HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 366
Bearbeiter: Holger Mann
Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvL 8/11, Beschluss v. 15.03.2012, HRRS 2012 Nr. 366
Die Verfahren werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.
Die Vorlagen sind unzulässig.
Die Vorlagen betreffen die Frage, ob die in § 30 Abs. 1 Nr. 4 des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) für die unerlaubte Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge vorgesehene Mindeststrafe mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
Das Betäubungsmittelgesetz sieht nach seiner derzeit geltenden Fassung für das unerlaubte Handeltreiben mit Betäubungsmitteln und die unerlaubte Einfuhr von Betäubungsmitteln folgende Strafrahmen vor:
1. Nach § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG werden das unerlaubte Handeltreiben mit Betäubungsmitteln und die unerlaubte Einfuhr von Betäubungsmitteln mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
2. Das unerlaubte Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge wird nach § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft. In minder schweren Fällen reicht der Strafrahmen von drei Monaten bis zu fünf Jahren (§ 29a Abs. 2 BtMG). § 29a Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 BtMG hat folgenden Wortlaut:
§ 29a Straftaten
(1) Mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr wird bestraft, wer
1. (...)
2. mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unerlaubt Handel treibt, sie in nicht geringer Menge herstellt oder abgibt oder sie besitzt, ohne sie auf Grund einer Erlaubnis nach § 3 Abs. 1 erlangt zu haben.
(2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren.
3. Die unerlaubte Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge wird nach § 30 Abs. 1 Nr. 4 BtMG mit Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren bestraft. In minder schweren Fällen reicht der Strafrahmen von drei Monaten bis zu fünf Jahren (§ 30 Abs. 2 BtMG). § 30 BtMG hat folgenden Wortlaut:
§ 30 Straftaten
(1) Mit Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren wird bestraft, wer
1. Betäubungsmittel unerlaubt anbaut, herstellt oder mit ihnen Handel treibt (§ 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1) und dabei als Mitglied einer Bande handelt, die sich zur fortgesetzten Begehung solcher Taten verbunden hat,
2. im Falle des § 29a Abs. 1 Nr. 1 gewerbsmäßig handelt,
3. Betäubungsmittel abgibt, einem anderen verabreicht oder zum unmittelbaren Verbrauch überläßt und dadurch leichtfertig dessen Tod verursacht oder
4. Betäubungsmittel in nicht geringer Menge unerlaubt einführt.
(2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren.
4. Mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren wird bestraft, wer bei der Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge als Mitglied einer Bande handelt, die sich zur fortgesetzten Begehung solcher Taten verbunden hat (§ 30a Abs. 1 BtMG). Ebenso wird bestraft, wer Betäubungsmittel in nicht geringer Menge einführt und dabei eine Schusswaffe oder sonstige Gegenstände mit sich führt, die ihrer Art nach zur Verletzung von Personen geeignet und bestimmt sind (§ 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG). In minder schweren Fällen reicht der Strafrahmen jeweils von sechs Monaten bis zu zehn Jahren (§ 30a Abs. 3 BtMG).
1. Im Ausgangsverfahren des Amtsgerichts Düren - 13 Ls-102 Js 39/11- 64/11 - legt die Staatsanwaltschaft dem Angeklagten zur Last, in Maastricht von einem unbekannten Auftraggeber 3.000 Gramm Marihuana übernommen zu haben, um dieses zu einem Parkplatz in Neuss zu bringen und dort an einen Abnehmer zu übergeben. Dafür habe der Angeklagte 500 Euro erhalten sollen. Bei einer Kontrolle des Fahrzeugs des Angeklagten auf der Bundesautobahn 44 sei das Marihuana sichergestellt worden. Dieser Sachverhalt wird in der Anklageschrift als unerlaubte Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge gewürdigt. Im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen ist ausgeführt, dass der Angeklagte den Abnehmer beschrieben und auf einem Lichtbild wiedererkannt habe. Aufgrund der Angaben des Angeklagten sei ein Ermittlungsverfahren gegen diese Person eingeleitet worden.
Nach Anklageerhebung erstattete das Landeskriminalamt Nordrhein- Westfalen ein Gutachten, wonach die sichergestellten Betäubungsmittel durchschnittlich 14,1 % und damit insgesamt 413 Gramm des Wirkstoffs Tetrahydrocannabinol (entspricht 27.550 Konsumeinheiten) enthalten.
