HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 607
Bearbeiter: Holger Mann
Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 1511/16, Beschluss v. 02.05.2017, HRRS 2017 Nr. 607
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwältin B… wird abgelehnt, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet.
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil die Möglichkeit eines Verstoßes gegen das Resozialisierungsgebot (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) nicht ersichtlich ist (1.) und im Übrigen ein Annahmegrund im Sinne des § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegt (2.).
1. Zwar begegnet der angegriffene Beschluss des Landgerichts mit Blick auf den grundrechtlich geschützten Resozialisierungsanspruch (vgl. BVerfGE 116, 69 <85 f.>) verfassungsrechtlichen Bedenken insoweit, als das Gericht darin von einem besonders strengen Prüfungsmaßstab bei der Beurteilung der persönlichen Eignung von zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten Strafgefangenen für die Unterbringung im offenen Vollzug auszugehen scheint. Die Möglichkeit eines Grundrechtsverstoßes zum Nachteil des Beschwerdeführers ist im konkreten Fall gleichwohl nicht ersichtlich, weil die Vollzugsbehörde, deren Planung das Landgericht in dem Beschluss bestätigt hat, ihrer Entscheidung einen verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Prüfungsmaßstab zugrunde gelegt und die fehlende Eignung des Beschwerdeführers für die Unterbringung im offenen Vollzug frei von sachfremden Erwägungen vertretbar begründet hat.
a) Erstrebt ein Gefangener die Unterbringung im offenen Vollzug, so wird er durch deren Versagung in seinem durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG grundrechtlich geschützten Resozialisierungsinteresse berührt (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 12. Juni 2002 - 2 BvR 116/02 -, juris, Rn. 3); dies gilt auch für einen zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten (vgl. BVerfGK 17, 459 <462>). Androhung und Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe finden ihre verfassungsrechtlich notwendige Ergänzung in einem sinnvollen Behandlungsvollzug (vgl. BVerfGE 45, 187 <238>; 64, 261 <272 f.>; stRspr). Die Vollzugsanstalten sind mithin im Hinblick auf Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verpflichtet, schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzugs, vor allem deformierenden Persönlichkeitsstörungen, die die Lebenstüchtigkeit ernsthaft in Frage stellen und es ausschließen, dass sich der Gefangene im Falle einer Entlassung aus der Haft im normalen Leben noch zurechtzufinden vermag, im Rahmen des Möglichen zu begegnen (vgl. BVerfGE 45, 187 <238>; 64, 261 <272 f.>; stRspr).
b) Der offene Vollzug zeichnet sich dadurch aus, dass keine oder nur verminderte Vorkehrungen gegen Entweichungen vorgesehen sind (§ 141 Abs. 2 Halbsatz 2 StVollzG, nunmehr § 16 Abs. 1 Satz 2 StVollzG Bln). Nach der Konzeption des Strafvollzugsgesetzes ist er, soweit keine Flucht- oder Missbrauchsgefahr besteht, für geeignete Gefangene die Regelvollzugsform und nicht etwa eine besondere Vergünstigung (BVerfGK 12, 210 <217>). Dies ergibt sich aus der klaren Anordnung der gesetzlichen Regelung (§ 10 Abs. 1 StVollzG: „Ein Gefangener soll ... in einer Anstalt oder Abteilung des offenen Vollzuges untergebracht werden, wenn ...“; Abs. 2 Satz 1: „Im Übrigen sind die Gefangenen im geschlossenen Vollzug unterzubringen.“) und wird durch die Gesetzesmaterialien bestätigt. Der Regierungsentwurf zum Strafvollzugsgesetz stützte sich auf die Annahme, „dass die mit einer geschlossenen Anstalt verbundene Isolierung nur dann vertreten werden kann, wenn der Gefangene sich sonst dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen oder andere, lockere Formen der Beaufsichtigung und Unterbringung zu weiteren Straftaten missbrauchen würde. In einer Anstalt des geschlossenen Vollzugs sollen deshalb nur solche Gefangene untergebracht werden, die nicht im offenen Vollzug untergebracht werden können oder die dies wünschen“ (BTDrucks 7/918, S. 51). Mit der in § 10 Abs. 1 StVollzG zusätzlich aufgenommenen weiteren Voraussetzung, dass der Gefangene den besonderen Anforderungen des offenen Vollzugs genügen muss, sollte darüber hinaus auf die Bedürfnisse der Praxis Rücksicht genommen werden, die verlangten, dass der Gefangene die Bereitschaft und Fähigkeit zur freiwilligen Einordnung mitbringe und bereit sei, sich in ein System einbeziehen zu lassen, das auch auf der Selbstdisziplin und dem Verantwortungsbewusstsein der Gefangenen beruhe (BVerfGK 12, 210 <218>). Die in § 10 Abs. 2 Satz 2 StVollzG vorgesehene Möglichkeit der Unterbringung im oder Rückverlegung in den geschlossenen Vollzug aus Behandlungsgründen ist auf den Fall der Notwendigkeit begrenzt (BTDrucks 7/918, S. 51; BVerfGK 12, 210 <217>).
