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HRRS-Nummer: HRRS 2014 Nr. 194

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 1239/12, Beschluss v. 23.01.2014, HRRS 2014 Nr. 194


BVerfG 2 BvR 1239/12 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 23. Januar 2014 (OLG Nürnberg / LG Regensburg)

Rechtsschutzbedürfnis (Feststellungsinteresse nach Entlassung aus der Therapieunterbringung; tiefgreifender Grundrechtseingriff); Unterbringung nach dem Therapieunterbringungsgesetz (Freiheitsgrundrecht; verfassungskonforme Auslegung und Anwendung des § 1 Abs. 1 ThUG; strenger Verhältnismäßigkeitsmaßstab; Vertrauensschutz; hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten; objektive Verfassungswidrigkeit; fehlende Vorwerfbarkeit einer Grundrechtsverletzung).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 1 Abs. 1 ThUG

Leitsätze des Bearbeiters

1. Das Rechtsschutzbedürfnis für die (verfassungsgerichtliche) Überprüfung einer Entscheidung über die Unterbringung nach dem Therapieunterbringungsgesetz (ThUG) besteht angesichts des damit verbundenen tiefgreifenden Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht fort, auch wenn die Entscheidung nicht mehr die Grundlage für eine aktuelle Unterbringung bildet.

2. Nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Juli 2013 (2 BvR 2302/11 u. a. = HRRS 2013 Nr. 693) ist § 1 Abs. 1 ThUG nur mit der Maßgabe mit dem Grundgesetz vereinbar, dass die Unterbringung oder deren Fortdauer nur angeordnet werden darf, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist.

3. Eine Unterbringungsentscheidung, die diesen Anforderungen an eine verfassungskonforme Auslegung und Anwendung des § 1 Abs. 1 ThUG nicht genügt - insbesondere weil sie nicht den genannten strengen Verhältnismäßigkeitsmaßstab zugrundelegt -, verletzt den Betroffenen in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

4. Dies gilt auch für Unterbringungsentscheidungen, die bereits vor dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Juli 2013 ergangen sind, weil es insoweit allein auf die objektive Verfassungswidrigkeit der Entscheidung und nicht darauf ankommt, ob die Grundrechtsverletzung dem Gericht vorwerfbar ist.

Entscheidungstenor

1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 10. April 2012 - 15 W 479/12 Th - und die Beschlüsse des Landgerichts Regensburg vom 7. März 2012 und vom 9. Februar 2012 - 7 AR 27/11 ThUG - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.

Der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung über die Kosten und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers an das Oberlandesgericht Nürnberg zurückverwiesen.

2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

3. Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer zwei Drittel seiner notwendigen Auslagen zu erstatten.

4. Der Wert der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 120.000,00 € (in Worten: einhundertzwanzigtausend Euro) festgesetzt.

Gründe

Der Beschwerdeführer wendet sich unmittelbar gegen seine gerichtlich angeordnete Unterbringung nach dem Therapieunterbringungsgesetz (ThUG). Mittelbar ist die Verfassungsbeschwerde gegen die Vorschriften des Therapieunterbringungsgesetzes selbst gerichtet.

I.

1. Das Landgericht Nürnberg-Fürth verurteilte den Beschwerdeführer, der bereits zuvor wegen mehrfachen sexuellen Missbrauchs von Kindern zu Freiheitsstrafen verurteilt worden war und zur Tatzeit unter Führungsaufsicht stand, mit Urteil vom 23. Oktober 1990 unter anderem wegen mehrfachen sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und ordnete die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung an, die ab dem 12. September 1997 in der Justizvollzugsanstalt Straubing vollzogen wurde. Mit Beschluss der auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg mit Sitz in Straubing vom 20. Oktober 2011 wurde die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung über die Zehnjahresfrist hinaus für erledigt erklärt.

Im Verfahren nach dem Therapieunterbringungsgesetz ordnete das Landgericht Regensburg mit Beschluss vom 28. Oktober 2011 zunächst die vorläufige Unterbringung des Beschwerdeführers an; die hiergegen gerichtete Beschwerde blieb erfolglos. Mit Beschluss vom 9. Februar 2012 erfolgte die Unterbringungsanordnung in der Hauptsache bis zum 9. Mai 2013. Nachdem das Landgericht Regensburg der Beschwerde mit Beschluss vom 7. März 2012 nicht abgeholfen hatte, wies das Oberlandesgericht Nürnberg die Beschwerde mit Beschluss vom 10. April 2012 zurück. In den Entscheidungsgründen wird hinsichtlich des erforderlichen Gefährlichkeitsmaßstabes auf die zutreffenden Ausführungen des Landgerichts verwiesen, das seinerseits Bezug auf die vorangegangene Beschwerdeentscheidung im Verfahren der einstweiligen Anordnung nimmt, der zufolge der strenge Maßstab, der bei einer Vertrauensschutzbelange betreffenden Sicherungsverwahrung anzulegen sei und eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten verlange, nicht auf den Tatbestand des § 1 ThUG zu übertragen sei.

