hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 402

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 496/12, Beschluss v. 30.03.2016, HRRS 2016 Nr. 402


BVerfG 2 BvR 496/12 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 30. März 2016 (OLG München / LG Landshut)

Strafbewehrte Weisung im Rahmen der Führungsaufsicht (Zulässigkeit einer Abstinenzweisung bei einem Suchtkranken; Verhältnismäßigkeitsgrundsatz; Zweckerreichung; Abwägung im Einzelfall; Zumutbarkeit; Therapiebereitschaft; Erfolgsaussicht; Fähigkeit zur Abstinenz; Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 56c StGB; § 68b Abs. 1 Nr. 10 StGB; § 68b Abs. 3 StGB; § 145a StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Eine Weisung, keine Betäubungsmittel zu konsumieren, beinhaltet für sich genommen keinen Verstoß gegen Grundrechte und bedeutet insbesondere keine unwürdige, die Subjektqualität des Menschen in Frage stellende Behandlung. Dies gilt gleichermaßen für Abstinenzweisungen im Rahmen der Bewährungs- wie auch der Führungsaufsicht.

2. Eine Abstinenzweisung muss im Einzelfall verhältnismäßig sein. Dies setzt eine Abwägung zwischen den betroffenen Gemeinwohlbelangen und den Rechten des Verurteilten voraus. Erhöhte Anforderungen sind dabei an strafbewehrte Weisungen im Rahmen der Führungsaufsicht zu stellen.

3. Ohne Weiteres zulässig sind Abstinenzweisungen regelmäßig gegenüber zum Verzicht auf den Konsum von Alkohol oder anderer Suchtmitteln fähigen Personen, von denen im Falle des erneuten Konsums erhebliche, die Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit betreffende Straftaten zu erwarten sind.

4. Hingegen ist bei nicht- oder erfolglos therapierten langjährigen Suchtkranken eine Abwägung erforderlich, bei der insbesondere zu berücksichtigen ist, inwieweit die Aussicht besteht, den mit der Abstinenzweisung verfolgten Zweck zu erreichen, ob und inwieweit der Suchtkranke sich Therapieangeboten geöffnet hat und welche Straftaten im Falle weiteren Suchtmittelkonsums zu erwarten sind.

5. Unverhältnismäßig ist eine Abstinenzweisung bei einem seit seiner Jugendzeit durchgängig Suchtkranken, bei dem zahlreiche Entgiftungen und Langzeitentwöhnungstherapien erfolglos geblieben sind und bei dem nicht erkennbar ist, ob er krankheitsbedingt überhaupt in der Lage ist, sich weisungsgemäß zu verhalten. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Betroffene in jüngerer Zeit ausschließlich wegen Besitzes von Betäubungsmitteln verurteilt worden ist, ohne dass ein konkret drittschädigendes Verhalten ersichtlich geworden ist.

Entscheidungstenor

Der Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 30. Januar 2012 - 1 Ws 56, 71, 72/12 - und der Beschluss des Landgerichts Landshut vom 4. Januar 2012 - StVK 693/11 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.

Der Beschluss des Oberlandesgerichts München wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht München zurückverwiesen.

Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Zumutbarkeit einer mit der Anordnung der Führungsaufsicht gegen den suchtkranken Beschwerdeführer verbundenen strafbewehrten Abstinenzweisung.

I.

1. Der im Juli 1984 geborene Beschwerdeführer konsumierte bereits als Jugendlicher und Heranwachsender diverse Drogen, unter anderem seit dem 17. Lebensjahr Heroin. Er machte sich wegen Betäubungsmitteldelikten strafbar. Bis September 2004 erwarb er in 70 Fällen Betäubungsmittel und handelte in 15 Fällen damit, woraufhin er am 21. Juni 2005 zu zehn Monaten Jugendstrafe verurteilt wurde. Ferner wurde der Beschwerdeführer am 7. Februar 2007 wegen Erwerbs und Veräußerung von Betäubungsmitteln zu 16 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt, weil er letztmalig im Januar 2006 an dieselben beiden Personen, von denen er in noch größerem Umfang Drogen erworben hatte, Betäubungsmittel veräußert hatte. Am 8. Oktober 2007 wurde der Beschwerdeführer wegen des unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln unter Einbeziehung der Verurteilung vom Februar 2007 zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Es folgte eine Verurteilung wegen des Besitzes von Betäubungsmitteln am 28. Mai 2008 zu drei Monaten Freiheitsstrafe.

2. Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil vom 8. Oktober 2007 wurde zunächst zurückgestellt. Direkt nach der Hauptverhandlung trat der Beschwerdeführer eine „stationäre Langzeitbehandlung“ an, wurde aber bereits nach zwei Tagen wieder entlassen, weil er Heroin an Mitpatienten verteilt hatte. Im Dezember 2007 wurde die Zurückstellung der Vollstreckung widerrufen. Zur Begründung des Widerrufs wurde unter anderem darauf verwiesen, dass wenige Tage vor dem Widerrufsbescheid bei einer Personenkontrolle beim Beschwerdeführer Fixerbesteck und ein Briefchen mit Heroin gefunden worden seien. Angesichts der erfolglosen Therapieversuche dränge sich der Schluss auf, dass der Beschwerdeführer nur verbal bekunde, zu einer Entziehung motiviert zu sein.

3. Im anschließenden Strafvollzug brachten die Urinkontrollen des Beschwerdeführers mit Ausnahme eines Nachweises von Cannabiskonsum ein negatives Ergebnis. Von Juni bis Oktober 2009 befand sich der Beschwerdeführer in stationärer Behandlung, nachdem die weitere Vollstreckung zurückgestellt worden war. Die Einrichtung stellte ihm nach „konstantem Behandlungsverlauf“ eine günstige Prognose. Im November 2009 wurde die Strafe zur Bewährung ausgesetzt.

4. Im Mai 2010 wurde ein erster erneuter Rückfall bekannt, an welchen sich wiederum eine Entgiftung anschloss. Gleichwohl kam es wenige Wochen später wieder zu einem Rückfall. In einem Gutachten aus dem September 2010 wurde ein gelegentlicher Konsum von Heroin in den letzten vier Monaten festgestellt. Es folgte Ende September - lediglich drei Tage vor dem Anhörungstermin zum zwischenzeitlich beantragten Widerruf der Bewährung - ein weiterer Rückfall. Mit Beschluss des Amtsgerichts Passau vom 4. November 2010 wurde die Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen. Dieser Beschluss wurde durch Beschluss des Landgerichts Passau vom 14. Dezember 2010 aufgehoben, da als milderes Mittel die Verlängerung der Bewährungszeit verbunden mit der Weisung einer stationären Therapie genüge. Im Rahmen dieser stationären Therapie wurde der Beschwerdeführer allerdings bereits während der Entgiftung nach wenigen Wochen wieder rückfällig. Es erfolgte im März 2011 erneut der Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung, wobei das Gericht davon ausging, ein ernstliches Interesse des Beschwerdeführers an einer vollständigen Drogenentwöhnungstherapie bestehe nicht. Er trete Therapien und Entgiftungen allenfalls an, um einen Bewährungswiderruf zu vermeiden. Im weiteren Vollzugsverlauf wurde der Beschwerdeführer bei einer von zwei Kontrollen während der Haftzeit nach seinen unwiderlegten Angaben positiv auf Opiate getestet.

