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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
März 2006
7. Jahrgang
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Eric Hilgendorf/Thomas Frank/Brian Valerius: Computer- und Internetstrafrecht. Ein Grundriss, Springer, Berlin/Heidelberg/New York, 2005, XVIII, 224 Seiten, ISBN 3-540-23678-4, EUR 24,95.
I. Die zunehmende Digitalisierung der Welt in den vergangenen (zumindest) 30 Jahren sowie verstärkend die zunehmende Vernetzung innerhalb der letzten 10 Jahre hat das Leben und (damit auch selbstverständlich) das Strafrecht verändert: Die Arbeit mit dem Computer hat selbstverständlich Tathandlungen verändert, teilweise auch bereits bekannte Fragestellungen relevanter werden lassen (man denke nur an das Strafanwendungsrecht) und möglicherweise sogar neue Rechtsgüter entstehen lassen. Während die Probleme der - um dies einmal so zu bezeichnen - "computergestützten Offline-Kriminalität" im materiellen Strafrecht (zum Strafprozessrecht, in dem der Gesetzgeber anfangs weniger aktiv gewesen ist, vgl. bis heute grundsätzlich und lesenswert Bär, Der Zugriff auf Computerdaten im Strafverfahren, 1992) legislativ durch das Zweite Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität im Jahre 1986 im wesentlichen abgearbeitet und die in der Folgezeit resultierenden Streitfragen zumindest z.T. ausdiskutiert erschienen, folgte ein weiterer Schub von Fragen und dieser behandelnder Literatur ca. ab Mitte der 90-er Jahre des 20. Jahrhunderts durch die rasante Ausbreitung des Internet. Dem Ziel einer thematisch zwar umfassenden, gleichwohl jedoch gestrafften und didaktisch ausgerichteten Darstellung dient der hier angezeigte Grundriss, der soweit ersichtlich innerhalb der mittlerweile unübersehbaren Vielzahl von Veröffentlichungen zum Computer- und Multimediarecht das erste explizit als solches ausgestaltete Lehrbuch darstellt, welches exklusiv, dafür aber entsprechend vertieft die Probleme des Computer- und Internetstrafrechts handelt.
II. 1. Bevor sich die Autoren dem Computer- und Internetstrafrecht im Speziellen zuwenden, schildern sie in einem einführenden Kapitel "Grundlagen" (S. 1-34) wissenswerte juristische Hintergründe der Rechtsmaterie. So behandelt der erste längere Abschnitt das "Grundrecht auf Medienfreiheit" (S. 3-18) und unternimmt einen Ausflug in die "fachfremde" Materie des Staatsrechts. Dabei richten die Verfasser ihren Blick vor allem auf die Frage, welche Auswirkungen die Veränderungen in der Medienlandschaft und die Fortschritte der modernen Informations- und Kommunikationstechnologie auf die Meinungs- und Informationsfreiheit des Einzelnen sowie die Reichweite der Freiheit der Medien nach sich ziehen. Der Abschnitt schließt mit einem kurzen Ausblick auf die Konvergenz der Medien.
2. Besonderes Augenmerk widmen die Verfasser sodann den Internationalen Vorgaben für das Computer- und Internetstrafrecht (S. 18-34), vornehmlich den Rechtsdokumenten der Europäischen Union und des Europarates, die für das nationale Strafrecht zunehmend von Bedeutung werden. Schwerpunkte liegen hierbei auf der am 1.7.2004 in Kraft getretenen Convention on Cybercrime des Europarates und dem Rahmenbeschluss des Rates über Angriffe auf Informationssysteme vom 24.2.2005, den die Verfasser trotz seines jungen Alters schon eingehend samt seines notwendigen Umsetzungsbedarfs gewürdigt haben.