2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3, Art. 2 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3, Art. 19 Abs. 1 Satz 1, Art. 103 Abs. 1, Art. 103 Abs. 2 und Art. 104 Abs. 1 GG sowie von Art. 5 und 7 EMRK. Dem Bundesgesetzgeber fehle die Gesetzgebungskompetenz für das Therapieunterbringungsgesetz. Das Rückwirkungsverbot beziehungsweise das Vertrauensschutzgebot werde verletzt, weil die Therapieunterbringung zum Zeitpunkt der strafrechtlichen Vorverurteilungen noch nicht gesetzlich geregelt gewesen sei und die Unterbringung deshalb eine Rückanknüpfung darstelle. Überdies genüge der Begriff der psychischen Störung nicht den Bestimmtheitsanforderungen. Das Therapieunterbringungsgesetz stelle zudem ein unzulässiges Einzelfallgesetz dar und verstoße gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Darüber hinaus begründe die konkrete Anwendung des Therapieunterbringungsgesetzes eine Verletzung des Freiheitsrechts. Schließlich könne das Therapieunterbringungsgesetz entgegen der Ansicht des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 11. Juli 2013 -2 BvR 2302/11 u.a. -) nicht verfassungskonform ausgelegt werden.

3. Den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat die 1. Kammer des Zweiten Senats mit Beschluss vom 20. Juni 2012 abgelehnt.

4. Das Verfahren wurde dem Bayerischen Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz mit der Gelegenheit zur Stellungnahme zugestellt. Das Ministerium hat von einer Stellungnahme abgesehen.

II.

1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde - soweit sie gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 10. April 2012 - 15 W 479/12 Th und die Beschlüsse des Landgerichts Regensburg vom 7. März 2012 und vom 9. Februar 2012 - 7 AR 27/11 ThUG - gerichtet ist - zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 BVerfGG sind insoweit erfüllt. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen - insbesondere die Frage der Anforderungen an eine verfassungskonforme Auslegung von § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 11. Juli 2013 - 2 BvR 2302/11 u.a. -, juris, Rn. 69 ff.) - bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG), und die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).

a) Die Verfassungsbeschwerde ist - soweit die Kammer sie zur Entscheidung annimmt - zulässig und begründet.

aa) Der Zulässigkeit steht nicht entgegen, dass die Beschlüsse nicht mehr die Grundlage für eine aktuelle Unterbringung bilden. Der Beschwerdeführer hat ein fortbestehendes schutzwürdiges Interesse an einer nachträglichen verfassungsrechtlichen Überprüfung, weil die Therapieunterbringung aufgrund der angegriffenen Beschlüsse in der Zeit vom 9. Februar 2012 bis zum 9. Mai 2013 einen tiefgreifenden Eingriff in sein Freiheitsgrundrecht darstellte (vgl. dazu BVerfGE 9, 89 <92 ff.>; 32, 87 <92>; 53, 152 <157 f.>; 104, 220 <234>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 31. Oktober 2005 - 2 BvR 2233/04 -, juris, Rn. 20 ff.).

bb) In dem bezeichneten Umfang ist die Verfassungsbeschwerde auch begründet. In den angegriffenen Beschlüssen über die Anordnung der Therapieunterbringung ist ein unzutreffender Maßstab zugrunde gelegt und der Beschwerdeführer dadurch in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt.

Mit Beschluss vom 11. Juli 2013 hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass § 1 Abs. 1 des Therapieunterbringungsgesetzes in der Fassung des Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010 (BGBl I S. 2300) mit dem Grundgesetz mit der Maßgabe vereinbar ist, dass die Unterbringung oder deren Fortdauer nur angeordnet werden darf, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist (BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 11. Juli 2013 - 2 BvR 2302/11 u.a. -, juris, Rn. 69 ff.).

Die im Umfang der Annahme (§ 93a BVerfGG) zur Prüfung stehenden fachgerichtlichen Beschlüsse sind mit diesen Vorgaben für die Anwendung des Therapieunterbringungsgesetzes nicht zu vereinbaren. Sowohl das Landgericht als auch das Oberlandesgericht übertragen den strengen Verhältnismäßigkeitsmaßstab der hochgradigen Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten, wie ihn das Bundesverfassungsgericht für die Vertrauensschutzbelange betreffende Sicherungsverwahrung verlangt (vgl. BVerfGE 128, 326 <399>) und wie er in gleicher Weise für die Therapieunterbringung Geltung beansprucht (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 11. Juli 2013 - 2 BvR 2302/11 u.a. -, juris, Rn. 69 ff.), nicht auf den Tatbestand des § 1 Abs. 1 ThUG. Daher genügen die Beschlüsse den Anforderungen an eine verfassungskonforme Auslegung und Anwendung des § 1 Abs. 1 ThUG nicht und verletzen den Beschwerdeführer in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

Dabei kommt es für die Feststellung der Grundrechtsverletzung allein auf die objektive Verfassungswidrigkeit der angefochtenen fachgerichtlichen Entscheidungen im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts an; unerheblich ist hingegen, ob die Grundrechtsverletzung den Fachgerichten vorwerfbar ist (vgl. BVerfGE 128, 326 <407 f.>).

cc) Da die Verfassungsbeschwerde schon wegen der Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG begründet ist, bedarf es keiner Entscheidung, ob darüber hinaus weitere Grundrechte verletzt sind.

b) Der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 10. April 2012 ist daher aufzuheben. Die Sache ist zur Entscheidung über die Kosten und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers (vgl. BVerfGE 128, 326 <407>) an das Oberlandesgericht Nürnberg zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).

2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Hinsichtlich des mittelbaren Angriffs auf das Therapieunterbringungsgesetz wird - auch unter Berücksichtigung des darauf gerichteten Vortrags des Beschwerdeführers - auf den Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Juli 2013 - 2 BvR 2302/11 u.a. - verwiesen und im Übrigen von einer Begründung abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).

3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).

HRRS-Nummer: HRRS 2014 Nr. 194

Bearbeiter: Holger Mann