Das Amtsgericht eröffnete das Hauptverfahren mit Beschluss vom 26. April 2011.
Ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls begann die Hauptverhandlung am 5. Mai 2011 um 14.30 Uhr. Nach Aufruf der Sache stellte der Vorsitzende die Anwesenheit des Angeklagten und seines Verteidigers fest. Weiter heißt es: "Nach ausgiebiger Erörterung weist das Gericht darauf hin, dass es gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 30 Abs. 1 Nr. 4 BtMG Bedenken hat im Hinblick auf den Umstand, dass die Grenzen in einem zusammenwachsenden Europa kaum noch eine Rolle spielen und es deshalb als willkürlich erscheint, dass der Grenzübertritt zu einer Mindestfreiheitsstrafe von zwei Jahren führt." Das Protokoll enthält einen Beschluss, wonach das Verfahren ausgesetzt wird und die Sache dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt werden soll. Die Hauptverhandlung endete um 14.45 Uhr.
Mit Verfügung vom 8. September 2011 hat das Amtsgericht die Akten an das Bundesverfassungsgericht übersandt. In dieser Verfügung ist die Vorlage weiter begründet worden.
2. Im Ausgangsverfahren des Amtsgerichts - 13 Ls-105 Js 65/11-66/11 - legt die Staatsanwaltschaft dem Angeklagten zur Last, in Simpelveld/Niederlande von einem unbekannten Auftraggeber 3.876 Gramm Marihuana übernommen zu haben, um dieses zu einem Parkplatz in Neuss zu bringen und dort an einen gesondert verfolgten Abnehmer zu übergeben. Dafür habe der Angeklagte 300 Euro erhalten sollen. Bei einer Kontrolle des Fahrzeugs des Angeklagten auf der Bundesautobahn 44 sei das Marihuana sichergestellt worden. Dieser Sachverhalt wird in der Anklageschrift als unerlaubte Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge gewürdigt. Im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen ist ausgeführt, dass der Angeklagte den gesondert verfolgten Abnehmer identifiziert und Angaben zu weiteren an ihn erfolgten Lieferungen von Marihuana gemacht habe.
Das Amtsgericht eröffnete das Hauptverfahren mit Beschluss vom 2. Mai 2011.
Nach Anklageerhebung erstattete das Landeskriminalamt Nordrhein- Westfalen ein Gutachten, wonach die sichergestellten Betäubungsmittel durchschnittlich 17,9 % und damit insgesamt 677 Gramm des Wirkstoffs Tetrahydrocannabinol (entspricht 45.100 Konsumeinheiten) enthalten.
Ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls begann die Hauptverhandlung am 9. Juni 2011 um 12.20 Uhr. Nach Aufruf der Sache stellte der Vorsitzende die Anwesenheit des Angeklagten und seiner Verteidiger sowie weiterer Verfahrensbeteiligter fest. Weiter heißt es: "Mit den hier anwesenden Personen (...) wird die Sach- und Rechtslage erörtert. Das Gericht vertritt die Auffassung, dass die Verfassungsmäßigkeit des § 30 Abs. 1 Nr. 4 BtMG zweifelhaft ist und es deshalb erwägt, das Verfahren auszusetzen und gemäß Art. 100 GG dem Bundesverfassungsgericht im Normenkontrollverfahren vorzulegen. Der Vertreter der Staatsanwaltschaft hält die Vorschrift für verfassungsgemäß und beantragt im Falle der Vorlage, den Haftbefehl im Hinblick auf die zu erwartende Freiheitsstrafe aufrechtzuerhalten. (...) 12.35 Uhr: Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück. 12.40 Uhr wird die Sitzung fortgesetzt." Weiter ergibt sich aus dem Protokoll ein Beschluss, wonach das Verfahren "gem. Artikel 100 GG ausgesetzt [wird], um § 30 Abs. 1 Nr. 4 BtMG auf die Verfassungsmäßigkeit hin überprüfen zu lassen". Die Hauptverhandlung endete um 12.45 Uhr.
Mit Verfügung vom 6. Oktober 2011 hat das Amtsgericht die Akten an das Bundesverfassungsgericht übersandt. In dieser Verfügung ist die Vorlage weiter begründet worden.