5. Das Landgericht Landshut ordnete im angegriffenen Beschluss vom 4. Januar 2012 gemäß § 68f Abs. 1 StGB die Führungsaufsicht gegen den Beschwerdeführer an. Zugleich wurde dem Beschwerdeführer die Weisung erteilt, jeden Umgang mit unerlaubten Betäubungsmitteln im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes zu unterlassen. Dies sei „unbedingt notwendig“, um die Begehung weiterer Taten durch ihn zu vermeiden. Sollte er wieder Suchtmittel konsumieren, sei ein Abdriften in die Drogenkriminalität „vorprogrammiert“. Die Abstinenzweisung sei auch verhältnismäßig. Es sei nicht allein das Bedürfnis des Verurteilten maßgebend, seinem Suchtdruck nach der Haftentlassung wieder nachzugeben. Im Vordergrund stehe vielmehr der Schutz der Allgemeinheit vor weiteren erheblichen Straftaten. Der Beschwerdeführer habe früher bereits mehrfach andere Personen in seine Drogenkriminalität hineingezogen. Die Auffassung der Verteidigerin des Beschwerdeführers, eine längerfristige drogenfreie Lebensführung sei ausgeschlossen, sei „wenig hilfreich“. Es sei nicht aussichtslos, dass er - unter anderem durch entsprechende Weisungen der Führungsaufsicht - sein „noch junges Leben“ in den Griff bekommen könne.

6. Dagegen legte der Beschwerdeführer Beschwerde ein. Seine Betäubungsmittelabhängigkeit sei eine seit zehn Jahren bestehende, nicht behandelbare chronische Krankheit. Er habe in den letzten sieben Jahren zwölf Entgiftungen und vier Langzeitentwöhnungstherapien erfolglos absolviert und keine Therapie sowie keinen Gefängnisaufenthalt suchtmittelfrei überstanden. Die Weisung stelle daher keine Hilfe zu einem drogenfreien Leben dar, sondern erweise sich als Instrument zur Kriminalisierung krankheitsbedingt nicht abstellbaren Konsumverhaltens. Die jüngsten Verurteilungen seien lediglich wegen Besitzes erfolgt, so dass die Allgemeinheit nicht geschützt werden müsse.

7. Das Oberlandesgericht München verwarf die sofortige Beschwerde mit der ebenfalls angegriffenen Entscheidung vom 30. Januar 2012. Zwar seien bei einem nicht therapierten süchtigen Täter erhöhte Anforderungen an die Zumutbarkeit eines Abstinenzgebots zu stellen, doch führe die Abwägung mit den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit angesichts des strafrechtlichen Werdegangs des Beschwerdeführers nicht zur Unverhältnismäßigkeit.

II.

Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer vor allem eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 und 2 GG. Die angegriffenen Beschlüsse setzten sich mit seiner nicht behandelten Suchtproblematik nicht genügend auseinander. Selbstschädigendes Suchtverhalten werde kriminalisiert. Die Abstinenzweisung sei daher unverhältnismäßig. Verurteilungen im Bereich des Handeltreibens lägen sechs bis 10 Jahre zurück. Daher seien keine die Strafbewehrung der Abstinenzweisung gebietenden Interessen der Allgemeinheit erkennbar. Außerdem liege eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG vor, da das Oberlandesgericht trotz divergierender Rechtsprechung eine Vorlage an den Bundesgerichtshof unterlassen habe.

III.

1. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hatte Gelegenheit zur Stellungnahme. Es führte insbesondere aus, dass bei einem suchtmittelkranken Probanden erhöhte Anforderungen an die Zumutbarkeit zu stellen seien, die dem Krankheitswert der Sucht hinreichend Rechnung trügen. Vorliegend hätten die Instanzgerichte die Suchtmittelkrankheit des Beschwerdeführers in die Abwägung mit einbezogen und festgestellt, dass es nicht aussichtslos sei, dass er sein Leben in den Griff bekomme. Immerhin habe er bereits einmal eine stationäre Therapie regulär beendet. Die Rückfälle mit Heroin seien laut Gutachten lediglich „gelegentlich“ erfolgt. Einige Urinkontrollen in der Justizvollzugsanstalt seien negativ gewesen. Da der Beschwerdeführer mit einer ambulanten Therapie einverstanden sei, liege auch ein tragfähiger Wille zur Abstinenz vor. Schließlich hätten die Gerichte im Rahmen der Abwägung zutreffend berücksichtigt, dass das Suchtverhalten des Beschwerdeführers in der Vergangenheit nicht lediglich selbstschädigend gewesen sei, sondern dass er andere Personen in die Drogenkriminalität hineingezogen habe.

