HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 658
Bearbeiter: Holger Mann
Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 1092/12, Beschluss v. 11.07.2012, HRRS 2012 Nr. 658
Der Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 17. April 2012 - 3 Ws 343/12 - und der Beschluss des Landgerichts Augsburg vom 22. März 2012 - 9 KLs 502 Js 124468/08 - verletzen den Beschwerdeführer jeweils in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes.
Der Beschluss des Oberlandesgerichts wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.
Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Aufhebung eines Haftverschonungsbeschlusses wegen neu hervorgetretener Umstände im Sinne von § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO.
1. Die Staatsanwaltschaft A. leitete im Sommer 2008 gegen den Beschwerdeführer und einen weiteren Mitverantwortlichen eines als GmbH firmierenden Autohauses ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Insolvenzverschleppung, der Untreue und des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelten ein. Im August 2008 kam es zu gerichtlich angeordneten Durchsuchungsmaßnahmen, von denen auch der Beschwerdeführer betroffen war.
2. Am 22. Juni 2010 erließ das Amtsgericht Augsburg gegen den Beschwerdeführer auf Antrag der ermittelnden Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl. Dem Beschwerdeführer wurde darin weiterhin die Insolvenzverschleppung sowie eine Untreue zum Nachteil des Autohauses mit einem Schaden von 73.000 € zur Last gelegt. Ferner stand der Beschwerdeführer im Verdacht, in zwei Fällen die Buchführungspflicht verletzt sowie einen Bankrott begangen zu haben. In drei Fällen soll er Geldinstitute durch Täuschungshandlungen zur Gewährung von Krediten veranlasst haben, wodurch ein Gesamtschaden in Höhe von ungefähr 831.000 € eingetreten sein soll.
Als Haftgrund führte das Amtsgericht Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO an. Der Beschwerdeführer habe im Falle einer Verurteilung mit einer empfindlichen Freiheitsstrafe zu rechnen, die nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden könne. Gegen ihn sei ferner bei der Staatsanwaltschaft München I ein Ermittlungsverfahren wegen Insolvenzverschleppung in Tatmehrheit mit Bankrott in bis zu 9 Fällen in Tatmehrheit mit Betrug in 40 tateinheitlichen Fällen und Untreue in 6 Fällen anhängig, in dem dem Beschwerdeführer unter anderem ungeklärte Barauszahlungen in Höhe von 180.300 € und 839.886,25 € zur Last gelegt würden.
3. Hiergegen legte der am 23. Juni 2010 festgenommene Beschwerdeführer am 28. Juni 2010 Beschwerde ein. Zur Fluchtgefahr wies der Verteidiger auf das Verhalten des Beschwerdeführers in dem von der Staatsanwaltschaft München geführten Verfahren hin. Er habe in voller Kenntnis sämtlicher Vorwürfe dem Verfahren und den Ermittlungsbehörden stets zur Verfügung gestanden und sei trotz seines seit 2009 in London bestehenden Wohnsitzes sämtlichen Ladungen umgehend nachgekommen. So sei er noch am 15. Juni 2010 zu einer knapp dreieinhalbstündigen Beschuldigtenvernehmung erschienen und habe am 23. Juni 2010 zur erkennungsdienstlichen Behandlung erscheinen wollen, was die auf dem Weg dorthin erfolgte Festnahme jedoch verhindert habe. Es lasse sich keine Fluchtgefahr annehmen, weil der Beschwerdeführer in dem in München geführten umfassenderen Verfahren gezeigt habe, sich dem Verfahren zu stellen.
Die Betrugsvorwürfe wurden in einer ergänzenden Begründung aus rechtlichen Erwägungen in Abrede gestellt.
4. Auf die Beschwerde setzte das Landgericht Augsburg mit Beschluss vom 7. Juli 2010 den Haftbefehl außer Vollzug. Dem Beschwerdeführer wurden die Auflagen erteilt, seinen Wohnsitz in Fürstenfeldbruck zu nehmen, seine Ausweispapiere bei der Staatsanwaltschaft zu hinterlegen und das Bundesgebiet nicht ohne Zustimmung der Staatsanwaltschaft zu verlassen. Er sollte sich dreimal wöchentlich bei der Polizei melden und eine Sicherheitsleistung in Höhe von 45.000 € hinterlegen.