3. Die Begründungen in den Übersendungsverfügungen stellen jeweils zunächst den Anklagevorwurf und das Ergebnis der Wirkstoffuntersuchungen durch das Landeskriminalamt dar.
Darüber hinaus sind die Begründungen der Vorlagen im Wesentlichen identisch. Bei der Vorbesprechung der Hauptverhandlung seien die erkennenden Richter zu dem Ergebnis gekommen, dass die Vorschrift des § 30 Abs. 1 Nr. 4 BtMG mit einer Mindestfreiheitsstrafe von zwei Jahren nicht mehr verfassungsgemäß sei. Diese Zweifel rührten insbesondere aus der Kenntnis von der Ausgestaltung der Grenzen im Landgerichtsbezirk Aachen her. So sei die Grenze zwischen den Niederlanden und der Bundesrepublik Deutschland in Herzogenrath zum Beispiel nur durch einen weißen Strich auf der Fahrbahn gekennzeichnet. Es erscheine nicht einleuchtend, dass der Drogenhändler, der jenseits dieser Grenze auf deutschem Boden mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge handle, gemäß § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG mit einer Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft werde, während der Händler, der zuvor einen Schritt über die weiße Markierung der Grenze setze und sich das Rauschgift auf niederländischem Gebiet besorge, mit mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe bestraft werden solle. In der Regel führe dies dazu, dass die Freiheitsstrafe nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden könne. Die zu verhängende Strafe erscheine deshalb nicht als gerechter Schuldausgleich, insbesondere im Vergleich zur möglichen Strafe für den inländischen Täter. Die Straferhöhung allein aufgrund des Grenzübertritts erscheine als willkürlich. In der Literatur werde als Grund für die Mindeststrafe von nicht unter zwei Jahren ausgeführt, dass es sich bei den Verbrechenstatbeständen des § 30 Abs. 1 BtMG um besonders gefährliche und verabscheuungswürdige Angriffe gegen die Volksgesundheit handle. Dies möge für die in § 30 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 BtMG geregelten Tatbestände zutreffen; mit dem Grenzübertritt seien diese Tatbestände jedoch nicht zu vergleichen. Das Überschreiten der Grenze erfordere keine besondere kriminelle Energie. Weder psychisch noch physisch sei bei einem Grenzübertritt innerhalb der Staaten des Schengener Abkommens eine Barriere zu überwinden.
Es entspreche dem Willen aller Staaten der Europäischen Union, diese nicht nur zu einem gemeinsamen Wirtschaftsraum, sondern auch zu einem gemeinsamen Rechtsraum auszubauen. Dementsprechend verlören die Grenzen zunehmend an Bedeutung, zum Beispiel werde Einfuhrumsatzsteuer an den Außengrenzen der Europäischen Union erhoben, nicht aber an der Grenze zwischen den Niederlanden und der Bundesrepublik Deutschland. Auch die Regelungen zum europäischen Haftbefehl zeigten, dass nationale Grenzen überwunden werden sollten. Grenznahe Städte versuchten, durch grenzüberschreitende Zusammenarbeit die Grenzen zu überwinden. Soweit die Literatur als Strafgrund auf die Erfahrung hinweise, dass der inländische Rauschgiftmarkt im Wesentlichen durch Einfuhr versorgt werde, differenziere sie nicht zwischen Schengen-Staaten und anderen Staaten. Auch sei die angebliche Erfahrung nicht belegt. Eine Strafschärfung allein an den Grenzübertritt zwischen den Niederlanden und der Bundesrepublik Deutschland anzuknüpfen, entspreche altem nationalstaatlichen Denken; mit dem Gedanken eines einheitlichen Wirtschafts- und Rechtsraums in der Europäischen Union sei dies nicht mehr zu vereinbaren.
Das Amtsgericht sehe sich an der Vorlage nicht gehindert durch den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 9. März 1994 (BVerfGE 90, 145). Dem in diesem Rahmen entschiedenen Vorlageverfahren habe zugrunde gelegen, dass der Angeklagte Haschisch auf dem Luftweg von Katmandu nach Frankfurt eingeführt habe. Der vorliegende Fall unterscheide sich dadurch, dass hier die Grenze zwischen den Niederlanden und der Bundesrepublik Deutschland, beides Staaten, die dem Schengener Abkommen angehörten, überschritten worden sei.
