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HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 310

Bearbeiter: Stephan Schlegel

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 2111/07, Beschluss v. 04.03.2008, HRRS 2008 Nr. 310


BVerfG 2 BvR 2111/07, 2 BvR 2112/07 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 4. März 2008 (LG Braunschweig)

Beschwerde gegen längere Zeit zurückliegende Ermittlungsmaßnahmen (Abfrage von Telekommunikationsverbindungsdaten; Rechtsschutzbedürfnis; Treu und Glauben; Verwirkung); Anspruch auf effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz.

Art. 19 Abs. 4 GG; § 304 StPO; § 100g StPO a.F.; § 100h StPO a.F.; § 242 BGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Mit dem aus Art. 19 Abs. 4 GG zu entnehmenden Grundrecht auf effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt ist es vereinbar, die Rechtsschutzgewährung von einem vorhandenen und fortbestehenden Rechtsschutzbedürfnis abhängig zu machen.

2. Bei der Einlegung einer Beschwerde innerhalb von einem Jahr nach Bekanntwerden einer Ermittlungsmaßnahme nach den §§ 100g, 100h StPO a.F. und innerhalb von neun Monaten nach Einstellung des Verfahrens nach § 170 Abs. 2 StPO kann noch nicht von der Verwirkung des Rechtsschutzbedürfnisses ausgegangen werden. (Abgrenzung zu BVerfG NJW 2003, 1514)

3. Der formlose Rechtsbehelf der Gegenvorstellung gehört nicht zum Rechtsweg nach § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG.

Entscheidungstenor

Die Verfahren werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.

Der Beschluss des Landgerichts Braunschweig vom 28. August 2007 - 8 Qs 168, 8 Qs 169, 8 Qs 172/06 - verletzt den Beschwerdeführer zu 1. in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes.

Der Beschluss des Landgerichts Braunschweig vom 28. August 2007 - 8 Qs 170, 8 Qs 171, 8 Qs 173 + 8 Qs 174/06 - verletzt die Beschwerdeführerin zu 2. in ihrem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes.

Die Beschlüsse werden aufgehoben. Die Sachen werden an das Landgericht Braunschweig zurückverwiesen.

Das Land Niedersachsen hat den Beschwerdeführern die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe

Die Verfassungsbeschwerden betreffen die Frage, unter welchen Voraussetzungen wegen eines fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses von der gerichtlichen Überprüfung der Rechtmäßigkeit erledigter strafprozessualer Ermittlungsmaßnahmen abgesehen werden darf.

I.

1. Der Beschwerdeführer zu 1. ist Polizeibeamter bei der Polizeiinspektion W., die Beschwerdeführerin zu 2. ist Journalistin bei der W. Der Beschwerdeführer zu 1. war im Sommer 2003 als Einsatzbeamter im Streifendienst mit der Erstaufnahme eines Raubüberfalls auf ein Sportgeschäft in W. befasst. Über diesen Raubüberfall berichtete die Beschwerdeführerin zu 2. in zwei Artikeln in der W. vom 29. Juli 2003 und vom 28. August 2003, wobei sie diverse Ungereimtheiten in dem Ermittlungsverfahren sowie den Ermittlungsergebnissen aufdeckte, die nach Einschätzung der Polizei W. nur den unmittelbar Verfahrensbeteiligten bekannt gewesen sein dürften. Am 11. September 2003 wurde ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Verletzung des Dienstgeheimnisses nach § 353b StGB zunächst gegen unbekannt eingeleitet, das sich später gegen den Beschwerdeführer zu 1. sowie einen weiteren Kollegen richtete. Mit Verfügung vom 10. März 2004 wurde die Beschwerdeführerin zu 2. als weitere Beschuldigte wegen des Verdachts der Anstiftung zum Verrat von Dienstgeheimnissen und des Verstoßes gegen das Niedersächsische Datenschutzgesetz sowie der Bestechung eingetragen.