Zur Begründung führte das Landgericht aus, dass die Kammer die rechtliche Würdigung der Verteidigung zu den Untreue- und Betrugshandlungen nicht teile. Der aus der Straferwartung folgenden Fluchtgefahr - es seien immerhin zwei Ermittlungsverfahren anhängig - lasse sich jedoch mit den Auflagen entgegenwirken. Die Anmietung von Wohnungen in England lasse sich nicht als Fluchtvorbereitung deuten, weil sich der Beschwerdeführer zur Verfügung der Münchener Polizei gehalten habe.
Am selben Tag wurde der Beschwerdeführer aus der Untersuchungshaft entlassen.
5. Gegen diese Entscheidung wandte sich die Staatsanwaltschaft Augsburg und wies in ihrer Beschwerde darauf hin, dass Fluchtgefahr vorliege. Der Beschwerdeführer sei für seine Gläubiger nicht greifbar und wechsele nahezu wöchentlich seinen angeblichen Wohnsitz in Großbritannien. Tatsächlich halte er sich ausweislich der Auswertung seiner sichergestellten Mobiltelefone vorwiegend im Baltikum auf. Die Strafkammer habe auch nicht ausreichend berücksichtigt, dass der Beschwerdeführer im Münchener Verfahren im Verdacht stehe, als Untreuehandlungen zu wertende Barauszahlungen in Höhe von 180.300 € und 839.886,25 € empfangen zu haben.
6. Mit Beschluss vom 6. August 2010 verwarf das Oberlandesgericht München die weitere Beschwerde der Staatsanwaltschaft und führte aus, dass entgegen der Ansicht der Verteidigung auch hinsichtlich der Betrugshandlungen zum Nachteil der Banken ein dringender Tatverdacht bestehe. Vor dem Hintergrund der Vielzahl der Straftaten mit teils erheblichen Schäden im von der Staatsanwaltschaft Augsburg geführten Verfahren und dem weiteren in München anhängigen Verfahren habe der Beschwerdeführer mit einer erheblichen Strafe zu rechnen, die nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden könne. Es komme weiter hinzu, dass nunmehr auch der Verdacht umfangreicher Steuerhinterziehungen bestehe.
Der Senat sei aber der Ansicht, dass die angeordneten engmaschigen Auflagen die Fluchtgefahr in entscheidender Weise mindern könnten. Der Beschuldigte habe sich bislang stets den Ermittlungsbehörden zur Verfügung gehalten. Aus der Akte ergebe sich, dass er eine rege Geschäftstätigkeit in Litauen, Estland, Polen, Italien und Frankreich entfalte, jedoch weniger in Großbritannien. Es dürfte sich bei den wechselnden Wohnsitzen in England somit nicht um Fluchtadressen handeln.
7. Unter dem 8. September 2010 erhob die Staatsanwaltschaft Augsburg gegen den Beschwerdeführer Anklage. Die Vorwürfe deckten sich weitgehend mit den im Haftbefehl aufgeführten Tathandlungen. Lediglich eine zum Nachteil des Autohauses vorgeworfene Untreuehandlung mit einem Schaden von 73.000 € wurde nicht angeklagt.
8. Nachdem das Landgericht Augsburg am 19. Januar 2012 die Anklage zur Hauptverhandlung zugelassen hatte, wurden am 23. Januar 2012 die Termine zur Hauptverhandlung auf den 19., 22., 26. und 28. März 2012 bestimmt.
9. Bereits unter dem 16. Juni 2011 hatte die Staatsanwaltschaft München I in ihrem Verfahren Anklage vor dem Schöffengericht München erhoben, welches am 26. Oktober 2011 die Anklage zur Hauptverhandlung zuließ. Nach sieben Verhandlungstagen wurde der Beschwerdeführer am 1. Februar 2012 unter anderem wegen Insolvenzverschleppung in Tatmehrheit mit Bankrott in drei Fällen sowie wegen versuchter Steuerhinterziehung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren verurteilt. Die Vollstreckung der Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Das Urteil ist seit dem 9. Februar 2012 rechtskräftig.