Eine verfassungskonforme Auslegung des § 30 BtMG, die das Gericht bisher in Fällen der Einfuhr durch Annahme eines minder schweren Falles vorgenommen habe, scheide vorliegend aus. Selbst bei Annahme eines Geständnisses des Angeklagten in der Hauptverhandlung und unter Berücksichtigung des Umstands, dass er eine weiche Droge eingeführt habe und das Rauschgift sichergestellt worden sei, könne im Hinblick auf die Menge des Rauschgifts nicht von einem minder schweren Fall gesprochen werden. Eine verfassungskonforme Auslegung durch Annahme eines minder schweren Falls lasse auch außer Acht, dass die Strafandrohung von mindestens zwei Jahren auf die Beteiligten faktisch Druck ausübe. Regelmäßig gingen Beschuldigte unter Hinweis auf die Strafandrohung auf Antrag der Staatsanwaltschaft in Untersuchungshaft, sofern es sich um Beschuldigte mit Wohnsitz im Ausland handle. Regelmäßig stelle die Staatsanwaltschaft einen Strafantrag von über zwei Jahren; auch im vorliegenden Fall wehre sich die Staatsanwaltschaft vehement gegen die Annahme eines minder schweren Falls. Die Schöffen in der Hauptverhandlung davon zu überzeugen, in verfassungskonformer Auslegung im Widerspruch zum Wortsinn und den Anträgen der Staatsanwaltschaft von einem minder schweren Fall auszugehen, gelinge nicht immer. Die Folge sei eine Ungleichbehandlung, die nicht auf Sachgründen, sondern auf Zufall beruhe.
Die Vorlagen sind unzulässig.
In einem Normenkontrollverfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG muss die Begründung der Vorlage angeben, inwiefern die Entscheidung des vorlegenden Gerichts von der Gültigkeit der Rechtsvorschrift abhängt und mit welcher übergeordneten Rechtsnorm sie unvereinbar ist (§ 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG). Die Begründung der Vorlage muss aus sich heraus verständlich sein. Das vorlegende Gericht hat den für die rechtliche Beurteilung wesentlichen Sachverhalt und die rechtlichen Erwägungen erschöpfend darzulegen. Es muss mit hinreichender Deutlichkeit erkennen lassen, dass es bei Gültigkeit der Vorschrift zu einem anderen Ergebnis kommen würde als im Fall ihrer Ungültigkeit und wie es dieses Ergebnis begründen würde (vgl. BVerfGE 68, 311 <316>; 77, 259 <261>; 83, 111 <116>; 107, 59 <85>; 124, 251 <260>).
Diesen Anforderungen genügen die Begründungen der Vorlagen sowohl hinsichtlich der Entscheidungserheblichkeit (1.) als auch hinsichtlich der Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit (2.) nicht.
1. Aus den Begründungen der Vorlagen ergibt sich nicht, dass die Verfassungsmäßigkeit der Mindeststrafe des § 30 Abs. 1 Nr. 4 BtMG in den Ausgangsverfahren entscheidungserheblich ist.
a) Das vorlegende Gericht hat den Sachverhalt so weit aufzuklären und darzustellen, dass die Entscheidungserheblichkeit feststeht und beurteilt werden kann (vgl. BVerfGE 17, 135 <137 ff.>; 18, 186 <192>; 51, 161 <164>; 58, 153 <157 f.>; 64, 251 <254>; 66, 265 <268 f.>; 69, 185 <187>; 80, 68 <71>). Soweit nach der geltenden Verfahrensordnung Voraussetzung für die zu treffende Entscheidung eine förmliche Beweisaufnahme ist, muss diese durchgeführt werden (vgl. BVerfGE 11, 330 <334>; 47, 146 <152 ff.>; 50, 108 <113 f.>; 58, 153 <157 f.>; 77, 364 <368 f.>; 79, 256 <265>; zur Hauptverhandlung im Strafverfahren BVerfGE 25, 269 <276>; 35, 303 <306>; 51, 401 <403 f.>; 71, 206 <208 f., 213>; 80, 68 <71>).