2. Der Generalbundesanwalt hatte Gelegenheit zur Stellungnahme und vertrat insbesondere die Ansicht, die Rechtsanwendung der Fachgerichte sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, auch wenn der Beschwerdeführer unter einem hohen Rückfallrisiko leide. Dass der Konsum von Betäubungsmitteln kriminalisiert werde, treffe ihn nicht übermäßig, da Erwerb und Besitz ohnehin bereits strafbar seien. Ob bei einem nicht mehr beherrschbaren Suchtdruck etwas anderes gelten müsste, könne dahinstehen, denn ein solcher Suchtdruck sei nicht hinreichend belegt. Die Instanzgerichte seien erkennbar nicht davon ausgegangen, dass die Weisung aussichtslos sei.

3. Die Akte des Ausgangsverfahrens hat dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.

IV.

Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 BVerfGG sind erfüllt. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen - insbesondere die Geltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bei Anordnung einer Abstinenzweisung (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 21. April 1993 - 2 BvR 930/92 -, juris) - bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG; vgl. BVerfGE 100, 313 <376>), und die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

1. Zwar begegnet weder das Rechtsinstitut der Führungsaufsicht, noch die Möglichkeit einer strafbewehrten Abstinenzweisung für deren Dauer grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken (a). Allerdings ist es verfassungsrechtlich geboten, dass der mit einer Abstinenzweisung verbundene Eingriff in das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügt (b). Dies ist vorliegend nicht der Fall (c).

a) aa) Die gemäß § 68f Abs. 1 StGB kraft Gesetzes eintretende Führungsaufsicht beruht auf der Erwägung, dass gerade dem Verurteilten, der wegen einer negativen Prognose nicht in den Genuss der Reststrafenaussetzung gemäß § 57 StGB und der mit ihr verbundenen Bewährungshilfe kommen kann, solche Hilfe nicht dauerhaft versagt werden sollte. Verfassungsrechtlich ist dagegen nichts zu erinnern (vgl. BVerfGE 55, 28 <30>).

bb) Ebenso hat das Bundesverfassungsgericht bereits ausdrücklich festgestellt, dass eine Weisung gemäß § 56c StGB, keine Betäubungsmittel zu konsumieren, für sich genommen keinen Verstoß gegen Grundrechte beinhaltet (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 21. April 1993 - 2 BvR 930/92 -, juris, Rn. 5 ff.). Eine unwürdige, die Subjektqualität des Menschen in Frage stellende und damit den Schutzbereich der Menschenwürde im Sinne von Art. 1 Abs. 1 GG betreffende Behandlung ist damit nicht verbunden. Auch schützt Art. 2 Abs. 1 GG zwar die allgemeine Handlungsfreiheit in einem umfassenden Sinn. Sie wird jedoch nicht schrankenlos gewährt, sondern nur soweit ihre Ausübung nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung verstößt. Allerdings muss eine auf die verfassungsmäßige Ordnung gestützte Einschränkung der allgemeinen Handlungsfreiheit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen (vgl. BVerfGE 44, 353 <373>; 63, 131 <144>; 65, 1 <44>; 90, 145 <172>).