10. Zum Prozessauftakt vor dem Landgericht Augsburg führten die Verfahrensbeteiligten nach Verlesung der Anklageschrift ein Gespräch. Die Staatsanwaltschaft hatte für den Fall eines Geständnisses eine Straferwartung zwischen 4 und 5 Jahren Freiheitsstrafe erwartet.
Die Strafkammer hielt nach Aktenlage eine Verurteilung für wahrscheinlich und stellte dem Beschwerdeführer im Falle eines Geständnisses unter Einbeziehung der im Urteil des Amtsgerichts München vom 1. Februar 2012 verhängten Einzelstrafen und Auflösung der dort gebildeten Gesamtstrafe eine Gesamtfreiheitsstrafe zwischen 4 und 5 Jahren in Aussicht. Im weiteren Verlauf der Besprechung wurde eine Strafobergrenze von 4 Jahren und 6 Monaten genannt. Im Falle einer Verurteilung ohne geständige Einlassung werde die Strafe hingegen deutlich höher ausfallen. Eine Verständigung kam zu diesem Zeitpunkt nicht zustande.
Nach Fortsetzung der Hauptverhandlung wurden die Anklagevorwürfe vom Beschwerdeführer durch eine Verteidigererklärung bestritten. Die vorgeworfene Stellung als faktischer Geschäftsführer des Autohauses wurde ebenso in Abrede gestellt wie eine gegenüber den Banken vorgenommene Täuschungshandlung. Nach Befragung des Mitangeklagten wurden zahlreiche Urkunden verlesen.
11. Am nächsten Verhandlungstag, dem 22. März 2012, wurde zunächst ein Kreditsachbearbeiter als Zeuge befragt. Wie mit der Kammer im Verlauf der Befragung vereinbart, beantragte der Bevollmächtigte zu 2. des Beschwerdeführers nach Abschluss der Vernehmung die wörtliche Protokollierung bestimmter Aussageteile. Die Kammer zog sich daraufhin zur Beratung zurück.
Nach Fortsetzung der Verhandlung verkündete die Strafkammer den angefochtenen Beschluss, mit dem der Haftverschonungsbeschluss vom 7. Juli 2010 aufgehoben und der Haftbefehl des Amtsgerichts Augsburg vom 22. Juni 2010 wieder in Vollzug gesetzt wurde. Zur Begründung führte die Kammer aus, es lägen neu hervorgetretene Umstände im Sinne von § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO vor. Der Beschwerdeführer sei am 1. Februar 2012 vom Amtsgericht München rechtskräftig zu einer zur Bewährung ausgesetzten Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren verurteilt worden. Diese Entscheidung sei mit einer etwaigen Verurteilung in dem anhängigen Verfahren gesamtstrafenfähig. Deswegen und aufgrund des bisherigen Verlaufs des Verfahrens habe der Beschwerdeführer mit einer so hohen Freiheitsstrafe zu rechnen, wie sie bei Außervollzugsetzung des Haftbefehls nicht absehbar gewesen sei.
Der Beschwerdeführer verfüge über umfangreiche Geschäfts-und Privatkontakte nach Litauen, Estland, Polen, Italien, Frankreich und England. Der größte Teil der von den geschädigten Banken erlangten mehr als 830.000 € sei spurlos verschwunden. Die sich aus diesen Umständen ergebende Fluchtgefahr könne nicht mehr mit weniger einschneidenden Maßnahmen beseitigt werden.
12. Unmittelbar im Anschluss an die Verhaftung kam es zu einer erneuten Besprechung zwischen den Beteiligten, die darin mündete, die Betrugsvorwürfe auf zwei Taten zu beschränken. Dem Beschwerdeführer wurde im Falle eines umfänglichen Geständnisses unter Einbeziehung der Strafen aus dem Urteil des Amtsgerichts München vom 1. Februar 2012 eine Gesamtfreiheitsstrafe von 4 Jahren und 10 Monaten in Aussicht gestellt. Der Beschwerdeführer räumte anschließend die Vorwürfe der Anklage ein. Er wurde am gleichen Tag zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 4 Jahren und 10 Monaten verurteilt; die Strafkammer ordnete die Haftfortdauer an.
