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HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 7

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 1739/14, Beschluss v. 16.11.2016, HRRS 2017 Nr. 7


BVerfG 2 BvR 1739/14 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 16. November 2016 (OLG Düsseldorf / LG Kleve)

Fortdauer der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus (Freiheitsgrundrecht; Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; verfassungsgerichtliche Kontrolldichte; einzelfallbezogene Gefährlichkeitsprognose; Konkretisierung von Art und Wahrscheinlichkeit künftig zu erwartender Delikte; steigende Begründungsanforderungen mit zunehmender Unterbringungsdauer; Erörterung besonderer Umstände; erfolgreiche Behandlung; Krankheitseinsicht; Vollzugsverhalten; Abweichung von der Einschätzung der Maßregelvollzugseinrichtung und eines Sachverständigen); Rechtsschutzbedürfnis (Feststellungsinteresse nach prozessualer Überholung einer Fortdauerentscheidung; tiefgreifender Grundrechtseingriff).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 63 StGB; § 67d Abs. 2 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Das Rechtsschutzbedürfnis für die verfassungsgerichtliche Überprüfung einer Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus besteht angesichts des damit verbundenen tiefgreifenden Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht auch dann fort, wenn die angegriffene Entscheidung nicht mehr die aktuelle Grundlage der Unterbringung bildet, weil zwischenzeitlich eine erneute Fortdauerentscheidung ergangen ist.

2. Die von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Freiheit der Person, die unter den Grundrechten einen hohen Rang einnimmt, darf nur aus besonders gewichtigen Gründen eingeschränkt werden, zu denen in erster Linie solche des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts - einschließlich der Unterbringung eines nicht oder erheblich vermindert schuldfähigen Straftäters im psychiatrischen Krankenhaus - zählen.

3. Bei der Entscheidung über die Aussetzung einer Maßregel ist dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung zu tragen, indem die Sicherungsbelange der Allgemeinheit und der Freiheitsanspruch des Untergebrachten einander als wechselseitiges Korrektiv gegenübergestellt und gegeneinander abgewogen werden. Dabei sind im Rahmen einer Gesamtwürdigung die von dem Untergebrachten ausgehenden Gefahren zur Schwere des mit der Maßregel verbundenen Eingriffs ins Verhältnis zu setzen.

4. Je länger der Freiheitsentzug andauert, desto strenger werden die Voraussetzungen für die Verhältnismäßigkeit sowie die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Begründungstiefe einer negativen Prognoseentscheidung. Zugleich wächst mit dem stärker werdenden Freiheitseingriff die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte.

5. Zu verlangen ist eine einzelfallbezogene Konkretisierung der Art und des Grades der Wahrscheinlichkeit zukünftiger rechtswidriger Taten, die von dem Untergebrachten drohen. Dabei ist auf das frühere Verhalten des Untergebrachten, die von ihm bislang begangenen Taten, die seit Anordnung der Maßregel eingetretenen Umstände, den Zustand des Untergebrachten sowie seine künftig zu erwartenden Lebensumstände abzustellen.

6. Eine Fortdauerentscheidung genügt den verfassungsrechtlichen Begründungsanforderungen nicht, wenn sie ohne nähere Konkretisierung der von dem seit nahezu 20 Jahren Untergebrachten zu erwartenden Straftaten lediglich von einer „konkreten und überwiegenden Gefahr erheblicher rechtswidriger Gewaltdelikte“ ausgeht und dabei außer Betracht lässt, dass die Maßregelvollzugseinrichtung von einem positiven Behandlungsverlauf und von einer minimierten Gefährlichkeit des Betroffenen ausgeht.

7. Will die Strafvollstreckungskammer von den Feststellungen des hinzugezogenen Sachverständigen abweichen, muss sie ihre Gründe offenlegen und plausibel darlegen, weshalb sie zu einer gegenteiligen Gefahrprognose gelangt. Dies gilt insbesondere, wenn der Sachverständige aufgrund einer erfolgreichen Behandlung der der Anlasstat zugrundeliegenden schizophrenen Erkrankung, der bei dem Untergebrachten vorhandenen Krankeneinsicht und seines Verhaltens im Vollzug kein Risiko von Gewaltdelikten mehr erkennt.

Entscheidungstenor

Die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 24. Juni 2014 - III 2 Ws 266/14 - und des Landgerichts Kleve vom 10. April 2014 - 181 StVK 19/14 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.

Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.

Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 10.000 Euro (in Worten: zehntausend Euro) festgesetzt.