b) Danach hätte das Amtsgericht die Hauptverhandlung vollständig durchführen müssen. Nur auf dieser Grundlage könnte es beurteilen, ob sich die Angeklagten strafbar gemacht haben und welche Vorschriften gegebenenfalls für den Schuld- und Strafausspruch anzuwenden sind (vgl. § 244 Abs. 2, § 261 StPO). Darüber hinaus hätte das Amtsgericht auf der Grundlage ausreichender tatsächlicher Feststellungen und vollständiger Strafzumessungserwägungen alternativ und konkret darlegen müssen, welche unterschiedlichen Strafen es bei Geltung des § 30 Abs. 1 Nr. 4 BtMG einerseits und bei Anwendung eines stattdessen heranzuziehenden Strafrahmens andererseits festgesetzt hätte.
2. Das Amtsgericht hat seine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit des § 30 Abs. 1 Nr. 4 BtMG unzureichend begründet.
a) Die Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit der zur Prüfung gestellten Norm muss näher begründet werden. Das vorlegende Gericht hat den verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab anzugeben und die für seine Überzeugung maßgebenden Erwägungen nachvollziehbar und umfassend darzulegen (vgl. BVerfGE 76, 100 <104>; 77, 259 <261>; 78, 165 <171 f.>; 81, 275 <277>; 86, 52 <57>; 88, 70 <74>; 88, 198 <201>; 99, 300 <314>). Insoweit bedarf es eingehender Rechtsprechung und Schrifttum einbeziehender Darlegungen (vgl. BVerfGE 89, 329 <337>). Gegebenenfalls muss das vorlegende Gericht auch die Entstehungsgeschichte der Norm und die Erwägungen des Gesetzgebers berücksichtigen (vgl. BVerfGE 77, 259 <262>; 78, 201 <204>; 81, 275 <277>; 86, 71 <77>; 88, 70 <74>; 92, 277 <312>).
b) Das Amtsgericht hat § 30 Abs. 1 Nr. 4 BtMG nicht an verfassungsrechtlichen Maßstäben gemessen (aa). Zudem sind die Erwägungen des Gesetzgebers und die daran anknüpfende obergerichtliche Rechtsprechung unzureichend berücksichtigt worden (bb).
aa) Aus den Vorlagebeschlüssen ergibt sich zwar, dass die Mindeststrafe des § 30 Abs. 1 Nr. 4 BtMG unvereinbar mit dem Schuldgrundsatz und dem Gleichheitssatz sein soll. Mit den sich aus diesen Gewährleistungen ergebenden verfassungsrechtlichen Anforderungen (1) setzen sich die Vorlagebeschlüsse jedoch nicht auseinander (2).
(1) Aus dem Schuldgrundsatz und aus dem Gleichheitssatz ergeben sich Anforderungen an die gesetzliche Ausgestaltung von Strafandrohungen.
(a) Im Bereich staatlichen Strafens folgt aus dem Schuldgrundsatz, der sich aus der Garantie der Würde und Eigenverantwortlichkeit des Menschen (Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG) sowie aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) ergibt, und aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass die Schwere einer Straftat und das Verschulden des Täters zu der Strafe in einem gerechten Verhältnis stehen müssen. Eine Strafandrohung darf nach Art und Maß dem unter Strafe stehenden Verhalten nicht schlechthin unangemessen sein. Tatbestand und Rechtsfolge müssen sachgerecht aufeinander abgestimmt sein (vgl. BVerfGE 6, 389 <439>; 20, 323 <331>; 34, 261 <267>; 45, 187 <259 f.>; 50, 125 <133>; 54, 100 <108>; 73, 206 <253>; 75, 1 <16>; 80, 244 <255>; 86, 288 <313>; 90, 145 <173>; 92, 277 <326 f.>; 105, 135 <153>). Wo die Tat verschiedene Grade des Verschuldens und der Schwere aufweisen kann, muss dem Richter grundsätzlich die Möglichkeit gelassen werden, die Strafe dem anzupassen. Der Richter darf nicht dazu gezwungen sein, eine Strafe zu verhängen, die nach seiner aufgrund der getroffenen Feststellungen gewonnenen Überzeugung der Schuld des Täters nicht angemessen wäre (vgl. BVerfGE 45, 187 <260>; 54, 100 <108 f.>; 105, 135 <154>).