13. Der Beschwerdeführer legte am 23. März 2012 gegen die Haftfortdauerentscheidung Beschwerde und am 28. März 2012 gegen das Urteil Revision ein.
Zur Haftbeschwerde führte der Bevollmächtigte zu 2. im Wesentlichen aus, die Wiederinvollzugsetzung des Haftbefehls sei unzulässig. Der Beschwerdeführer sei seit dem 7. Juli 2010 und somit über einen Zeitraum von 20 Monaten den Auflagen ohne Anlass zu Beanstandungen nachgekommen. Er sei auch zu den Verhandlungsterminen erschienen, weshalb er das vom Oberlandesgericht München in ihn gesetzte Vertrauen bestätigt habe. Es lägen keine neuen Umstände im Sinne von § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO vor. Dem Beschwerdeführer seien die Vorwürfe nach der Haftverschonung anhand der Anklageschrift bekannt gewesen. Diese enthalte im Vergleich zum Haftbefehl keinen Untreuevorwurf mit einem Schaden in Höhe von 73.000 € mehr. Auch die Vorwürfe aus dem in München geführten Ermittlungsverfahren seien zum Zeitpunkt der Außervollzugesetzung bekannt gewesen. Der Beschwerdeführer sei trotz Kenntnis der Entscheidung des Amtsgerichts München vom 1. Februar 2012 und deren Gesamtstrafenfähigkeit zur Hauptverhandlung in Augsburg erschienen. Ihm sei auch nach dem Gespräch vom 19. März 2012 von seinem Bevollmächtigten die Straferwartung des Gerichts im Falle eines Geständnisses mitgeteilt worden. Obwohl er kein Geständnis abgelegt habe, sei er zum nächsten Verhandlungstermin erschienen. Es liege daher keine Fluchtgefahr vor, weil sich die Rechtsfolgenerwartung gegenüber dem Zeitpunkt der am 7. Juli 2010 erfolgten Haftverschonung nicht verändert habe.
14. Das Landgericht half der Beschwerde mit dem angefochtenen Beschluss vom 29. März 2012 nicht ab. Zur Begründung merkte die Kammer ergänzend zu der angefochtenen Entscheidung an, das Prozessverhalten des Beschwerdeführers, wie es in der Entwicklung des Aussageverhaltens und der Rechtsmitteleinlegung trotz erzielter Vereinbarung zum Ausdruck komme, biete keine hinreichende Vertrauensgrundlage für haftverschonende Maßnahmen.
15. In einer ergänzenden Beschwerdebegründung vom 12. April 2012 wies der Bevollmächtigte zu 2. darauf hin, der Beschwerdeführer habe hinsichtlich des beanstandeten Aussageverhaltens lediglich von seinen verfassungsgemäß garantierten Rechten Gebrauch gemacht.
16. Mit dem ebenfalls angegriffenen Beschluss vom 17. April 2012 wies das Oberlandesgericht die Beschwerde als unbegründet zurück. Die Voraussetzungen für eine Wiederinvollzugsetzung nach § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO lägen vor. Die Schwelle für eine solche Entscheidung sei sehr hoch anzusetzen. Zum Zeitpunkt der Haftverschonung seien die Tatvorwürfe, die häufigen Auslandsaufenthalte und das von der Staatsanwaltschaft München I geführte Ermittlungsverfahren bekannt gewesen. Der Beschwerdeführer habe sich auch beiden Verfahren gestellt. Er sei jedoch am 22. März 2012 zu einer weit höheren Strafe verurteilt worden, als er es während des bisherigen Verfahrens habe erwarten können. Sein Aussageverhalten zeige, dass er noch am 19. März 2012 den Tatnachweis für fraglich erachtet und die Straferwartung nicht so hoch eingeschätzt habe, weshalb er die ihm angebotene Verständigung abgelehnt habe. Er habe zuvor einen Teil der zur Last gelegten Taten bestritten und sich teils gar nicht geäußert. Erst nach der erneuten Verhaftung seien dem Beschwerdeführer seine tatsächliche Situation und die hohe Straferwartung bewusst geworden. Die Verurteilung zu einer unerwartet hohen Strafe mache in Zusammenschau mit den umfangreichen Auslandskontakten und der zum Großteil verschwundenen Betrugsbeute von mehr als 830.000 € die Verhaftung erforderlich. Eine erneute Haftverschonung sei selbst gegen verschärfte Auflagen wegen fehlender Vertrauensgrundlage nicht vertretbar.