Gründe

A.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Anordnung der Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus.

I.

1. Das Landgericht Duisburg ordnete mit Urteil vom 13. Oktober 1994 die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB an, weil er im Zustand der Schuldunfähigkeit einen versuchten Totschlag begangen hatte und aufgrund der festgestellten Störung eine negative Gefährlichkeitsprognose vorlag.

Der Beschwerdeführer war am späten Abend des 9. Januar 1994 gemeinsam mit seiner damaligen Ehefrau zu Bett gegangen. Während seine Ehefrau einschlief, konnte der Beschwerdeführer keinen Schlaf finden. Während er ruhelos neben seiner Ehefrau im Bett lag, hatte er plötzlich eine akustische Halluzination und hörte Stimmen, die ihm befahlen, seine Frau umzubringen. Unter dem unwiderstehlichen Einfluss dieser Stimmen nahm der Beschwerdeführer sein Kopfkissen und drückte es seiner schlafenden Frau mit großer Kraft auf ihr Gesicht, um sie zu ersticken. Diese wurde durch den plötzlichen Angriff aus dem Schlaf gerissen und begann, sich heftig mit Händen und Füßen zur Wehr zu setzen. Danach gelang es ihr aus der Wohnung zu fliehen.

2. Die mit Beschluss des Landgerichts Kleve vom 6. Januar 2006 angeordnete Aussetzung der Vollstreckung widerrief das Gericht durch Beschluss vom 29. Oktober 2007. Infolgedessen wird die Maßregel seit 10. Dezember 2007 wieder vollstreckt.

3. Mit angegriffenem Beschluss vom 10. April 2014 ordnete das Landgericht Kleve die Fortdauer der Unterbringung an.

Zur Begründung nahm es Bezug auf die gutachtliche Stellungnahme der Maßregelvollzugseinrichtung vom 13. Januar 2014, die Äußerungen ihrer Vertreterin im Termin zur mündlichen Anhörung vom 12. März 2014 sowie die Ausführungen des Sachverständigen H. in seinem Gutachten vom 27. Februar 2014. Demgemäß habe der bisherige Maßregelvollzug hinsichtlich der psychischen Beeinträchtigung des Beschwerdeführers noch nicht zu ausreichender Besserung geführt, auch wenn das psychopathologische Bild des Untergebrachten sich insgesamt stabilisiert habe. Es bestehe nach wie vor die konkrete und überwiegende Gefahr, dass der Beschwerdeführer bei Aufhebung oder Außervollzugsetzung der Unterbringung infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Gewaltdelikte begehen würde.

Selbst wenn die Klinik und der Sachverständige aufgrund der dissozialen Akzentuierung des Beschwerdeführers eher die Gefahr von Eigentumsdelikten und Betrügereien sähen als eines erneuten schweren Deliktes im Sinne der Anlasstat, ändere dies an der Notwendigkeit der Fortdauer, wie sie auch die Klinik empfehle, nichts. Der Beschwerdeführer habe bisher nicht über einen längeren Zeitraum stabil bleiben können. Die Gefahr, dass er im Rahmen einer erneuten Instabilität wieder Alkohol konsumiere und erneut psychotisch werde, könne erst durch eine längere Erprobung im Rahmen einer Dauerbeurlaubung mit ausreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, zumal der einzubeziehende Unsicherheitsfaktor der Beziehung zu seiner ebenfalls an einer Psychose leidenden und deshalb untergebrachten Freundin gesehen werden müsse.

Angesichts der Schwere der begangenen und drohenden Taten und angesichts des Bewährungsversagens des Beschwerdeführers sei der Vollzug der Maßregel weiterhin verhältnismäßig, wobei ausschließlich auf die drohende Gewaltdelinquenz abgestellt werde.

4. Die gegen den landgerichtlichen Beschluss gerichtete sofortige Beschwerde verwarf das Oberlandesgericht Düsseldorf mit ebenfalls angegriffenem Beschluss vom 24. Juni 2014 als unbegründet.