Es ist grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, den Bereich strafbaren Handelns unter Berücksichtigung der jeweiligen Lage im Einzelnen verbindlich festzulegen. Das Bundesverfassungsgericht kann dessen Entscheidung nicht darauf prüfen, ob er die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung gefunden hat. Es hat lediglich darüber zu wachen, dass die Strafvorschrift materiell in Einklang mit dem Grundgesetz steht (vgl. BVerfGE 80, 244 <255>; 90, 145 <173>; 110, 226 <262>). Dies gilt auch für das Mindestmaß der Strafe, die der Gesetzgeber für die Begehung einer Straftat androht (vgl. BVerfGE 34, 261 <266>; 50, 125 <138>). Es steht dem Gesetzgeber grundsätzlich frei, Art und Mindestmaß der Strafe zu bestimmen, die er für die Begehung einer Strafe androht. Er kann also den Richter auch insoweit binden, als er ihm vorschreibt, dass er bei einer Verurteilung nicht unter eine bestimmte Mindesthöhe der Strafe gehen darf (vgl. BVerfGE 34, 261 <266>; 50, 125 <138>).
Die Festlegung eines Strafrahmens beruht auf einem nur in Grenzen rational begründbaren Akt gesetzgeberischer Wertung. Welche Sanktion für eine Straftat - abstrakt oder konkret - angemessen ist und wo die Grenzen einer an der Verfassung orientierten Strafandrohung zu ziehen sind, hängt von einer Fülle von Wertungen ab (vgl. BVerfGE 27, 18 <29>; 50, 125 <140>). Das Grundgesetz gesteht dem Gesetzgeber bei der Normierung von Strafdrohungen einen weiten Gestaltungsspielraum zu. Dem trägt das Bundesverfassungsgericht bei der inhaltlichen Überprüfung gesetzlicher Strafandrohungen Rechnung. Es kann in solchen Fällen einen Verstoß gegen den Schuldgrundsatz und das Übermaßverbot nur dann feststellen, wenn die gesetzliche Regelung - gemessen an der Idee der Gerechtigkeit - zu schlechthin untragbaren Ergebnissen führt (vgl. BVerfGE 50, 125 <140>). Zur Vermeidung unverhältnismäßiger Sanktionen wird es in der Regel genügen, dass der Gesetzgeber dem Richter die Verhängung schuldangemessener Strafen innerhalb eines entsprechenden Strafrahmens bei der Strafzumessung ermöglicht (vgl. BVerfGE 34, 261 <267>; 45, 187 <260, 261 ff.>; 50, 205 <215 f.>; 73, 206 <254>; 105, 135 <164>).
(b) Auch im Bereich des materiellen Strafrechts kann dem Gesetzgeber grundsätzlich nicht entgegengehalten werden, dass eine andere Regelung möglicherweise zweckmäßiger oder gerechter wäre. Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG liegt nur vor, wenn sich für eine tatbestandliche Differenzierung ein sachlich einleuchtender Grund nicht finden lässt (vgl. BVerfGE 4, 352 <355 f.>; 34, 261 <266 f.>; 47, 109 <124>; 50, 142 <161 f.>; 71, 206 <221 f.>; 90, 145 <195 f.>).
(2) Mit diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben haben sich die Vorlagebeschlüsse in keinster Weise auseinandergesetzt.
bb) Das Amtsgericht hat sich zudem unzureichend mit den Erwägungen des Gesetzgebers und der daran anknüpfenden obergerichtlichen Rechtsprechung auseinandergesetzt.
(1) Die Einfuhr von Betäubungsmitteln als Anknüpfungspunkt für einen erhöhten Strafrahmen ist im Gesetzgebungsverfahren und in der Rechtsprechung bereits thematisiert worden.