3. Auf diesen Grundlagen aufbauend beginnt die Darstellung des nationalen Strafrechts mit dem Kapitel zum Computerstrafrecht (S. 35-59). Die Autoren haben sich somit für eine chronologisch ausgerichtete Abhandlung der Materie entschieden und beginnen ihre materiellen Ausführungen mit einer Betrachtung derjenigen Vorschriften, die bereits durch das 2. WiKG eingeführt wurden, um Strafbarkeitslücken durch den Einsatz von Computern entgegenzuwirken. Im Einzelnen beschäftigen sich die Verfasser mit dem Computerbetrug (§ 263a StGB; S. 36-45), der Urkundenfälschung am Computer (§ 269 StGB; S. 45-53) sowie der Datenveränderung und der Computersabotage (§§ 303a, 303b StGB; S. 53-59). Dabei ziehen sie so oft wie möglich den Vergleich zum klassischen Strafrecht (z.B. dem Betrugstatbestand des § 263 StGB und der Urkundenfälschung gemäß § 267 StGB) heran, was zum Verständnis der mitunter recht kompakten Ausführungen beizutragen vermag.
4. Im Anschluss hieran beginnt der eigentliche Schwerpunkt des Buches, der sich mit dem -im Verhältnis zu den "klassischen Computerstraftaten" noch jüngeren und vielfach noch "weniger beackerten" Internetstrafrecht beschäftigt:
a) Dabei wenden sich die Verfasser zunächst den damit verbundenen Problembereichen aus dem Allgemeinen Teil zu (S. 61-98). Da die neuen Herausforderungen des Internetstrafrechts an die Strafrechtswissenschaft nach Auffassung der Autoren insbesondere in der Globalität und Verantwortlichkeit der Diensteanbieter begründet sind (Rn. 213), konzentriert sich das Buch im Folgenden namentlich auf das Internationale Strafrecht (S. 62-73), die Haftung von Diensteanbietern im Internet (sog. Provider; S. 77-92) sowie dem (zurzeit wohl noch eher theoretisch interessanten) Problem des Unrechtsbewusstseins bei grenzüberschreitenden Handlungen (S. 93-98). Zudem befasst sich das Werk mit dem Schriftenbegriff in § 11 Abs. 3 StGB (S. 73-77), der durch das Informations- und Kommunikationsdienstegesetz vom 22.7.1997 an die modernen Verhältnisse angepasst wurde.
b) Den Ausführungen zum Allgemeinen Teil folgt das umfangstärkste Kapitel zum Besonderen Teil des Internetstrafrechts (S. 99-207). Der Aufbau des Kapitels orientiert sich dabei an den einzelnen Deliktsgruppen, die für das Internetstrafrecht von zentraler Bedeutung sind. Zunächst beschäftigen sich die Verfasser ausgiebig mit den Äußerungsdelikten, bei denen per se rechtswidrige Inhalte über das Netz verbreitet werden (Rn. 362), namentlich den Straftatbeständen zur Pornographie (S. 100-124) und den Vorschriften zur Extremistischen Propaganda (S. 125-143). Anschließend setzt sich das Buch mit neuen Handlungsweisen im Internet zur Erlangung wirtschaftlicher Vorteile auseinander, im Einzelnen dem Betrug im Internet (S. 143-151) und der unerlaubten Veranstaltung von Online-Glücksspielen (S. 152-155). Schließlich widmen sich die Verfasser Kommunikationsvorgängen im Internet, deren Strafbarkeit nicht aus der Rechtswidrigkeit ihrer Inhalte, sondern aus der Rechtswidrigkeit des Verbreitungsakts als solchen resultiert, sei es weil damit Urheberrechte (S. 155-172) oder geschützte Daten (S. 172-189) verletzt werden. Von den sonstigen Computer- und Internetdelikten (S. 190-194) werden letztlich das Erschleichen von Leistungen (§ 265a StGB) und die Störung von Telekommunikationsanlagen (§ 317 StGB) kurz behandelt.
c) Das Kapitel zum Besonderen Teil des Internetstrafrechts schließt mit einer ausführlichen Betrachtung neuer Erscheinungsformen strafbarer Verhaltensweisen im Internet (S. 194-207). Dabei widmen sich die Verfasser sowohl neuen gesetzlichen Vorschriften als auch der strafrechtlichen Bewertung neuer Handlungsformen im Internet, namentlich dem Spamming, Cyberstalking, Cybersquatting, Phishing und letztlich dem Domain-Hijacking.
5. In einem kurzen Schlusskapitel (S. 209-211) gewähren die Verfasser einen kurzen Ausblick auf ein mögliches neues Rechtsgebiet des Informationsstrafrechts, das sich nach Auffassung der Autoren (Rn. 775) eines Tages ebenso wie das Computer- und Internetstrafrecht als eigenständige Teildisziplin des Strafrechts etablieren könnte.