Diese für § 56c StGB geltenden Erwägungen treffen in gleicher Weise auf Abstinenzweisungen im Rahmen der Führungsaufsicht gemäß § 68b Abs. 1 Nr. 10 StGB zu.

b) aa) Demgemäß muss eine Weisung gemäß § 68b Abs. 1 Nr. 10 StGB zunächst geeignet sein, den mit ihr angestrebten Zweck zu erreichen (vgl. BVerfGE 90, 145 <172>). Dabei genügt bereits die Möglichkeit der Zweckerreichung (vgl. BVerfGE 113, 167 <234>; 115, 276 <308>; 116, 202 <224>; 117, 163 <188 f.>). Bei einer Abstinenzweisung muss also die Möglichkeit bestehen, dass Straftaten unterbleiben, die im Falle weiteren Suchtmittelkonsums zu erwarten wären. Ungeeignet wäre eine Abstinenzweisung hingegen, wenn eine Verminderung des Risikos der Begehung weiterer Straftaten aufgrund dieser Weisung ausgeschlossen werden kann.

bb) Daneben muss die Abstinenzweisung erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinn sein. Letzteres bedeutet, dass sie den Betroffenen nicht übermäßig belasten darf, sondern diesem zumutbar sein muss (vgl. BVerfGE 13, 97 <113>; 90, 145 <173>; 104, 337 <349>; 110, 177 <195>; 113, 29 <54>; 115, 166 <192> stRspr).

Insoweit stellt § 68b Abs. 3 StGB, wonach bei Weisungen im Rahmen der Führungsaufsicht keine an die Lebensführung der verurteilten Person unzumutbaren Anforderungen gestellt werden dürfen, eine einfachgesetzliche Ausprägung der sich aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ergebenden verfassungsrechtlichen Anforderungen dar.

(1) Die Feststellung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne setzt eine Abwägung zwischen den Gemeinwohlbelangen, zu deren Wahrnehmung es erforderlich ist, in die Grundrechte einzugreifen und den Auswirkungen auf die Rechtsgüter des Betroffenen voraus (vgl. BVerfGE 92, 277 <327>). Dabei kann vorliegend nicht außer Betracht bleiben, dass die Abstinenzweisung gemäß § 68b Abs. 1 Nr. 10 StGB strafbewehrt ist und ein Verstoß mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft werden kann (§ 145a StGB). Insoweit unterscheidet sich die Abstinenzweisung im Rahmen der Führungsaufsicht von einer Weisung im Rahmen der Bewährungsaussetzung gemäß § 56c StGB (vgl. dazu Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 21. April 1993 - 2 BvR 930/92 -, juris). Wird gegen diese verstoßen, droht nicht die Verhängung einer neuen Strafe nach Vollverbüßung der festgesetzten Strafe, sondern lediglich die Fortsetzung der Vollstreckung einer bereits angeordneten Strafe und dieses auch nur für den Fall „gröblicher“ oder „beharrlicher“ Weisungsverstöße (§ 56f Abs. 1 Nr. 2 StGB). Demgemäß sind an eine Abstinenzweisung gemäß § 68b Abs. 1 Nr. 10 StGB unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten erhöhte Anforderungen zu stellen. Da im Fall der Verletzung einer Abstinenzweisung gemäß § 68b Abs. 1 Nr. 10 StGB die Möglichkeit der Verhängung einer Strafe als der schärfsten dem Staat zur Verfügung stehenden Sanktion (vgl. BVerfGE 90, 145 <177>) besteht, kann von dem Betroffenen die Hinnahme des damit verbundenen ethischen Unwerturteils im allgemeinen nur erwartet werden, wenn er überhaupt in der Lage ist, sich normgerecht zu verhalten und der Schutz überwiegender Interessen anderer oder der Allgemeinheit eine strafrechtliche Sanktionierung gebietet.