Mit der am 18. Mai 2012 eingelegten Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine unzutreffende Anwendung des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO durch die Fachgerichte, die zu einer Verletzung der aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG folgenden Freiheitsrechte sowie von Art. 20 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG und von Art. 3 Abs. 1 GG geführt hatte.
Das Bundesverfassungsgericht habe sich wiederholt zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen für die Anwendung von § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO geäußert. Den dabei entwickelten Maßstäben würden die angefochtenen Entscheidungen nicht gerecht. Diese hätten nur einseitig auf die Höhe der zu erwartenden Strafe abgestellt und nicht auch den vom Beschwerdeführer mit seinem Befolgen der Auflagen geschaffenen Vertrauenstatbestand berücksichtigt.
Dabei sei ihm eine Verurteilung zu einer erheblichen Freiheitsstrafe stets bewusst gewesen. So hätten sämtliche Haftentscheidungen den Haftgrund der Fluchtgefahr wegen der drohenden Straferwartung mit einer nicht mehr zur Bewährung aussetzbaren empfindlichen Freiheitsstrafe bejaht. Das Oberlandesgericht habe in der ersten Beschwerdeentscheidung vom 6. August 2010 ergänzend darauf hingewiesen, dass gegen den Beschwerdeführer nunmehr auch der Verdacht umfangreicher Steuerhinterziehungen bestehe.
Mit Erhebung der Anklage vor dem Landgericht habe die Staatsanwaltschaft zum Ausdruck gebracht, eine Freiheitsstrafe von über 4 Jahren beantragen zu wollen. Die Strafkammer habe durch die Zulassung der Anklage zu verstehen gegeben, eine entsprechende Verurteilung für wahrscheinlich zu halten. Dennoch sei der Beschwerdeführer zur Hauptverhandlung am 19. März 2012 erschienen.
In der ersten Besprechung habe die Strafkammer für den Fall eines Geständnisses eine Freiheitsstrafe von 4 Jahren und 6 Monaten angeboten und bei einer Verurteilung ohne Geständnis eine deutlich höhere Strafe angekündigt. Spätestens zu diesem Zeitpunkt habe sich das Risiko einer seit Beginn des Verfahrens im Raum stehenden Strafe so sehr verdichtet, dass der Beschwerdeführer nicht mehr auf einen günstigen Ausgang des Verfahrens habe vertrauen dürfen. Nach der am 19. März 2012 erfolgten Ablehnung des Angebots und dem Bestreiten der Vorwürfe habe er durch sein Erscheinen zum Fortsetzungstermin am 22. März 2012 dokumentiert, sich dem Verfahren und einer etwaigen Strafvollstreckung stellen zu wollen.
Auch die Kontakte ins Ausland und die ungeklärten Barauszahlungen in Höhe von mehreren hunderttausend Euro seien zum Zeitpunkt der Haftverschonung bekannt gewesen.
Soweit die Fachgerichte in ihren Entscheidungen auf das Aussageverhalten des Beschwerdeführers abstellten, würde dies gegen den aus Art. 20 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG folgenden Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit verstoßen.
Das Landgericht habe seine Nichtabhilfeentscheidung vom 29. März 2012 zudem auf eine sachfremde und damit willkürliche Erwägung gestützt. Die erfolgte Revisionseinlegung sei von der Kammer zur Bekräftigung einer angeblich fehlenden Vertrauensgrundlage für haftverschonende Maßnahmen herangezogen worden.
Das Bayerische Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hat von einer Stellungnahme abgesehen.
Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, soweit sie sich gegen die Beschlüsse des Oberlandesgerichts München vom 17. April 2012 und des Landgerichts Augsburg vom 22. März 2012 wendet, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist (§ 93b i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine der Verfassungsbeschwerde stattgebende Entscheidung der Kammer sind gegeben. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen zu Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden.
Die gegen die Nichtabhilfeentscheidung des Landgerichts Augsburg vom 29. März 2012 gerichtete Verfassungsbeschwerde nimmt das Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung an. Von einer Begründung wird insoweit abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).