III. Betrachtet man das Buch als "Lehrbuch", so geht es - natürlich ohne in Breite und Tiefe der Darstellung vollständig zu sein - weit über den Stoff dessen hinaus, was Studenten im Pflichtbereich Strafrecht zu lernen haben. Ich könnte mir aber einen entsprechenden "studentischen Markt" durchaus bei denjenigen Studenten vorstellen, die einen (wirtschafts-)strafrechtlichen oder medienrechtlichen Schwerpunkt belegen, soweit entsprechende Veranstaltungen zum jeweiligen Curriculum gehören. Auch in strafrechtlichen Seminaren spielen Fragen des Computer- und Internetstrafrechts naturgemäß immer wieder eine Rolle, so dass die Universitätsbibliotheken mit einer Anschaffung gut beraten sein werden.
Über diesen Bereich hinaus erscheint mir das Buch aber auch für den einschlägig interessierten Praktiker eine wertvolle Hilfe bieten zu können: Dies nicht nur, weil eine didaktisch aufbereitete Darstellung u.U. das erste Einarbeiten in einen Problemkreis gegenüber knapper gestalteten und rein pragmatisch ausgerichteten "Praktikerhandbüchern" erleichtern könnte; vielmehr dürfte gerade in einem relativ jungen Bereich, in dem manches noch im Flusse bzw. zumindest noch nicht durch gefestigte (höchstrichterliche) Rechtsprechung "entschieden" ist, ein im klassischen Strafrecht eher seltener, potentiell fruchtbarer Anwendungsbereich für die eigene rechtliche Argumentation liegen, für die ein Buch wie das vorliegende naturgemäß zu einzelnen Fragen die eine oder andere zusätzliche Anregung bieten kann. Dies gilt um so mehr, als das Werk (besonders deutlich im Einführungskapitel, aber auch auf den letzten Seiten des Buches) nicht in der Gegenwart verharrt, sondern wiederholt Ausblicke auf zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten gewährt.
Diese Aktualität und Offenheit für künftige Entwicklungen ist bei einer modernen und sich täglich verändernden Materie wie dem Computer- und Internetstrafrecht aber auch ein wesentliches Bewertungskriterium für die Qualität eines Lehrbuchs, das nicht nur aus diesem Grund weitgehend zu überzeugen vermag. Die (in einem so dynamischen Gebiet naturgemäß nur mit einer begrenzten Halbwertszeit versehen) umfangreichen Nachweise zur Literatur, aber etwa auch zu wesentlichen Rechtsdokumenten der Europäischen Gemeinschaft zur Bekämpfung der Computer- und Internetkriminalität (vgl. Rn. 92) tun dabei das ihrige, um dem studentischen wie dem praktisch interessierten Leser gleichermaßen von Nutzen zu sein.
Prof. Dr. Hans Kudlich, Universität Erlangen-Nürnberg .
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Thomas Osterkamp : Juristische Gerechtigkeit. Rechtswissenschaft jenseits von Positivismus und Naturrecht (Grundlagen der Rechtswissenschaft Bd. 2), Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2004, 299 S., br., 49,00 EUR.
1. Keine andere rechtstheoretische Auseinandersetzung des vergangenen Jahrhunderts hat so viel Schweiß und Tinte gekostet wie die Kontroverse zwischen Rechtspositivismus und Naturrecht. Der herkömmlichen Auffassung entspricht es, einen kontradiktorischen Gegensatz zwischen diese beiden Positionen anzunehmen. Man ist danach entweder Positivist oder Naturrechtler; tertium non datur. Seit geraumer Zeit sind hingegen Positionen auf dem Vormarsch, die einen "dritten Weg" jenseits jenes Alternativenpaares propagieren. In den Kreis dieser Theorien gehört auch das Werk Thomas Osterkamps über "Juristische Gerechtigkeit". Osterkamp zufolge wird die Frage, ob Gerechtigkeit ein möglicher Gegenstand der Rechtswissenschaft ist, mit einer Gegenüberstellung von positivem und natürlichem Recht, rechtlicher Objektivität und moralischer Subjektivität, faktischer und idealer Rechtsgeltung nicht angemessen beantwortet. Dieses Schema verstelle sogar den Blick auf das eigentliche Problem: "Gibt es die Möglichkeit oder sogar Notwendigkeit einer spezifisch juristischen Begründung von Gerechtigkeit?"