(2) Demgegenüber kann nicht darauf verwiesen werden, dass es sich bei § 145a StGB um ein Antragsdelikt handelt (§ 145a Satz 2 StGB) und die antragsberechtigte Führungsaufsichtsstelle bei Stellung eines Strafantrags ihrerseits an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebunden sei (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 13. September 2009 - 2 Ws 568/10 -, NStZ-RR 2011, S. 62 <63>; OLG Rostock, Beschluss vom 27. März 2012 - 1 Ws 90/12 -, NStZ-RR 2012, S. 222; OLG München, Beschluss vom 19. Juli 2012 - 1 Ws 509/12, 1 Ws 511/12 -, StV 2013, S. 168 <169>). Dies ändert nichts an der Tatsache, dass der Betroffene mit der Anordnung einer Abstinenzweisung einem bisher nicht bestehenden Strafbarkeitsrisiko ausgesetzt wird, das bei der gebotenen Abwägung der beteiligten Interessen erheblich ins Gewicht fällt, zumal das Vorgehen der zuständigen Stelle im Falle eines Weisungsverstoßes durch den Betroffenen nicht vorhergesehen oder beeinflusst werden kann (vgl. AG Freiburg, Urteil vom 2. Februar 2011 - 23 Ds 240 Js 34839/09 u.a. -, juris, Rn. 38). Demgemäß ergibt sich aus der Ausgestaltung des § 145a StGB als Antragsdelikt keine Verminderung der Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit einer Abstinenzweisung gemäß § 68b Abs. 1 Nr. 10 StGB.

(3) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Hinweis, dass der Erwerb und der Besitz von Betäubungsmitteln ohnehin strafbar seien. Einer darauf gestützten Relativierung der Verhältnismäßigkeitsanforderungen an eine Abstinenzweisung steht sowohl entgegen, dass eine Verurteilung nach § 145a StGB ein eigenes sittliches Unwerturteil über das Verhalten des Weisungsunterworfenen enthält, als auch, dass die Abstinenzweisung über den bestehenden Strafrahmen für Betäubungsmitteldelikte hinausgeht, da sie auch den (ansonsten straflosen) bloßen Konsum von Betäubungsmitteln umfasst.

(4) Nach dem vorstehend Gesagten wird von der Verhältnismäßigkeit einer Abstinenzweisung gemäß § 68b Abs. 1 Nr. 10 StGB regelmäßig auszugehen sein, wenn diese gegenüber einer ohne weiteres zum Verzicht auf den Konsum von Suchtmitteln fähigen Person angeordnet wird und im Falle des erneuten Alkohol- oder Suchtmittelkonsums mit der Begehung erheblicher, die Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit betreffender Straftaten zu rechnen ist. Wenn der Verzicht auf den Konsum von Suchtmitteln lediglich vom Willen und der charakterlichen Festigkeit des Weisungsunterworfenen abhängt, ist es ohne weiteres zumutbar, für die Dauer der Führungsaufsicht zur Vermeidung weiterer Straftaten einen solchen Verzicht einzufordern.

(5) Anders verhält es sich demgegenüber im Fall eines nicht- oder erfolglos therapierten langjährigen Suchtkranken (vgl. zu den unterschiedlichen Bewertungen der Rechtsprechung: OLG Köln, Beschluss vom 13. September 2009 - 2 Ws 568/10 -, NStZ-RR 2011, S. 62 <63>; OLG Rostock, Beschluss vom 27. März 2012 - 1 Ws 90/12 -, NStZ-RR 2012, S. 222; OLG München, Beschluss vom 21. Juni 2011 - 1 Ws 488/11 u.a. -, juris, Rn. 22 sowie Beschluss vom 19. Juli 2012 - 1 Ws 509/12, 1 Ws 511/12 -, StV 2013, S. 168 <169>; OLG Celle, Beschluss vom 16. Oktober 2010 - 2 Ws 228/09 -, NStZ-RR 2010, S. 91 <92>; OLG Dresden, Beschluss vom 13. Juli 2009 - 2 Ws 291/09 -, NJW 2009, S. 3315 <3316>). Ungeachtet der Tatsache, dass § 68b Abs. 1 Nr. 10 StGB nicht zwischen erfolgreich therapierten und nichttherapierten Suchtkranken unterscheidet, stellt sich die Frage der Zumutbarkeit des Verzichts auf den Konsum von Suchtmitteln in beiden Fällen unterschiedlich dar. Für den Suchtkranken beinhaltet die Abstinenzweisung eine deutlich schwerere Belastung. Dennoch wird auch in diesen Fällen nicht ausnahmslos davon ausgegangen werden können, dass die Weisung, auf den Konsum von Suchtmitteln zu verzichten, unzumutbar ist. Vielmehr ist auch insoweit eine Abwägung unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des jeweiligen Einzelfalles erforderlich.