c) Die Entscheidung des Landgerichts hält den dargelegten Anforderungen im Ergebnis stand, weil die Ausgangsentscheidung der Vollzugsbehörde verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist. Soweit das Landgericht allerdings davon auszugehen scheint, dass an einen zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten besonders hohe Anforderungen im Hinblick auf die persönliche Eignung für die Unterbringung im offenen Vollzug zu stellen sind („besonders geeignete und stabile Gefangene“), ist diese mit Blick auf den der Regelung in § 10 StVollzG zugrunde liegenden, grundrechtlich verbürgten Resozialisierungsanspruch, welcher gleichermaßen für zu zeitiger wie für zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilte Straftäter gilt, zwar bedenklich; es führt jedoch nicht dazu, dass die den Beschwerdeführer belastende Maßnahmen nachträglich verfassungswidrig würde.
aa) Die in § 10 StVollzG genannten Versagungsgründe der fehlenden persönlichen Eignung sowie der Flucht- und Missbrauchsgefahr eröffnen der Vollzugsbehörde als unbestimmte Rechtsbegriffe einen - verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden - Beurteilungsspielraum, in dessen Rahmen sie bei Achtung der Grundrechte des Gefangenen mehrere Entscheidungen treffen kann, die gleichermaßen rechtlich vertretbar sind (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 1. April 1998 - 2 BvR 1951/96 -, juris, Rn. 20). Der Beurteilungsspielraum entbindet die Vollstreckungsgerichte allerdings nicht von ihrer rechtsstaatlich fundierten Prüfungspflicht. Das Gericht hat dementsprechend den Sachverhalt umfassend aufzuklären und dabei festzustellen, ob die Vollzugsbehörde den zugrunde gelegten Sachverhalt insgesamt vollständig ermittelt und damit eine hinreichende tatsächliche Grundlage für ihre Entscheidung geschaffen hat (vgl. BVerfGE 70, 297 <308>). Legt das Strafvollstreckungsgericht diesen Maßstab seiner Entscheidung zugrunde, prüft das Bundesverfassungsgericht lediglich, ob das Strafvollstreckungsgericht der Vollzugsbehörde nicht einen zu weiten Beurteilungsspielraum zugebilligt und damit Bedeutung und Tragweite des verfassungsrechtlich geschützten Resozialisierungsanspruchs verkannt hat und ob die angegriffene Entscheidung unter Zugrundelegung des dargelegten fachgerichtlichen Maßstabs schlechthin nicht mehr nachvollziehbar ist und damit den aus dem allgemeinen Gleichheitssatz abzuleitenden Anspruch auf willkürfreie Entscheidung (Art. 3 Abs. 1 GG) verletzt (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 1. April 1998 - 2 BvR 1951/96 -, juris, Rn. 21).
