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HRRS-Nummer: HRRS 2014 Nr. 188

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 119/12, Beschluss v. 23.01.2014, HRRS 2014 Nr. 188


BVerfG 2 BvR 119/12 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 23. Januar 2014 (OLG Nürnberg / LG Regensburg)

Rechtsschutzbedürfnis (Feststellungsinteresse nach Entlassung aus der Therapieunterbringung; tiefgreifender Grundrechtseingriff); Unterbringung nach dem Therapieunterbringungsgesetz (Freiheitsgrundrecht; verfassungskonforme Auslegung und Anwendung des § 1 Abs. 1 ThUG; strenger Verhältnismäßigkeitsmaßstab; Vertrauensschutz; hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten; objektive Verfassungswidrigkeit; fehlende Vorwerfbarkeit einer Grundrechtsverletzung).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 1 Abs. 1 ThUG

Leitsätze des Bearbeiters

1. Das Rechtsschutzbedürfnis für die (verfassungsgerichtliche) Überprüfung einer Entscheidung über die Unterbringung nach dem Therapieunterbringungsgesetz (ThUG) besteht angesichts des damit verbundenen tiefgreifenden Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht fort, auch wenn die Entscheidung nicht mehr die Grundlage für eine aktuelle Unterbringung bildet.

2. Nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Juli 2013 (2 BvR 2302/11 u. a. = HRRS 2013 Nr. 693) ist § 1 Abs. 1 ThUG nur mit der Maßgabe mit dem Grundgesetz vereinbar, dass die Unterbringung oder deren Fortdauer nur angeordnet werden darf, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist.

3. Eine Unterbringungsentscheidung, die diesen Anforderungen an eine verfassungskonforme Auslegung und Anwendung des § 1 Abs. 1 ThUG nicht genügt - insbesondere weil sie nicht den genannten strengen Verhältnismäßigkeitsmaßstab zugrundelegt -, verletzt den Betroffenen in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

4. Dies gilt auch für Unterbringungsentscheidungen, die bereits vor dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Juli 2013 ergangen sind, weil es insoweit allein auf die objektive Verfassungswidrigkeit der Entscheidung und nicht darauf ankommt, ob die Grundrechtsverletzung dem Gericht vorwerfbar ist.

Entscheidungstenor

1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 8. Dezember 2011 - 15 W 2335/11 ThUG - und der Beschluss des Landgerichts Regensburg vom 13. Oktober 2011 - 7 AR 2/11 ThUG - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.

Der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung über die Kosten und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers an das Oberlandesgericht Nürnberg zurückverwiesen.

2. Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.

3. Der Wert der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 40.000,00 € (in Worten: vierzigtausend Euro) festgesetzt.

Gründe

Der Beschwerdeführer wendet sich gegen seine Unterbringung nach dem Therapieunterbringungsgesetz (ThUG).

I.

1. Das Landgericht München I verurteilte den bereits mehrfach wegen vorsätzlicher Sexualdelikte vorbestraften Beschwerdeführer 1997 wegen sexueller Nötigung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten und ordnete die Sicherungsverwahrung an, die ab dem 5. Juni 2000 in der Justizvollzugsanstalt Straubing vollzogen wurde. Nachdem die auswärtige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg mit Sitz in Straubing den weiteren Vollzug der Sicherungsverwahrung über die Zehnjahresfrist hinaus angeordnet hatte, erklärte das Oberlandesgericht Nürnberg mit Beschluss vom 15. April 2011 die Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung zum 30. Juni 2011 für erledigt.

Im Verfahren nach dem Therapieunterbringungsgesetz ordnete das Oberlandesgericht Nürnberg mit Beschluss vom 21. Juli 2011 die vorläufige Unterbringung des Beschwerdeführers nach § 14 Abs. 1 ThUG an, nachdem die Vorinstanz das Vorliegen der Unterbringungsvoraussetzungen unter Hinweis auf die zur nachträglichen Sicherungsverwahrung gleich zu handhabenden Unterbringungsvoraussetzungen noch abgelehnt hatte. Das Verfahren über die vorläufige Unterbringung war Gegenstand der Verfassungsbeschwerde zum Aktenzeichen 2 BvR 1795/11, die mit Beschluss vom 21. September 2011 wegen Unzulässigkeit mit kurzer Tenorbegründung nicht zur Entscheidung angenommen wurde.

Mit Beschluss vom 13. Oktober 2011 erfolgte durch das Landgericht Regensburg die Unterbringungsanordnung in der Hauptsache bis zum 21. Januar 2013. Das Oberlandesgericht Nürnberg wies die hiergegen gerichtete Beschwerde des Beschwerdeführers mit Beschluss vom 8. Dezember 2011 zurück. In den Entscheidungsgründen des Oberlandesgerichts wird hinsichtlich des erforderlichen Gefährlichkeitsmaßstabes unter anderem auf die vorangegangene Entscheidung zur vorläufigen Unterbringung verwiesen, wonach der strenge Maßstab, der bei einer Weiterführung einer über zehn Jahre hinausgehenden Sicherungsverwahrung anzulegen sei und eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten verlange, nicht auf den Tatbestand des § 1 ThUG zu übertragen sei.

2. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 und Art. 3 Abs. 1 GG. Es stelle einen rechtsstaatlich nicht zu rechtfertigenden "Etikettentausch" dar, wenn die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Voraussetzungen für eine Verlängerung der Sicherungsverwahrung in Altfällen über zehn Jahre hinaus durch eine Unterbringung nach dem Therapieunterbringungsgesetz umgangen würden, obwohl die Unterbringung inhaltlich der (nachträglichen) Sicherungsverwahrung entspreche. Ihn unter diesen Gegebenheiten zunächst aus der Sicherungsverwahrung zu entlassen und trotz gleichbleibender Tatsachengrundlage die Therapieunterbringung anzuordnen, zerstöre nicht nur sein rechtlich geschütztes Vertrauen in die Begrenzung der Sicherungsverwahrung auf zehn Jahre, sondern auch sein Vertrauen auf die Rechtskraft des Beschlusses des Oberlandesgerichts Nürnberg, mit dem die Sicherungsverwahrung für erledigt erklärt worden war. Schließlich sei es willkürlich, dass bei identischer Tatsachengrundlage ein Strafsenat die Sicherungsverwahrung für erledigt erkläre und ein Zivilsenat desselben Gerichts "de facto" die Sicherungsverwahrung wieder anordne.

3. Den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat die 1. Kammer des Zweiten Senats mit Beschluss vom 26. Januar 2012 abgelehnt.

4. Das Verfahren wurde dem Bayerischen Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz mit der Gelegenheit zur Stellungnahme zugestellt. Das Ministerium hat von einer Stellungnahme abgesehen.

II.

1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 BVerfGG sind erfüllt. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen - insbesondere die Frage der Anforderungen an eine verfassungskonforme Auslegung von § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 11. Juli 2013 - 2 BvR 2302/11 u.a. -, juris, Rn. 69 ff.) - bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG), und die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

a) Der Zulässigkeit steht nicht entgegen, dass die Beschlüsse nicht mehr die Grundlage für eine aktuelle Unterbringung bilden. Der Beschwerdeführer hat ein fortbestehendes schutzwürdiges Interesse an einer nachträglichen verfassungsrechtlichen Überprüfung, weil die Therapieunterbringung aufgrund der angegriffenen Beschlüsse in der Zeit vom 13. Oktober 2011 bis zum 21. Januar 2013 einen tiefgreifenden Eingriff in sein Freiheitsgrundrecht darstellte (vgl. dazu BVerfGE 9, 89 <92 ff.>; 32, 87 <92>; 53, 152 <157 f.>; 104, 220 <234>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 31. Oktober 2005 - 2 BvR 2233/04 -, juris, Rn. 20 ff.).

b) Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. In den angegriffenen Beschlüssen über die Anordnung der Therapieunterbringung ist ein unzutreffender Maßstab zugrunde gelegt und der Beschwerdeführer dadurch in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt.

Mit Beschluss vom 11. Juli 2013 hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass § 1 Abs. 1 des Therapieunterbringungsgesetzes in der Fassung des Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010 (BGBl I S. 2300) mit dem Grundgesetz mit der Maßgabe vereinbar ist, dass die Unterbringung oder deren Fortdauer nur angeordnet werden darf, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist (BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 11. Juli 2013 - 2 BvR 2302/11 u.a. -, juris, Rn. 69 ff.).

Die mit der Verfassungsbeschwerde angefochtenen fachgerichtlichen Beschlüsse sind mit diesen Vorgaben für die Anwendung des Therapieunterbringungsgesetzes nicht zu vereinbaren. Sowohl das Landgericht als auch das Oberlandesgericht übertragen den strengen Verhältnismäßigkeitsmaßstab der hochgradigen Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten, wie ihn das Bundesverfassungsgericht für die Vertrauensschutzbelange betreffende Sicherungsverwahrung verlangt (vgl. BVerfGE 128, 326 <399>) und wie er in gleicher Weise für die Therapieunterbringung Geltung beansprucht (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 11. Juli 2013 - 2 BvR 2302/11 u.a. -, juris, Rn. 69 ff.), nicht auf den Tatbestand des § 1 Abs. 1 ThUG. Daher genügen die Beschlüsse den Anforderungen an eine verfassungskonforme Auslegung und Anwendung des § 1 Abs. 1 ThUG nicht und verletzen den Beschwerdeführer in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

Dabei kommt es für die Feststellung der Grundrechtsverletzung allein auf die objektive Verfassungswidrigkeit der angefochtenen fachgerichtlichen Entscheidungen im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts an; unerheblich ist hingegen, ob die Grundrechtsverletzung den Fachgerichten vorwerfbar ist (vgl. BVerfGE 128, 326 <407 f.>).

c) Da die Verfassungsbeschwerde schon wegen der Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG begründet ist, bedarf es keiner Entscheidung, ob darüber hinaus weitere Grundrechte verletzt sind.

2. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 8. Dezember 2011 ist daher aufzuheben. Die Sache ist zur Entscheidung über die Kosten und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers (vgl. BVerfGE 128, 326 <407>) an das Oberlandesgericht Nürnberg zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).

3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).

HRRS-Nummer: HRRS 2014 Nr. 188

Bearbeiter: Holger Mann