Dabei sind insbesondere die Fragen, in welchem Umfang überhaupt die Aussicht besteht, den mit einer Abstinenzweisung verfolgten Zweck zu erreichen, ob und inwieweit der Suchtkranke sich (wenn auch erfolglos) Therapieangeboten geöffnet hat und welche Straftaten im Falle weiteren Suchtmittelkonsums zu erwarten sind, in die Abwägung einzustellen. Jedenfalls in Fällen, in denen ein langjähriger, mehrfach erfolglos therapierter Suchtabhängiger aufgrund seiner Suchtkrankheit nicht zu nachhaltiger Abstinenz in der Lage ist und von ihm keine die Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit erheblich beeinträchtigenden Straftaten drohen, ist eine strafbewehrte Abstinenzweisung gemäß § 68b Abs. 1 Nr. 10 StGB als unzumutbare Anforderung an die Lebensführung im Sinne von § 68b Abs. 3 StGB und damit zugleich als Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Gebot der Verhältnismäßigkeit anzusehen.

c) Gemessen an diesen Maßstäben tragen die angegriffenen Entscheidungen dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht hinreichend Rechnung.

aa) Es erscheint bereits zweifelhaft, ob im Fall des Beschwerdeführers die Anordnung einer Abstinenzweisung überhaupt geeignet ist, eine Reduzierung des Drogenkonsums und des damit verbundenen Risikos weiterer Straftaten zu erreichen:

Bei dem Beschwerdeführer handelt es sich um einen langjährigen Suchtkranken, der bereits als Jugendlicher Drogen konsumiert und diesen Konsum ungeachtet mehrfacher Verurteilungen wegen Betäubungsmitteldelikten durchgängig fortgesetzt hat. Er hat in den letzten Jahren zahlreiche Entgiftungen und mehrere Langzeitentwöhnungstherapien erfolglos absolviert. Bis auf eine Ausnahme mussten die Entwöhnungstherapien vorzeitig beendet werden, weil festgestellt wurde, dass der Beschwerdeführer Drogen konsumiert hatte oder sich im Besitz von Drogen befand. Eine erneute stationäre Therapie lehnt er ab. Selbst im unmittelbaren Vorfeld von Entscheidungen über den Widerruf gewährter Vollstreckungszurückstellungen und Bewährungsaussetzungen wurde der Beschwerdeführer wegen Drogenbesitzes auffällig. Nicht einmal in dieser Situation vermochte er seinen Suchtdruck so zu beherrschen, dass er zumindest einige Tage abstinent blieb.

Sämtliche festgesetzten Freiheitsstrafen und Therapieangebote haben nichts an der Drogenabhängigkeit des Beschwerdeführers geändert. Vor diesem Hintergrund erschließt sich nicht, inwieweit eine strafbewehrte Abstinenzweisung dazu beitragen soll, dass der Beschwerdeführer „sein noch junges Leben in den Griff bekommt“. Die Geeignetheit der Abstinenzweisung zur Verminderung des Risikos weiterer suchtmittelbedingter Straftaten erscheint daher zumindest zweifelhaft.

bb) Jedenfalls überschreitet die Weisung im vorliegenden Fall die verfassungsrechtlich vorgegebene Grenze der Zumutbarkeit.