bb) Dass die Vollzugsbehörde den ihr eingeräumten Beurteilungsspielraum im Rahmen der Auslegung des Eignungsbegriffs überschritten hat, ergibt sich weder aus dem Vortrag des Beschwerdeführers, noch ist es in sonstiger Weise ersichtlich. Insbesondere die Einstellung sachfremder Kriterien in die Abwägung und damit eine fehlerhafte Sachverhaltsermittlung hat der Beschwerdeführer nicht schlüssig dargetan. Die Vollzugsbehörde hat bei ihrer Entscheidung sowohl das Vorleben des Beschwerdeführers, seine Vorstrafen und die Anlasstat als auch sein Verhalten während der Untersuchungshaft sowie durch psychologische Gutachter festgestellte Persönlichkeitsmerkmale berücksichtigt und dabei in zulässiger Weise auch auf die Feststellungen des zu vollstreckenden Urteils zurückgegriffen.
Der Vorwurf, die Vollzugsbehörde habe in die Abwägung die Öffentlichkeitswirksamkeit des Verfahrens als sachfremdes Kriterium zum Nachteil des Beschwerdeführers einbezogen, wird weder durch den Inhalt der angegriffenen Entscheidungen noch durch den Beschwerdevortrag erhärtet. Vielmehr hat die Vollzugsbehörde die fehlende persönliche Eignung für den offenen Vollzug auf Defizite im Bereich Offenheit und Transparenz gestützt und diese Annahme nachvollziehbar mit der Leugnung der Anlasstat, der sich aus den Feststellungen des Schwurgerichts ergebenden, nicht aufgearbeiteten Mutter-Sohn-Beziehung sowie mit der fehlenden Therapiebereitschaft begründet. Zusätzlich hat die Vollzugsbehörde die Versagung der Unterbringung im offenen Vollzug in vertretbarer Weise auf die Annahme einer Missbrauchsgefahr gestützt. Auch im Rahmen dieser Prognoseentscheidung, welche im Wesentlichen auf dem früheren Drogen- und Alkoholmissbrauch des Beschwerdeführers basiert, ist eine Überschreitung des Beurteilungsspielraums nicht erkennbar.
2. Soweit der Beschwerdeführer rügt, das Kammergericht hätte angesichts des durch das Landgericht angelegten verengten Prüfungsmaßstabs die Rechtsbeschwerde zulassen müssen, ist eine Verletzung des Rechts auf die Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) zwar nicht auszuschließen. Die Verfassungsbeschwerde ist mangels Vorliegens eines besonders schweren Nachteils im Sinne des § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG jedoch nicht zur Entscheidung anzunehmen.
Das Kammergericht hat die Rechtsbeschwerde als unzulässig verworfen, den Beschluss des Landgerichts aber - wenn auch im Rahmen der Zulässigkeit - zugleich auf Rechtsfehler hin überprüft und damit in der Sache die im Rahmen der Begründetheitsprüfung gebotene Kontrolle durchgeführt. Dabei ist das Gericht zu dem verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Ergebnis gelangt, dass der Prüfungsmaßstab des Landgerichts zwar als zu eng zu beanstanden ist, sich im konkreten Fall jedoch nicht zum Nachteil des Beschwerdeführers ausgewirkt hat, weil die Vollzugsbehörde eben diesen Maßstab ihrer Prüfung gerade nicht zugrunde gelegt hatte.
Wenn auch die Verlagerung der Prüfung der Begründetheit in die Zulässigkeit im Hinblick auf die Anforderungen an die Gewährung effektiven Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 78, 88 <98 f.>; 104, 220, 231 f.) verfassungsrechtlich bedenklich erscheint, so ergibt sich daraus für den Beschwerdeführer dennoch kein besonders schwerer Nachteil im Sinne des § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG: Es ist angesichts der Ausführungen des Kammergerichts deutlich abzusehen, dass der Beschwerdeführer im Falle der Zurückverweisung an das Ausgangsgericht im Ergebnis keinen Erfolg haben würde (vgl. BVerfGE 90, 22 <25 f.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 13. März 2017 - 1 BvR 93/14 -, juris, Rn. 1).
3. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 607
Bearbeiter: Holger Mann