Nach Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG darf in die in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Freiheit der Person nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen eingegriffen werden. Die formellen Gewährleistungen des Art. 104 GG stehen mit der materiellen Freiheitsgarantie des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in einem unlösbaren Zusammenhang (vgl. BVerfGE 10, 302 <322>; 58, 208 <220>; 105, 239 <247>). Art. 104 Abs. 1 GG nimmt den schon in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG enthaltenen Gesetzesvorbehalt auf und verstärkt ihn für alle Freiheitsbeschränkungen, indem er neben der Forderung nach einem förmlichen Gesetz die Pflicht, die sich aus diesem Gesetz ergebenden Formvorschriften zu beachten, zum Verfassungsgebot erhebt (vgl. BVerfGE 10, 302 <323>; 29, 183 <195>; 58, 208 <220>; 105, 239 <247>). Verstöße gegen die durch Art. 104 GG gewährleisteten Voraussetzungen und Formen freiheitsbeschränkender Gesetze stellen daher stets auch eine Verletzung der Freiheit der Person dar (BVerfGE 10, 302 <323>; 58, 208 <220>). Inhalt und Reichweite freiheitsbeschränkender Gesetze sind deshalb von den Gerichten so auszulegen und anzuwenden, dass sie eine der Bedeutung des Grundrechts angemessene Wirkung entfalten (vgl. BVerfGE 65, 317 <322 f.>; 96, 68 <97>; 105, 239 <247>; BVerfGK 12, 45 <52>).
Das in § 116 Abs. 4 StPO zum Ausdruck kommende Gebot, die Aussetzung des Vollzuges eines Haftbefehls durch den Richter nur dann zu widerrufen, wenn sich die Umstände im Vergleich zu der Beurteilungsgrundlage zur Zeit der Gewährung der Verschonung verändert haben, gehört zu den bedeutsamsten (Verfahrens-) Garantien, deren Beachtung Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG fordert und mit grundrechtlichem Schutz versieht (vgl. BVerfGK 6, 295 <299>; 7, 239 <247>; 12, 45 <52>).
Ist ein Haftbefehl einmal unangefochten außer Vollzug gesetzt worden, so ist jede neue haftrechtliche Entscheidung, die den Wegfall der Haftverschonung zur Folge hat, nur unter den einschränkenden Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 StPO möglich. Der erneute Vollzug des Haftbefehls durch den Richter kommt nach Nr. 3 jener Vorschrift nur dann in Betracht, wenn neu hervorgetretene Umstände die Verhaftung erforderlich machen. Dagegen kann eine lediglich andere Beurteilung des unverändert gebliebenen Sachverhalts einen Widerruf nicht rechtfertigen (vgl. BVerfGK 6, 295 <300>; 7, 239 <248>; 12, 45 <52>).
"Neu" im Sinne des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO sind nachträglich eingetretene oder nach Erlass des Aussetzungsbeschlusses bekannt gewordene Umstände nur dann, wenn sie die Gründe des Haftverschonungsbeschlusses in einem so wesentlichen Punkt erschüttern, dass keine Aussetzung bewilligt worden wäre, wenn sie bei der Entscheidung bereits bekannt gewesen wären. Das maßgebliche Kriterium für den Widerruf besteht mit anderen Worten in einem Wegfall der Vertrauensgrundlage der Aussetzungsentscheidung. Ob dies der Fall ist, erfordert vor dem Hintergrund der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) eine Beurteilung sämtlicher Umstände des Einzelfalls (vgl. BVerfGK 12, 45 <53>).
Dabei sind die Grenzen, innerhalb derer eine Haftverschonung wegen neu hervorgetretener Umstände widerrufen werden kann, nach der einschlägigen Rechtsprechung der Oberlandesgerichte eng gesteckt. Denn das Gericht ist an die Beurteilung der Umstände, auf denen die Aussetzung beruht, grundsätzlich gebunden. Lediglich eine nachträglich andere Beurteilung bei gleichbleibender Sachlage rechtfertigt den Widerruf nicht. Vielmehr ist angesichts der Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) die Schwelle für eine Widerrufsentscheidung grundsätzlich sehr hoch anzusetzen. Im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung stets zu berücksichtigen ist deshalb vor allem, dass der Angeklagte inzwischen Gelegenheit hatte, sein Verhalten gegenüber dem Strafverfahren zu dokumentieren (vgl. BVerfGK 7, 239 <249> m.w.N.).
