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Bearbeiter: Stephan Schlegel

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 1321/02, Beschluss v. 13.10.2003, HRRS-Datenbank, Rn. X


BVerfG 2 BvR 1321/02 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 13. Oktober 2003

Allgemeines Persönlichkeitsrecht (Schutz vor Zwang zur Selbstbezichtigung; nemo tenetur; Offenheit des Schutzbereichs); Auskunftspflicht nach § 100 KO (Ergänzung durch strafrechtliches Verwertungsverbot von Verfassungs wegen); Verwertung (äußere Umstände; Zeitpunkt der Erstellung der Bilanz; sonstiger Inhalt der Bilanz).

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 1 Abs. 1 GG; § 100 KO; § 97 InsO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Art. 2 Abs. 1 GG enthält in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG ein allgemeines Persönlichkeitsrecht, das als unbenanntes Freiheitsrecht die speziellen Freiheitsrechte ergänzt, die bestimmte Aspekte der Persönlichkeit schützen. Seine Aufgabe ist es, im Sinn des obersten Konstitutionsprinzips der Menschenwürde die Grundbedingungen für die Persönlichkeitsentfaltung zu sichern, die von den speziellen Freiheitsgarantien nicht erfasst sind (vgl. BVerfGE 54, 148, 153; 79, 256, 268). Sein Schutzbereich ist daher nicht abschließend bestimmbar, sondern gerade für bisher unbekannte Persönlichkeitsgefahren offen.

2. Als Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts hat das Bundesverfassungsgericht den Schutz vor einem Zwang zur Selbstbezichtigung anerkannt (vgl. BVerfGE 38, 105, 114 f.; 56, 37, 41 f.), der in zahlreichen Vorschriften des materiellen und prozessualen Rechts gewährleistet ist (vgl. den Überblick in BVerfGE 56, 37, 42 ff.). Der Einzelne soll vom Staat grundsätzlich nicht in eine Konfliktlage gebracht werden, in der er sich selbst strafbarer Handlungen oder ähnlicher Verfehlungen bezichtigen muss, in Versuchung gerät, durch Falschaussagen ein neues Delikt zu begehen, oder wegen seines Schweigens in Gefahr kommt, Zwangsmitteln unterworfen zu werden.

Entscheiduungstenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil ein Annahmegrund gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegt. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind entschieden (§ 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG). Die Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der Rechte der Beschwerdeführer angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG); denn die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg (vgl. BVerfGE 90, 22 <24 ff.>).

a) Art. 2 Abs. 1 GG enthält in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG ein allgemeines Persönlichkeitsrecht, das als unbenanntes Freiheitsrecht die speziellen Freiheitsrechte ergänzt, die bestimmte Aspekte der Persönlichkeit schützen. Seine Aufgabe ist es, im Sinn des obersten Konstitutionsprinzips der Menschenwürde die Grundbedingungen für die Persönlichkeitsentfaltung zu sichern, die von den speziellen Freiheitsgarantien nicht erfasst sind (vgl. BVerfGE 54, 148 <153>; 79, 256 <268>). Sein Schutzbereich ist daher nicht abschließend bestimmbar, sondern gerade für bisher unbekannte Persönlichkeitsgefahren offen.

Als Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts hat das Bundesverfassungsgericht den Schutz vor einem Zwang zur Selbstbezichtigung anerkannt (vgl. BVerfGE 38, 105 <114 f.>; 56, 37 <41 f.>), der in zahlreichen Vorschriften des materiellen und prozessualen Rechts gewährleistet ist (vgl. den Überblick in BVerfGE 56, 37 <42 ff.>). Der Einzelne soll vom Staat grundsätzlich nicht in eine Konfliktlage gebracht werden, in der er sich selbst strafbarer Handlungen oder ähnlicher Verfehlungen bezichtigen muss, in Versuchung gerät, durch Falschaussagen ein neues Delikt zu begehen, oder wegen seines Schweigens in Gefahr kommt, Zwangsmitteln unterworfen zu werden.

b) Eine grundsätzliche Auskunftspflicht des Beschwerdeführers als Geschäftsführer der Gemeinschuldnerin bestand im vorliegenden Fall aus § 100 KO, nicht aus § 97 InsO, weil das Konkursverfahren vor In-Kraft-Treten der Insolvenzordnung (1. Januar 1999) eröffnet worden war (Art. 103 EGInsO). Damit besteht auch kein einfach-rechtliches Beweisverwertungsverbot, das aus dem Wortlaut des § 97 Abs. 1 Satz 3 InsO für Auskünfte des Gemeinschuldners gefolgert werden könnte. Die in § 100 KO einfach-rechtlich geregelte umfassende Auskunftspflicht ist, wie das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden hat, durch ein strafrechtliches Verwertungsverbot zu ergänzen (vgl. BVerfGE 56, 37 <50>). Nach der alten Rechtslage bestand demgegenüber kein Beweisverwertungsverbot, das dazu führen würde, dass ein Strafverfahren, welches allein aufgrund der gemäß § 101 Abs. 2 erzwingbaren Auskunft eines Gemeinschuldners eingeleitet worden ist, nicht durchgeführt werden dürfte.

Der Verurteilung des Beschwerdeführers stand somit, ungeachtet der Herkunft der Tatsachen, die zur Einleitung des Strafverfahrens geführt haben, kein Verfahrenshindernis entgegen.

c) Die Verurteilung des Beschwerdeführers beruhte auch nicht auf der Verwertung einer durch §§ 100, 101 Abs. 2 KO von ihm erzwingbaren Mitwirkungshandlung. Gegenstand des strafrechtlichen Vorwurfs war die verspätete Erstellung der Bilanz, nicht deren sonstiger Aussagegehalt. Dass die Bilanzen nicht innerhalb der vom Handelsgesetzbuch vorgeschriebenen Fristen erstellt worden waren, hat der Beschwerdeführer in der Hauptverhandlung vor dem Landgericht eingeräumt. Er hat dort lediglich in Abrede gestellt, für die rechtzeitige Erstellung verantwortlich gewesen zu sein. Damit beruhte das Urteil nicht auf der Verwertung der schriftlichen Bilanzen.

Auf die Frage, ob das Verwertungsverbot auch Unterlagen erfasst, zu deren Führung die spätere Gemeinschuldnerin verpflichtet war (Bilanzen, Handelsbücher) und die dem Verwalter im Konkursverfahren zur Verfügung gestellt werden, kommt es deswegen im vorliegenden Fall nicht an.

Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Bearbeiter: Stephan Schlegel