2. Mit Beschlüssen vom 9. Oktober 2003 ordnete das Amtsgericht in dem noch gegen Unbekannt gerichteten Ermittlungsverfahren die Herausgabe der Telekommunikationsverbindungsdaten des Mobiltelefons sowie des privaten Festnetzanschlusses der Beschwerdeführerin zu 2. an. Es bestehe der Verdacht, dass die Beschwerdeführerin zu 2. einen bisher noch nicht ermittelten Polizeibeamten dazu angehalten habe, mutmaßlich gegen Entgelt Dienstgeheimnisse zu verraten, um sie vor anderen Printmedien veröffentlichen zu können.

3. Nachdem festgestellt worden war, dass die Beschwerdeführerin zu 2. vermehrt mit der Polizeiinspektion W. telefoniert hatte und mit dem Beschwerdeführer zu 1. per SMS Kontakt aufgenommen hatte, richteten sich die Ermittlungen gegen den Beschwerdeführer zu 1. und einen weiteren Kollegen. Um einen Tatnachweis zu erbringen, sollte eine "Köderfalle" in Form eines echten Ermittlungsverfahrens, das gezielt mit Falschinformationen angereichert worden war, in der Zeit vom 9. Februar bis 12. Februar 2004 im Polizeirevier ausgelegt werden.

Zur Überprüfung der Reaktion der Beschuldigten auf die Köderfalle ordnete das Amtsgericht mit Beschlüssen vom 9. Februar 2004 die Herausgabe der Telekommunikationsverbindungsdaten des privaten Mobilfunk- und Festnetzanschlusses des Beschwerdeführers zu 1. sowie des privaten Mobilfunk- und Festnetzanschlusses der Beschwerdeführerin zu 2. für die Zeit vom 9. Februar bis 12. Februar 2004 an.

Mit weiterem Beschluss vom 9. Februar 2004 ordnete das Amtsgericht zudem die Durchsuchung der Privatwohnungen beider Beschwerdeführer an. Dieser Beschluss wurde jedoch zu keinem Zeitpunkt vollzogen.

4. Mit Schreiben vom 18. April 2005 wurde beiden Beschwerdeführern gemäß § 101 Abs. 1 StPO mitgeteilt, dass Maßnahmen nach §§ 100g, 100h StPO gegen sie ergriffen worden seien.

Das Ermittlungsverfahren wurde am 25. Juli 2005 nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt, weil ein Tatnachweis nicht erbracht werden konnte.

5. Der Beschwerdeführer zu 1. legte am 27. April 2006 Beschwerde gegen die Beschlüsse des Amtsgerichts vom 9. Februar 2004 betreffend die Erhebung der Telekommunikationsverbindungsdaten und die Anordnung der Durchsuchung seiner Wohnung ein. Die Beschwerdeführerin zu 2. legte am 28. April 2006 Beschwerde gegen die Beschlüsse des Amtsgerichts vom 9. Oktober 2003 und vom 9. Februar 2004 jeweils betreffend die Erhebung ihrer Telekommunikationsverbindungsdaten ein.

6. Mit angegriffenen, im Wesentlichen gleichlautenden Beschlüssen vom 28. August 2007 (Az. 8 Qs 168, 169, 172/06 betreffend den Beschwerdeführer zu 1. und Az. 8 Qs 170, 171, 173, 174/06 betreffend die Beschwerdeführerin zu 2.) verwarf das Landgericht die Beschwerden beider Beschwerdeführer als unzulässig.

Zwar beseitige allein die prozessuale Überholung der angeordneten Maßnahmen die Beschwer der Beschwerdeführer nicht, da es sich um schwerwiegende Grundrechtseingriffe handle. Dies gelte auch, soweit sich der Beschwerdeführer zu 1. gegen die Durchsuchungsanordnung wende, obwohl sie tatsächlich nicht vollzogen worden sei. Denn allein die Anordnung der Durchsuchung stelle einen massiven Grundrechtseingriff dar.