Es nahm dabei auf die Begründung des angefochtenen Beschlusses Bezug und verwies ergänzend darauf, dass der Sachverständige, obwohl er dargelegt habe, dass die Gefährlichkeit des Beschwerdeführers hinsichtlich seiner schizophrenen Erkrankung nicht mehr bestehe, eine Aussetzung oder Erledigterklärung der Unterbringung nicht empfohlen habe. Der Sachverständige führe überzeugend aus, dass der Verurteilte ohne äußere Betreuung und Kontrolle rasch in eine Verwahrlosungsdynamik geraten würde. In der Folge wäre wieder mit einem psychotischen Dekompensationsrisiko zu rechnen. Dabei sei bedeutsam, dass der Beschwerdeführer mit seiner Partnerin eine gemeinsame Wohnung nehmen möchte. Nach Darstellung des Sachverständigen habe die Krisensituation, die zu dem Anlassdelikt geführt habe, durch die enge Beziehung zu seiner Ehefrau wesentlichen Auftrieb erfahren und bestünden keine Gründe für die Annahme, dass der Beschwerdeführer heute diese emotionale Enge besser bewältigen könne als vor 20 Jahren.

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei durch die Fortdauer des Maßregelvollzugs auch unter Berücksichtigung der bisher vollzogenen Unterbringungsdauer von mehr als 18 Jahren nicht verletzt. Die von der Strafvollstreckungskammer dargelegte Gefahr weiterer Straftaten betreffe mit dem Leben beziehungsweise der körperlichen Unversehrtheit hohe Rechtsgüter, die besonderen verfassungsrechtlichen Schutz genießen würden. Um diese Rechtsgüter zu schützen, sei die Fortdauer der Unterbringung verhältnismäßig und geboten.

5. Die Fortdauer der Unterbringung wurde zwischenzeitlich erneut mit Beschlüssen des Landgerichts Kleve vom 29. April 2015 und des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 26. August 2015 angeordnet.

II.

Der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer sieht sich durch die angegriffenen Beschlüsse in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt.

Die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Kleve stelle in dem angefochtenen Beschluss im Rahmen der Verhältnismäßigkeit ausdrücklich nicht auf die allenfalls noch drohenden Eigentumsdelikte, sondern auf das Anlassdelikt ab, obwohl sowohl die Behandler der Vollzugseinrichtung als auch der Sachverständige H. in seinem Gutachten vom 27. Februar 2014 aufgrund der dissozialen Akzentuierung des Beschwerdeführers allenfalls die Gefahr von Eigentumsdelikten und Betrügereien für gegeben erachtet hätten.

Der weitere Vollzug sei nicht mehr verhältnismäßig. Die durch einen psychischen Defekt bedingte Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer erneut erhebliche rechtswidrige Taten im Sinne des Anlassdelikts begehen werde, würde von der Maßregelvollzugseinrichtung und dem Sachverständigen ausdrücklich verneint. Es drohten allenfalls kleinere Eigentumsdelikte.

III.

1. a) Das Justizministerium Nordrhein-Westfalen hat von einer Stellungnahme abgesehen.

b) Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof hält die Verfassungsbeschwerde für erfolgversprechend.

Es fehle in den angegriffenen Beschlüssen an einer ausreichenden Darlegung der Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Beschwerdeführer ungeachtet seines Behandlungsstandes künftig Straftaten gegen Leib und Leben begehen werde. Hinzu komme, dass auch die Herleitung der Gefahrenprognose nicht zureichend erscheine. Einerseits würden seitens der Fachgerichte Aussagen des Sachverständigen wiedergegeben, der aufgrund der Behandlungsfortschritte eine Gefahr hinsichtlich von Gewaltdelikten nicht mehr für gegeben halte; andererseits deuteten die weiteren Beschlussgründe darauf hin, dass die Gerichte ungeachtet dessen von einer Wahrscheinlichkeit für eine künftige Begehung derartiger Taten durch den Beschwerdeführer auszugehen schienen. Wie die Fachgerichte zu dieser von den Ausführungen des Sachverständigen abweichenden Einschätzung gelangt seien, lasse sich den Gründen der angegriffenen Entscheidungen aber nicht hinreichend entnehmen. Mangels unzureichender Fundierung des Ausmaßes der Gefährlichkeit lasse sich auch nicht prüfen, ob die Fachgerichte die dem Freiheitsrecht des Beschwerdeführers entgegenstehenden Sicherheitsbelange der Allgemeinheit in einer verfassungsrechtlich unbedenklichen Weise gewichtet haben.

2. Dem Bundesverfassungsgericht haben die staatsanwaltschaftlichen Akten vorgelegen.

B.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 BVerfGG sind erfüllt. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen - insbesondere die anzulegenden Maßstäbe bei der Anordnung der Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus - bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG; vgl. BVerfGE 70, 297 ff.). Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

I.

Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht nicht entgegen, dass die weitere Vollstreckung der Maßregel zwischenzeitlich erneut mit Beschluss des Landgerichts Kleve vom 29. April 2015 und des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 26. August 2015 angeordnet wurde. Denn die angegriffenen Entscheidungen waren Grundlage eines tiefgreifenden Eingriffs in das Grundrecht des Beschwerdeführers auf Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG (vgl. BVerfGE 128, 326 <389>). Der Beschwerdeführer hat daher ein fortbestehendes schutzwürdiges Interesse an einer nachträglichen verfassungsrechtlichen Überprüfung und gegebenenfalls einer hierauf bezogenen Feststellung der Verfassungswidrigkeit dieses Grundrechtseingriffs durch das Bundesverfassungsgericht (vgl. BVerfGE 9, 89 <92 ff.>; 32, 87 <92>; 53, 152 <157 f.>; 91, 125 <133>; 104, 220 <234 f.>).

II.

Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

1. a) Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistet jedermann die Freiheit der Person und nimmt einen hohen Rang unter den Grundrechten ein. Das kommt darin zum Ausdruck, dass Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG die Freiheit der Person als „unverletzlich“ bezeichnet, Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG ihre Beschränkung nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes zulässt und Art. 104 Abs. 2 bis 4 GG besondere Verfahrensgarantien für ihre Beschränkung statuiert (vgl. BVerfGE 35, 185 <190>; 109, 133 <157>; 128, 326 <372>).

Die Freiheit der Person darf nur aus besonders gewichtigen Gründen und unter strengen formellen Gewährleistungen eingeschränkt werden. Zu diesen Gründen gehören in erster Linie solche des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts. Eingriffe in die persönliche Freiheit auf diesem Gebiet dienen vor allem dem Schutz der Allgemeinheit (vgl. BVerfGE 22, 180 <219>; 45, 187 <223>; 58, 208 <224 f.>); zugleich haben die gesetzlichen Eingriffstatbestände freiheitsgewährleistende Funktion, da sie die Grenzen zulässiger Einschränkung der Freiheit der Person bestimmen. Das gilt auch für die Regelung der Unterbringung eines schuldunfähigen oder erheblich vermindert schuldfähigen Straftäters, von dem infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB (vgl. BVerfGE 70, 297 <307>).

b) Die freiheitssichernde Funktion des Art. 2 Abs. 2 GG hat auch verfahrensrechtliche Bedeutung. Unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens ist, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen (vgl. BVerfGE 58, 208 <222>) und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht (vgl. BVerfGE 58, 208 <230>).

c) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beherrscht Anordnung und Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Das hier bestehende Spannungsverhältnis zwischen dem Freiheitsanspruch des betroffenen Einzelnen und dem Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit vor zu erwartenden erheblichen Rechtsgutverletzungen verlangt nach gerechtem und vertretbarem Ausgleich. Dieser lässt sich für die Entscheidung über die Aussetzung der Maßregelvollstreckung nur dadurch bewirken, dass die Sicherungsbelange und der Freiheitsanspruch des Untergebrachten als wechselseitiges Korrektiv gesehen und im Einzelfall gegeneinander abgewogen werden (BVerfGE 70, 297 <311>). Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist in die Prüfung der Aussetzungsreife der Maßregel nach § 67d Abs. 2 StGB einzubeziehen (integrative Betrachtung). Die darauf aufbauende Gesamtwürdigung hat die von dem Täter ausgehenden Gefahren zur Schwere des mit der Maßregel verbundenen Eingriffs ins Verhältnis zu setzen (vgl. BVerfGE 70, 297 <312 f.>).

d) Je länger die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB andauert, umso strenger sind die Voraussetzungen für die Verhältnismäßigkeit des Freiheitsentzugs. Bei langdauernden Unterbringungen in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) wirkt sich das zunehmende Gewicht des Freiheitsanspruchs bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung auch auf die an die Begründung einer Entscheidung zu stellenden Anforderungen aus. In diesen Fällen engt sich der Bewertungsrahmen des Strafvollstreckungsrichters ein; mit wachsender Intensität des Freiheitseingriffs wächst auch die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte. Dem lässt sich dadurch Rechnung tragen, dass der Richter seine Würdigung eingehender abfasst, sich also nicht etwa mit knappen, allgemeinen Wendungen begnügt, sondern seine Bewertung anhand der dargestellten einfachrechtlichen Kriterien substantiiert offenlegt. Erst dadurch wird es möglich, im Rahmen verfassungsgerichtlicher Kontrolle nachzuvollziehen, ob die von dem Täter ausgehende Gefahr seinen Freiheitsanspruch gleichsam aufzuwiegen vermag (vgl. BVerfGE 70, 297 <315 f.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Oktober 2012 - 2 BvR 442/12 -, NStZ-RR 2013, S. 72 <73>).