(a) § 30 Abs. 1 Nr. 4 und Abs. 2 BtMG entspricht im Wesentlichen der Vorgängerschrift des § 30 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 BtMG a.F., die durch das Gesetz zur Neuordnung des Betäubungsmittelrechts vom 28. Juli 1981 (BGBl I S. 681, ber. S. 1187) eingeführt wurde. Im damaligen Gesetzgebungsverfahren war der vom Amtsgericht beanstandete Strafrahmen Diskussionsgegenstand. Die Bundesregierung führte zu dem von ihr vorgeschlagenen § 29 Abs. 1 Nr. 4 BtMG aus, dass die illegale Einfuhr von Rauschgift in das Bundesgebiet in weit überwiegendem Maße die Voraussetzungen für die inländische Rauschgiftszene schaffe (vgl. BTDrucks 8/3551, S. 37). Der Bundesrat schlug in seiner Stellungnahme vor, die Vorschrift aus dem Entwurf zu streichen, da unterschiedliche Strafrahmen für Handeltreiben und Einfuhr nicht gerechtfertigt seien und zudem das Handeltreiben als die strafwürdigere Begehungsform erscheine (vgl. BTDrucks 8/3551, S. 45). In der Gegenäußerung der Bundesregierung hieß es (BTDrucks 8/3551, S. 53): "§ 29 Abs. 1 Nr. 4 hat seinen ausreichenden sozialethischen Grund in der Tatsache, dass der inländische illegale Rauschgiftmarkt zum weit überwiegenden Teil durch die Einfuhr versorgt wird. Die präventive strafgesetzliche Einwirkung muss deshalb zweckmäßig an dieser Stelle einsetzen. Die Vorschrift ist die wichtigste strafrechtliche Maßnahme gegen die ‚Überschwemmung' des Bundesgebietes mit Rauschgift. Dem Vorschlag, sie zu streichen, muss deshalb entgegengetreten werden." Im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens wurde die Frage nicht weiter erörtert und die von der Bundesregierung vorgeschlagene Fassung beschlossen (vgl. weiter Rahlf, in: Münchener Kommentar zum StGB, Bd. 5 Nebenstrafrecht I, 2007, Vor §§ 29a ff. BtMG Rn. 6 f.).
(b) Dies hat Niederschlag in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gefunden (vgl. BGHSt 31, 163 <168>; 34, 180 <183>). Ausgehend von dem im Gesetzgebungsverfahren zum Ausdruck gekommenen Strafzweck müsse im Einzelfall besonders sorgfältig geprüft werden, ob ein minder schwerer Fall vorliege. Dies gelte insbesondere für die Einfuhr von zum Eigenverbrauch bestimmten Betäubungsmitteln in nicht besonders großer Menge (vgl. BGHSt 31, 163 <169>; BGH, Beschluss vom 3. August 2000 - 4 StR 287/00 -, StV 2000, S. 621).
(2) Die Begründungen der Vorlagen gehen auf diese Gesichtspunkte nicht hinreichend ein. Der Hinweis des Amtsgerichts auf einen gemeinsamen Wirtschafts- und Rechtsraum sowie die grenzüberschreitende Zusammenarbeit lässt nicht erkennen, warum es kein legitimes Ziel (mehr) sein sollte, nach Möglichkeit bereits die illegale Betäubungsmitteleinfuhr zu verhindern. Gerade der grenzüberschreitende Betäubungsmittelhandel ist Gegenstand internationaler Abkommen (vgl. BVerfGE 75, 1 <17 f.>; 90, 145 <192>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 4. März 1994 - 2 BvR 2037/93 -, NJW 1994, S. 2884). Der Umstand, dass das Überschreiten von Grenzen im Schengen-Raum "keine besondere kriminelle Energie erfordert", ist offenkundig ungeeignet, die Zielsetzung des Gesetzgebers in Frage zu stellen; eher spricht dieser Umstand für als gegen einen erhöhten Strafrahmen zur Bekämpfung der illegalen Einfuhr von Betäubungsmitteln. Ebenfalls unzureichend ist der weitere Hinweis, die "angebliche Erfahrung", dass der inländische Drogenmarkt im Wesentlichen durch Einfuhr versorgt werde, sei "nicht belegt". Die Begründung einer Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG kann sich nicht auf die Beanstandung beschränken, die Prämissen des Gesetzgebers seien nicht verifiziert worden. Vielmehr obliegt dem vorlegenden Gericht die Darlegung, dass die Erwägungen des Gesetzgebers auf unzutreffenden und für die verfassungsrechtliche Beurteilung erheblichen Annahmen beruhen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 366
Bearbeiter: Holger Mann