Allerdings habe das Rechtsschutzbedürfnis beider Beschwerdeführer bei Beschwerdeeinlegung nicht mehr bestanden. Die Beschwerdeführer seien mit Schreiben vom 18. April 2005 umfassend darüber unterrichtet worden, welche sie betreffenden Telekommunikationsverbindungsdaten ermittelt worden seien. Erst ein Jahr nach der Unterrichtung über die Erhebung der Telekommunikationsverbindungsdaten und neun Monate nach Einstellung des Verfahrens hätten die Beschwerdeführer jeweils gesondert Beschwerde eingelegt. Sie seien damit bei einer Sachlage untätig geblieben, bei deren Vorliegen vernünftigerweise etwas zur Wahrnehmung des Rechts unternommen werde. Damit verstoße die verspätete Einlegung des Rechtsmittels gegen das auch im Prozessrecht geltende Gebot von Treu und Glauben und das Verbot des Missbrauchs prozessualer Rechte. Das Interesse an der Wahrung des Rechtsfriedens verlange in einem derartigen Fall, die Anrufung der Gerichte nach langer Zeit untätigen Zuwartens als unzulässig anzusehen, so dass auch ein an sich unbefristeter Antrag nicht nach Belieben hinausgezögert oder verspätet gestellt werden dürfe (Hinweis auf Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Dezember 2002 - 2 BvR 1660/02 -, NJW 2003, S. 1514 f.). Auch der von der Beschwerdeführerin zu 2. behauptete Versuch, mit Hilfe ihres Arbeitgebers durch entsprechende Vorstellungen beim Niedersächsischen Innen- und beim Niedersächsischen Justizministerium die Angelegenheit auf nichtförmlichem Wege zu erledigen, habe das Rechtsschutzbedürfnis der Beschwerdeführer nicht aufrechtzuerhalten vermocht. Zum einen seien diese Bemühungen nicht belegt und zum anderen wären sie nicht geeignet gewesen, das von den Beschwerdeführern nunmehr verfolgte Rechtsschutzziel zu erreichen. Die Beschwerdeführer strebten die Feststellung der Rechtswidrigkeit der angefochtenen Beschlüsse an. Dieses Ziel wäre aber durch Vorstellungen bei den Ministerien nicht erreichbar gewesen, da diese aufgrund der Gewaltenteilung keine Möglichkeit hätten, eine gerichtlich angeordnete Maßnahme für rechtmäßig oder rechtswidrig zu erklären. Die Beschwerdeführer hätten vielmehr parallel zu den Bemühungen bei Justiz- und Innenministerium Beschwerde einlegen müssen.

7. Beide Beschwerdeführer haben mit Schriftsätzen vom 28. September 2007 Gegenvorstellung gegen die Entscheidungen des Landgerichts eingelegt, die in weiten Teilen wortwörtlich ihren Verfassungsbeschwerden entsprechen. Eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör haben die Beschwerdeführer hierbei nicht geltend gemacht.

Über die Gegenvorstellungen hat das Landgericht bislang nicht entschieden.

II.

Der Beschwerdeführer zu 1. sieht sich durch den angegriffenen Beschluss des Landgerichts (Az. 8 Qs 168, 169, 172/06) in seinen Grundrechten aus Art. 19 Abs. 4, Art. 10 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 GG verletzt. Die Beschwerdeführerin zu 2. greift ebenfalls nur den Beschluss des Landgerichts (Az. 8 Qs 170, 171, 173, 174/06) an und rügt die Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 19 Abs. 4, Art. 10 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1 GG. Die rechtlichen Ausführungen der Beschwerdeführer sind im Wesentlichen identisch.