Ein nach der Haftverschonung ergangenes (nicht rechtskräftiges) Urteil oder ein hoher Strafantrag der Staatsanwaltschaft können zwar geeignet sein, den Widerruf einer Haftverschonung und die Invollzugsetzung eines Haftbefehls zu rechtfertigen. Dies setzt jedoch voraus, dass von der Prognose des Haftrichters bezüglich der Straferwartung der Rechtsfolgenausspruch des Tatrichters oder die von der Staatsanwaltschaft beantragte Strafe erheblich zum Nachteil des Angeklagten abweicht und sich die Fluchtgefahr dadurch ganz wesentlich erhöht. Ob dies der Fall ist, ist durch Abwägung und Beurteilung sämtlicher Umstände des Einzelfalls zu ermitteln. Die insoweit heranzuziehenden Umstände müssen sich jeweils auf die Haftgründe beziehen. In Betracht kommen vor allem Fälle, in denen ein weiterer Haftgrund zu dem im Haftbefehl aufgeführten hinzutritt oder sich der dem Haftbefehl zugrunde liegende Haftgrund verschärft (vgl. BVerfGK 12, 45 <54> m.w.N.).
Vor dem Hintergrund, dass Inhalt und Reichweite freiheitsbeschränkender Gesetze so auszulegen und anzuwenden sind, dass sie eine der Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit angemessene Wirkung entfalten (vgl. BVerfGE 65, 317 <322 f.>; 96, 68 <97>; 105, 239 <247>), fordert die Anwendung des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO nachvollziehbare Feststellungen dazu, von welcher Straferwartung der Beschuldigte im Zeitpunkt der Außervollzugsetzung des Haftbefehls ausging. Bloße Mutmaßungen können insoweit nicht genügen. Selbst der Umstand, dass der um ein günstigeres Ergebnis bemühte Angeklagte infolge des Schlussantrages der Staatsanwaltschaft oder gar durch das Urteil selbst die Vergeblichkeit seiner Hoffnungen erkennen muss, kann einen Widerruf der Haftverschonung nicht rechtfertigen, sofern ihm die Möglichkeit eines für ihn ungünstigen Ausgangs während der Außervollzugsetzung des Haftbefehls stets vor Augen stand und er gleichwohl allen Auflagen beanstandungsfrei nachkam. Insoweit setzt sich der vom Angeklagten auf der Grundlage des Verschonungsbeschlusses gesetzte Vertrauenstatbestand (vgl. § 116 Abs. 4 Nr. 2 StPO) als Ausprägung der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung durch (vgl. BVerfGK 12, 45 <55 f.> m.w.N.).
Der erneute Vollzug des Haftbefehls aufgrund von § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO kommt auch in Betracht, wenn ein Beschuldigter unerwartet streng verurteilt wird oder wenn sonstige (auch zeitlich vor dem Aussetzungsbeschluss entstandene) schwerwiegende Tatsachen nachträglich bekannt werden, die das Gericht, hätte es sie im Zeitpunkt der Aussetzungsentscheidung gekannt, zur Ablehnung der Haftverschonung veranlasst hätten. War dagegen schon zu diesem Zeitpunkt mit der später ausgesprochenen - auch höheren - Strafe zu rechnen und hat der Beschuldigte die ihm erteilten Auflagen gleichwohl korrekt befolgt, liegt kein Fall des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO vor (vgl. BVerfGK 7, 239 <250>; 12, 45 <54>).
Selbst wenn die Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO vorliegen, bleibt infolge des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit stets zu prüfen, ob statt einer Rücknahme der Haftverschonung nicht mildere Mittel der Verfahrenssicherung - namentlich eine Verschärfung der Auflagen - in Betracht kommen könnte (vgl. BVerfGK 7, 239 <251>; 12, 45 <56>).
