an den Beschwerdeführer übersandt wurde, nicht mit einem Poststempel versehen wurde. Die Benennung von JVA-Bediensteten als Zeugen für das Datum des Zugangs scheidet jedenfalls in der Regel aus, da nach der allgemeinen Lebenserfahrung nicht damit zu rechnen ist, dass sich diese nach einem längeren Zeitraum an das genaue Übergabedatum eines bestimmten Schriftstücks erinnern können (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 2. Februar 1993 - 2 BvR 390/92 -, juris, Rn. 10; vom 4. Februar 1993 - 2 BvR 389/92 -, juris, Rn. 10).

c) Diese Ausführungen gelten ungeachtet der Frage, ob sich die Anhörungsrüge, mit der sich der Beschwerdeführer gegen den Beschluss über die Rechtsbeschwerde wendet, nach § 33a StPO oder § 356a StPO zu richten hat (ebenfalls offenlassend BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. August 2010 - 2 BvR 619/10 -, juris, Rn. 4; vom 30. November 2011 - 2 BvR 2358/11 -, juris, Rn. 2).

4. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 413

Bearbeiter: Holger Mann