Das Landgericht habe ein von der Prozessordnung vorgesehenes Rechtsmittel leer laufen lassen und damit das Recht der Beschwerdeführer auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG verletzt. Es habe die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für die Annahme der Verwirkung des Rechtsschutzbedürfnisses verkannt. Das Rechtsinstitut der Verwirkung setze ein Zeitmoment, ein Untätigsein des Betroffenen und einen geschaffenen Vertrauenstatbestand voraus. Es fehle hier bereits an dem erforderlichen Zeitmoment, da die Beschwerdeführer lediglich ein Jahr nach der Mitteilung über die Erhebung der Verbindungsdaten und neun Monate nach Einstellung des Ermittlungsverfahrens zugewartet hätten. Das Bundesverfassungsgericht habe erst ab einem Zeitraum von zwei Jahren das erforderliche Zeitmoment für gegeben erachtet (erneut Hinweis auf Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Dezember 2002 - 2 BvR 1660/02 -, NJW 2003, S. 1514). Zudem seien sie nicht untätig geblieben. Der Beschwerdeführer zu 1. habe zunächst vor dem Verwaltungsgericht gegen seine dienstrechtliche Versetzung, die im Zusammenhang mit dem Ermittlungsverfahren gestanden habe, vorgehen müssen. Die Beschwerdeführerin zu 2. habe über ihren Arbeitgeber eine gütliche Beilegung bei Justiz- und Innenministerium herbeizuführen versucht. Zudem sei kein Vertrauenstatbestand dahingehend geschaffen worden, dass die Beschwerdeführer nicht mehr gegen die Beschlüsse des Amtsgerichts vorgehen würden. Anders als in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sei das Verfahren hier nicht gegen Zahlung einer Geldauflage nach § 153a StPO eingestellt worden, sondern wegen mangelnden Tatnachweises gemäß § 170 Abs. 2 StPO.

Art. 10 Abs. 1 GG sei verletzt, weil keine Straftat von erheblicher Bedeutung im Sinne des § 100g Abs. 1 StPO vorgelegen habe. Zudem habe kein hinreichender Tatverdacht bestanden. Die Beschwerdeführerin zu 2. habe alle von ihr veröffentlichten Informationen von einem Pressesprecher der Polizei in W. erhalten. Dem Tatverdacht entgegenstehende Umstände seien ignoriert worden.

Schließlich stehe der Grundrechtseingriff außer Verhältnis zu den mit den Eingriffen verfolgten Zwecken.

Der Beschwerdeführer zu 1. sieht ferner Art. 13 Abs. 1 GG verletzt, weil die Durchsuchung seiner Wohnung angeordnet worden sei, ohne dass ein hinreichender Tatverdacht vorgelegen habe. Ferner enthalte der Durchsuchungsbeschluss keine Angaben über die aufzuklärende Straftat oder eine hinreichende Konkretisierung der vorgeworfenen Tathandlung.

Die Beschwerdeführerin zu 2. sieht zusätzlich Art. 5 Abs. 1 GG verletzt. Die journalistische Tätigkeit dürfe nicht zum Anlass genommen werden, Journalisten einem höheren Risiko auszusetzen, Objekt der Erhebung von Telekommunikationsverbindungsdaten für die Zwecke der Strafverfolgung Dritter zu werden, als andere Grundrechtsträger.

III.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerden zur Entscheidung an und gibt ihnen statt (§ 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Annahme der Verfassungsbeschwerden ist zur Durchsetzung der Grundrechte der Beschwerdeführer aus Art. 19 Abs. 4 GG angezeigt. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c BVerfGG).

1. Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerden steht nicht entgegen, dass das Landgericht bislang nicht über die Gegenvorstellungen der Beschwerdeführer entschieden hat. Anders als die Anhörungsrüge nach § 33a StPO, die einen gesetzlichen Rechtsbehelf für die Nachholung rechtlichen Gehörs vorhält, gehört der formlose Rechtsbehelf der Gegenvorstellung nicht zum Rechtsweg nach § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG.