Zu verlangen ist die Konkretisierung der Art und des Grades der Wahrscheinlichkeit zukünftiger rechtswidriger Taten, die von dem Untergebrachten drohen (vgl. BVerfGE 70, 297 <315 f.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Februar 2014 - 2 BvR 1795/12, 2 BvR 1852/13 -, juris, Rn. 42). Dabei ist auf die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles einzugehen. Zu erwägen sind das frühere Verhalten des Untergebrachten und von ihm bislang begangene Taten. Abzuheben ist aber auch auf die seit Anordnung der Maßregel eingetretenen Umstände, die für die künftige Entwicklung bestimmend sind. Dazu gehören der Zustand des Untergebrachten und die künftig zu erwartenden Lebensumstände (vgl. BVerfGE 70, 297 <314 f.>; BVerfGK 16, 501 <506>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Februar 2014 - 2 BvR 1795/12, 2 BvR 1852/13 -, juris, Rn. 40; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Oktober 2012 - 2 BvR 442/12 -, juris, Rn. 15).

Genügen die Gründe einer Entscheidung über die Fortdauer einer bereits außergewöhnlich lange währenden Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus diesen Maßstäben nicht, so führt dies dazu, dass die Freiheit der Person des Untergebrachten nicht rechtmäßig eingeschränkt werden kann; sein Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ist verletzt, weil es an einer verfassungsrechtlich tragfähigen Grundlage für die Unterbringung fehlt (vgl. BVerfGE 70, 297 <316 f.>).

2. Diesen Anforderungen genügen die angegriffenen Beschlüsse des Landgerichts Kleve vom 10. April 2014 und des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 24. Juni 2014 nicht, da sie die verfassungsrechtlich gebotene Begründungstiefe nicht aufweisen.

a) Es erscheint bereits zweifelhaft, ob den Beschlüssen eine hinreichende Konkretisierung der Art und des Grades der Wahrscheinlichkeit künftiger rechtswidriger Taten des Beschwerdeführers zu entnehmen ist. Das Landgericht beschränkt sich insoweit auf den Hinweis, es bestehe „nach wie vor die konkrete und überwiegende Gefahr“, dass der Beschwerdeführer „erhebliche rechtswidrige Gewaltdelikte“ begehen werde. Eine Konkretisierung, welche Gewaltdelikte im Einzelnen zu erwarten sind, erfolgt nicht. Vielmehr wird zur Begründung der Verhältnismäßigkeit weiterer Unterbringung lediglich auf vom Beschwerdeführer „drohende Gewaltdelinquenz“ abgestellt. Das Oberlandesgericht nimmt auf die Ausführungen des Landgerichts Bezug und leitet daraus eine nicht näher spezifizierte Gefahr weiterer Straftaten gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit ab.

b) Unabhängig davon lassen die Beschlüsse jedenfalls hinsichtlich der Annahme einer „konkreten Gefahr erheblicher rechtswidriger Gewaltdelikte“ wesentliche Umstände, zu denen die Gerichte sich im Rahmen ihrer Gefahrenprognose hätten verhalten müssen, außer Betracht oder bewerten diese in nicht nachvollziehbarer Weise.

aa) Soweit das Landgericht auf die Stellungnahme der Maßregelvollzugseinrichtung vom 13. Januar 2014 Bezug nimmt, lässt es unberücksichtigt, dass in dieser Stellungnahme ausdrücklich ausgeführt wird, der Behandlungsverlauf des Beschwerdeführers stelle sich sowohl im Hinblick auf seine psychische Erkrankung als auch bezüglich seiner Abhängigkeitserkrankung positiv dar. Der Beschwerdeführer sei medikamentös gut eingestellt und verhalte sich bezüglich der Medikamenteneinnahme compliant. Seine Gefährlichkeit werde als minimiert eingeschätzt. Zu diesen Umständen, die der Annahme einer vom Beschwerdeführer ausgehenden konkreten Gefahr erheblicher Gewaltdelikte entgegenstehen, verhält das Landgericht sich nicht.

bb) Die weitere Bezugnahme auf die Ausführungen der Vertreterin der Maßregelvollzugseinrichtung in der mündlichen Anhörung vom 12. März 2014 ist zur Begründung der Annahme erheblicher vom Beschwerdeführer ausgehender Gefahren künftiger Straftaten ungeeignet, da diese sich hierzu überhaupt nicht geäußert hat.