Diesen sich aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG ergebenden Anforderungen werden die angefochtenen Entscheidungen nicht gerecht. Weder das Landgericht noch das Oberlandesgericht lassen in ihren Ausführungen erkennen, dass nach dem beanstandungsfreien Verlauf einer Haftverschonung von einem Jahr und 8 Monaten neu hervorgetretene Umstände die Invollzugsetzung der Untersuchungshaft erforderlich gemacht haben.
1. Die Fachgerichte haben nicht dargelegt, weshalb der Strafausspruch des Landgerichts Augsburg vom 22. März 2012 von den Prognosen des Haftrichters und der Strafkammer in erheblicher Weise zum Nachteil dem Beschwerdeführer abweicht und sich dadurch die Fluchtgefahr ganz wesentlich erhöht hat. In den bis zum Urteil ergangenen Haftentscheidungen wurde dem Beschwerdeführer die Verurteilung zu einer nicht mehr zur Bewährung aussetzbaren empfindlichen oder erheblichen Freiheitsstrafe vor Augen geführt.
Vor dem Hintergrund, dass der Beschwerdeführer während der Zeit der Haftverschonung trotz des zu erwartenden langjährigen Freiheitsentzugs keinen Anlass für Beanstandungen gegeben hat, wäre eine umfangreiche Abwägung zwischen dem Gewicht der aus Sicht der Fachgerichte vorliegenden neuen Erkenntnisse und dem auf Seiten des Beschwerdeführers auf der Grundlage des Verschonungsbeschlusses gesetzten Vertrauenstatbestand geboten gewesen, an der es hier fehlt.
Zu dieser Abwägung bestand auch deshalb besondere Veranlassung, weil sich der Beschwerdeführer trotz der zwischenzeitlich am 1. Februar 2012 erfolgten Verurteilung durch das Amtsgericht München weiterhin auch dem vorliegenden Verfahren gestellt hat und zur Verhandlung erschienen ist. Hinzu kommt, dass die Strafkammer in der Besprechung vom 19. März 2012 für den Fall eines Geständnisses eine Straferwartung von 4 Jahren und 6 Monaten formuliert hat. Die nach der erneuten Inhaftierung in dem Gespräch vom 22. März 2012 angegebene Strafobergrenze von 4 Jahren und 10 Monaten stellt keine ins Gewicht fallende Abweichung dar und entspricht der letztlich ausgeurteilten Gesamtfreiheitsstrafe. Trotz der Ankündigung am 19. März 2012 war der Beschwerdeführer zum Fortsetzungstermin am 22. März 2012 erschienen, obwohl er infolge des Bestreitens der Vorwürfe mit einer ungleich höheren als der in Aussicht gestellten Strafe rechnen musste. Das haben Landgericht und Oberlandesgericht in ihre Abwägung nicht einbezogen.
2. Landgericht und Oberlandesgericht gehen zudem nur floskelhaft darauf ein, ob statt einer Rücknahme der Haftverschonung nicht mildere Mittel der Verfahrenssicherung - namentlich eine Verschärfung der Auflagen - in Betracht kommen.
3. Weil bereits die Rüge der Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 GG der Verfassungsbeschwerde in vollem Umfang zum Erfolg verhilft, kann offenbleiben, ob auch die weiteren Rügen zulässig und begründet wären. Mit ihnen hat der Beschwerdeführer kein weitergehendes Anfechtungsziel verfolgt.
Gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ist die Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 GG durch das Oberlandesgericht wie auch durch das Landgericht festzustellen.
Wegen der Eilbedürftigkeit der Haftsache ist es angezeigt, nach § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG nur den Beschluss des Oberlandesgerichts aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen. Es liegt im Interesse des Beschwerdeführers, möglichst rasch eine das Verfahren abschließende Entscheidung zu erhalten (vgl. BVerfGE 84, 1 <5>; 94, 372 <400>). Das Oberlandesgericht hat unverzüglich unter Berücksichtigung der angeführten Gesichtspunkte erneut eine Entscheidung über die weitere Beschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts vom 22. März 2012 herbeizuführen.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG. Da der nicht zur Entscheidung angenommene Teil der Verfassungsbeschwerde von untergeordneter Bedeutung ist, sind die Auslagen in vollem Umfang zu erstatten (vgl. BVerfGE 86, 90 <122>).
HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 658
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2013, 16
Bearbeiter: Holger Mann