2. Die angegriffenen Beschlüsse des Landgerichts verletzen die Beschwerdeführer in ihren Grundrechten aus Art. 19 Abs. 4 GG.

a) Art. 19 Abs. 4 GG enthält ein Grundrecht auf effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt (vgl. BVerfGE 8, 274 <326>; 67, 43 <58>; 104, 220 <231>; stRspr). Die in Art. 19 Abs. 4 GG verbürgte Effektivität des Rechtsschutzes wird in erster Linie von den Prozessordnungen gesichert. Sie treffen Vorkehrungen dafür, dass der Einzelne seine Rechte auch tatsächlich wirksam durchsetzen kann und die Folgen staatlicher Eingriffe im Regelfall nicht ohne gerichtliche Prüfung zu tragen hat (vgl. BVerfGE 94, 166 <213>; 104, 220 <231>; stRspr). Das Rechtsmittelgericht darf ein von der jeweiligen Prozessordnung eröffnetes Rechtmittel nicht ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer leer laufen lassen (BVerfGE 78, 88 <98 f.>; 96, 27 <39>; 104, 220 <232>).

Andererseits ist es grundsätzlich mit dem Gebot, effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, vereinbar, die Rechtsschutzgewährung von einem vorhandenen und fortbestehenden Rechtsschutzbedürfnis abhängig zu machen (vgl. BVerfGE 96, 27 <39>; 104, 220 <232>). Es ist ein allgemein anerkanntes Rechtsprinzip, dass jede an einen Antrag gebundene gerichtliche Entscheidung ein Rechtsschutzbedürfnis voraussetzt (vgl. BVerfGE 61, 126 <135>). Diese allen Prozessordnungen gemeinsame Sachentscheidungsvoraussetzung wird abgeleitet aus dem auch im Prozessrecht geltenden Gebot von Treu und Glauben (§ 242 BGB), dem Verbot des Missbrauchs prozessualer Rechte sowie dem auch für die Gerichte geltenden Grundsatz der Effizienz staatlichen Handelns. Das Rechtsschutzbedürfnis kann entfallen, wenn die verspätete Geltendmachung eines Anspruchs gegen Treu und Glauben verstößt, etwa weil der Berechtigte sich verspätet auf das Recht beruft (Zeitmoment) und unter Verhältnissen untätig geblieben ist, unter denen vernünftigerweise etwas zur Wahrung des Rechts unternommen zu werden pflegt (Umstandsmoment) (vgl. BVerfGE 32, 305 <308 f.>; BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. Dezember 2002 - 2 BvR 1660/02 -, NJW 2003, S. 1514 <1515>, und der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 14. Dezember 2004 - 2 BvR 1451/04 -, NJW 2005, S. 1855 <1856>). Das öffentliche Interesse an der Wahrung des Rechtsfriedens kann in derartigen Fällen verlangen, die Anrufung des Gerichts nach langer Zeit untätigen Zuwartens als unzulässig anzusehen. Auch ein an sich unbefristeter Antrag kann deshalb nicht nach Belieben hinausgezögert oder verspätet gestellt werden, ohne unzulässig zu werden (vgl. BVerfGE 32, 305 <308 f.>; Beschlüsse der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. Dezember 2002 - 2 BvR 1660/02 -, NJW 2003, S. 1514 <1515> und der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 14. Dezember 2004 - 2 BvR 1451/04 -, NJW 2005, S. 1855 <1856>). Gleichwohl darf hierdurch der Weg zu den Gerichten nicht in unzumutbarer Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 10, 264 <267 ff.>; 11, 232 <233>; 32, 305 <309>).

b) Die angegriffenen Entscheidungen haben diesen Anforderungen nicht Rechnung getragen.

Zwar ist das Landgericht zutreffend davon ausgegangen, dass die Berechtigung eines schweren Grundrechtseingriffs auch nach dessen Erledigung grundsätzlich gerichtlich überprüft werden kann und dass zu dieser Fallgruppe der tiefgreifenden Grundrechtseingriffe sowohl die Durchsuchungsanordnung (BVerfGE 96, 27 <40>) als auch die Ermittlung der Telekommunikationsverbindungsdaten nach §§ 100g, 100h StPO (vgl. BVerfGE 107, 299 <311> zur Vorgängervorschrift § 12 FAG) zählt. Es hat ferner zutreffend festgestellt, dass die Beschwerde nach § 304 StPO keinen gesetzlichen Fristen unterliegt.