cc) Auch mit dem Gutachten des Sachverständigen H. setzen sich die Gerichte in den angegriffenen Beschlüssen nicht hinreichend auseinander. Dabei ist für sich genommen nicht zu beanstanden, dass das Gericht der im Gutachten enthaltenen Empfehlung, die Unterbringung des Beschwerdeführers zu beenden, nicht gefolgt ist. Ein Abweichen von einem eingeholten Sachverständigengutachten ist grundsätzlich möglich, da die Prognoseentscheidung nicht der Sachverständige, sondern das Gericht zu treffen hat (vgl. BVerfGE 70, 297 <310>; 109, 133 <164>). Will das Gericht jedoch von den Feststellungen des Sachverständigen abweichen, muss es seine Gründe offenlegen und plausibel darlegen, warum es zu einer gänzlich anderen Gefahrprognose gelangt ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 5. Juli 2013 - 2 BvR 2957/12 -, juris, Rn. 35). Daran fehlt es vorliegend.

Der Sachverständige hat hinsichtlich des Risikos künftiger Straftaten in seinem Gutachten zwischen Delikten gegen die Gesundheit oder das Leben und Vermögensdelikten unterschieden. Das Risiko von Gewaltdelikten sei aufgrund der erfolgreichen Behandlung der der Anlasstat zugrundeliegenden schizophrenen Erkrankung und der beim Beschwerdeführer vorhandenen Krankeneinsicht und Behandlungsmotivation in einer relevanten Wahrscheinlichkeit nicht mehr gegeben. Auch aus dem Risiko erneuter Eigentumsdelikte aufgrund der beim Beschwerdeführer vorliegenden dissozialen Persönlichkeitsstörung könne nicht auf das Risiko, dass der Beschwerdeführer erneut einen Menschen massiv angreift, geschlossen werden. Hierzu verhalten sich die angegriffenen Beschlüsse nicht.

dd) Soweit das Landgericht auf das Verhalten des Beschwerdeführers während des Maßregelvollzugs verweist und geltend macht, er habe sich bisher nicht über einen längeren Zeitraum stabil gezeigt, rechtfertigt dies den Rückschluss auf die konkrete Gefahr erheblicher Gewaltdelikte nicht. Dem steht die Feststellung des Sachverständigen entgegen, dass es während der gesamten Unterbringung keine Hinweise auf ein aggressives Verhalten des Beschwerdeführers gegeben habe, das auch nur ansatzweise in die Nähe der Aggressivität des Unterbringungsdelikts gekommen wäre.

ee) Schließlich ergibt sich nichts anderes aus dem seitens des Landgerichts in Bezug genommenen Bewährungsversagen des Beschwerdeführers. Abgesehen davon, dass der Bewährungswiderruf bereits mit Beschluss vom 29. Oktober 2007 erfolgte, lagen diesem kein gewalttätiges Verhalten des Beschwerdeführers, sondern lediglich Weisungsverstöße und eine Verurteilung wegen Untreue gemäß § 266 StGB zugrunde.

ff) Vor diesem Hintergrund genügt auch der ergänzende Hinweis des Oberlandesgerichts, der Beschwerdeführer beabsichtige mit seiner Partnerin eine gemeinsame Wohnung zu nehmen und es bestünden keine Gründe für die Annahme, dass er die damit verbundene emotionale Enge heute besser bewältigen könne als bei der Begehung des Anlassdelikts vor 20 Jahren, zur Begründung des Vorliegens einer konkreten Gefahr erheblicher Gewaltdelikte nicht. Außerdem hätte es insoweit zumindest einer Auseinandersetzung mit der Frage bedurft, ob dem nicht durch entsprechende Auflagen oder Weisungen im Rahmen einer Aussetzung der Unterbringung zur Bewährung hätte hinreichend Rechnung getragen werden können.

III.

Demgemäß ist festzustellen, dass die angegriffenen Beschlüsse des Landgerichts Kleve vom 10. April 2014 und des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 24. Juni 2014 den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzen. Einer Aufhebung der Beschlüsse bedarf es hingegen nicht, da sie durch die erneute Anordnung der Fortdauer der Unterbringung durch Beschlüsse des Landgerichts Kleve vom 29. April 2015 und des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 26. August 2015 mittlerweile prozessual überholt sind.

Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG, die Festsetzung des Wertes des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit auf § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG.

HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 7

Bearbeiter: Holger Mann