Die Weisung, keine Suchtmittel zu konsumieren, stellt für den Beschwerdeführer angesichts seiner Drogenabhängigkeit eine schwerwiegende Belastung dar. Es ist noch nicht einmal erkennbar, ob er krankheitsbedingt überhaupt in der Lage ist, sich weisungsgemäß zu verhalten. Dabei kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass das wahrscheinliche Unvermögen, die Abstinenzweisung zu beachten, selbstverschuldet ist, da nicht feststeht, ob das Scheitern der bisherigen Therapieversuche auf die Suchtabhängigkeit oder auf eine nicht krankheitsbedingte Therapieunwilligkeit des Beschwerdeführers zurückzuführen ist. Bei der Behauptung, es dränge sich der Schluss auf, dass der Beschwerdeführer nur verbal bekunde, zu einer Entziehung motiviert zu sein, handelt es sich um eine bloße Vermutung. Daher kann von dem Beschwerdeführer zwar möglicherweise erwartet werden, dass er einen weiteren ernsthaften Therapieversuch unternimmt. Die Erwartung drogenabstinenten Lebens ohne die vorherige erfolgreiche Absolvierung einer solchen Therapie erscheint demgegenüber nicht gerechtfertigt. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Abstinenzweisung lediglich zu einer Pönalisierung suchtbedingt unvermeidbaren künftigen Verhaltens führt und daher dem Beschwerdeführer nicht zumutbar ist.

Demgegenüber kann auch nicht geltend gemacht werden, dass die Abstinenzweisung gleichwohl notwendig sei, da nur auf diesem Weg der gebotene Schutz der Allgemeinheit vor der Begehung weiterer erheblicher Straftaten erreicht werden könne. Soweit das Landgericht im angegriffenen Beschluss vom 4. Januar 2012 darauf verweist, dass der Beschwerdeführer in der Vergangenheit auch andere Personen in die Drogenkriminalität hineingezogen habe, trifft zu, dass der Beschwerdeführer bis September 2004 als Heranwachsender in zahlreichen Fällen mit Betäubungsmitteln gehandelt und solche erworben hatte. Auch veräußerte er im November 2005 noch einmal Drogen an ein Ehepaar, von dem er zugleich aber in ungefähr demselben Zeitraum eine noch größere Menge zum gleichen Grammpreis erwarb. Ein „Hineinziehen“ dieser Personen in die Drogenkriminalität ist demgemäß nicht ersichtlich. In der Folgezeit wurde der Beschwerdeführer ausschließlich noch wegen Besitzes von Betäubungsmitteln belangt. Verurteilungen wegen Beschaffungskriminalität liegen nicht vor. Spezialpräventive Erwägungen können sich somit allenfalls auf langjährig zurückliegende Taten stützen, für welche eine Jugendstrafe von zehn Monaten verhängt wurde.

Ergänzend ist zu berücksichtigen, dass im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität ohnehin bereits die Vorstufen drittschädigenden Verhaltens - etwa gemäß § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 3 BtMG das Sichverschaffen oder der Besitz von Betäubungsmitteln - strafbar sind. Im Fall fortgesetzten Drogenmissbrauchs wäre daher eine erneute Strafverfolgung des Beschwerdeführers bereits frühzeitig möglich. Demgemäß stellt sich die Abstinenzweisung als eine vom Beschwerdeführer suchtbedingt voraussichtlich nicht erfüllbare Verhaltenserwartung dar, deren Nichtbeachtung vor allem zur Strafbarkeit selbstschädigenden Verhaltens führt. Eine durch die strafrechtlichen Regelungen im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität nicht erfasste Sanktionierung der Vorstufen drittschädigenden Verhaltens ist mit der Weisung nicht verbunden. Demgemäß beinhaltet die Abstinenzweisung gemäß § 68b Abs. 1 Nr. 10 StGB vorliegend eine schwerwiegende Beeinträchtigung der allgemeinen Handlungsfreiheit des Beschwerdeführers, die angesichts des allenfalls geringen zusätzlichen Beitrages zum Schutz der Allgemeinheit als unzumutbar bewertet werden muss.

2. Der Beschluss des Oberlandesgerichts München ist aufzuheben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht München zurückverwiesen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).

3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 402

Bearbeiter: Holger Mann