Jedoch hat der grundsätzliche Vorbehalt eines fortbestehenden Rechtsschutzbedürfnisses in den hier angegriffenen Entscheidungen des Landgerichts eine Anwendung erfahren, die Bedeutung und Tragweite des Rechtsschutzanspruchs der Beschwerdeführer nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht in dem von der Verfassung gebotenen Umfang gerecht wird.

Ein Umstandsmoment, das darauf schließen ließe, die Beschwerdeführer würden keine Beschwerde gegen die gegen sie ergriffenen Ermittlungsmaßnahmen mehr einlegen, ist nicht ersichtlich. Zwar sind die Beschwerdeführer über einen Zeitraum von einem Jahr seit der Kenntniserlangung von den Maßnahmen und neun Monaten seit der Einstellung der gegen sie geführten Ermittlungsverfahren untätig geblieben. Das bloße Untätigbleiben der Beschwerdeführer über diesen Zeitraum hinweg lässt unter den hier gegebenen Umständen noch nicht die Annahme zu, dass eine Beschwerde nicht mehr eingelegt werden würde. Der hier zu entscheidende Fall unterscheidet sich insoweit maßgeblich von dem mit Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. Dezember 2002 (- 2 BvR 1660/02 -, NJW 2003, S. 1514 f.) entschiedenen. Denn dort war das Ermittlungsverfahren mit Zustimmung des Betroffenen und nach Leistung einer Geldauflage endgültig nach § 153a StPO eingestellt worden. Hier hingegen wurde das Ermittlungsverfahren nach § 170 Abs. 2 StPO ohne weiteres Zutun der Beschwerdeführer beendet.

Andererseits kann von der Verwirkung des Rechtsschutzinteresses auch dann ausgegangen werden, wenn zwar das Umstandsmoment in den Hintergrund tritt, aber der Beschwerdeführer eine derart lange Zeit abgewartet hat, dass mit einem Tätigwerden schlechthin nicht mehr zu rechnen war. So hat das Bundesverfassungsgericht die Annahme der Verwirkung des Rechtsschutzbedürfnisses durch die Fachgerichte in einem Fall nicht beanstandet, in dem der Beschwerdeführer erst fünf Jahre nach Vollzug der Ermittlungsmaßnahme und drei Jahre nach rechtskräftigem Abschluss des Ermittlungsverfahrens Beschwerde eingelegt hatte (BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 6. März 2006 - 2 BvR 371/06 -; juris).

Eine Festlegung auf eine abstrakte Frist, ab der stets von dem Vorliegen des Zeitmoments für die Verwirkung auszugehen wäre, ist nicht möglich. Ab wann ein Untätigsein als vertrauensbildend und damit als für eine Verwirkung relevant gewertet werden kann, lässt sich letztlich nur bei einzelfallbezogener Abwägung der Umstände ermitteln. Zur Bestimmung der Dauer des Zeitmoments ist daher nicht auf eine starre Höchst- oder Regelfrist abzustellen, sondern auf die konkreten Umstände des Einzelfalls.

Jedenfalls bei der Einlegung der Beschwerde innerhalb von einem Jahr nach Bekanntwerden der Ermittlungsmaßnahmen und innerhalb von neun Monaten nach Einstellung des Verfahrens nach § 170 Abs. 2 StPO kann noch nicht von der Verwirkung des Rechtsschutzbedürfnisses ausgegangen werden.

3. Ob die angegriffenen Entscheidungen auch andere Grundrechte der Beschwerdeführer verletzen, bedarf hier keiner Entscheidung, weil die Beschlüsse des Landgerichts jedenfalls wegen einer Verletzung von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG aufzuheben sind.

HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 310

Externe Fundstellen: NStZ 2009, 166

Bearbeiter: Stephan Schlegel