Eine adäquate Begründung juristischer Gerechtigkeit kann nach Osterkamps Überzeugung nur geleistet werden von einer Rechtstheorie und einer Rechtsdogmatik, die den naturrechtlichen Anspruch auf eine moralische Legitimation des Rechts mit den positivistischen Geltungskriterien von hoheitlicher Setzung und sozialer Wirksamkeit verbinden. Erforderlich sei mit anderen Worten eine vermittelnde Position, die von der positivistischen Beschränkung der Rechtswissenschaft auf die Darstellung und Fortentwicklung einer konkreten, historisch gegebenen Rechtsordnung ausgehe, dies aber mit einer Rekonstruktion derjenigen Moralvorstellungen verknüpfe, die der betreffenden Ordnung immanent seien. Eine solche Position stehe gleichsam zwischen den Fronten der traditionellen Kontroverse. "Sie grenzt sich einerseits ab von einem Rechtspositivismus, der auf einer strikten Trennung zwischen Recht und Moral beharrt, andererseits aber auch von der juristischen Übernahme einer moralphilosophisch begründeten Natur- oder Vernunftrechtslehre, die über den begrenzten Geltungsanspruch konkreter, historisch gegebener Rechtsordnungen hinweggeht." Osterkamp konzediert, daß sich dies - je nachdem, welcher Seite man hierbei näher rücke - entweder als eine Form des "Neuen Naturrechts" oder als eine Form des "Neopositivmus" interpretieren lasse. Sachlich angemessen sei jedoch "weder die eine noch die andere Deutung, da beide notwendig die Verbindung von juristischer und moralischer Argumentation verfehlen, indem sie die Spannung zwischen beiden in die eine oder in die andere Richtung aufzulösen versuchen. Eben diese Spannung ist aber für ein reflektiertes Verständnis von juristischer Gerechtigkeit unaufhebbar."
Die Studie Osterkamps - eine von Hasso Hofmann betreute Berliner Dissertation - zeichnet sich durch einen außerordentlichen Reichtum an originellen und scharfsinnigen Gedanken sowie eine souveräne Literaturkenntnis aus. Es handelt sich um eine wissenschaftliche Spitzenleistung. Dennoch vermag Osterkamps ehrgeiziges Projekt, die Rechtswissenschaft "jenseits von Positivismus und Naturrecht" - so der Untertitel des Buches - neu zu verankern, letztlich nicht zu überzeugen. Sowohl der Versuch Osterkamps, entgegen der positivistischen Trennungsthese die Unverzichtbarkeit eines Rückgriffs auf außerpositive Gerechtigkeitsvorstellungen nachzuweisen (dazu unter 2.), als auch sein Beharren darauf, daß moralische Erwägungen nur insoweit zulässig seien, wie sie mit dem positiven Rechtsmaterial vereinbar seien (dazu unter 3.), leiden unter Begründungsmängeln.
2. Den rocher de bronze des Rechtspositivismus bildet die sogenannte Trennungsthese. Danach ist die Rechtsqualität positiver Vorschriften unabhängig von ihrer moralischen Dignität. Der Begriff "Recht" steht für ein Normensystem, das tatsächlich gilt, mag es aus der Warte seiner Kritiker auch als höchst ungerecht erscheinen. Osterkamp sucht demgegenüber nachzuweisen, daß die positive Rechtsordnung nur als eine Ordnung mit moralischem Anspruch sinnvoll interpretiert werden kann und die juristische Argumentation deshalb unweigerlich "in eine moralphilosophische Argumentation übergehen muß". Im Unterschied zu der älteren naturrechtlichen Strategie, die positivistische Verwendung des Begriffs "Recht" für verfehlt zu erklären und ihr ein vermeintlich adäquateres Begriffsverständnis gegenüberzustellen - kraß ungerechte Ordnungen verdienten schon nicht die Bezeichnung als "Recht" -, schlägt Osterkamp somit den eleganteren, aber auch mühsameren Weg einer immanenten Kritik an der Trennungsthese ein: Die tatsächliche rechtliche Begründungspraxis weise notwendig über ein Rechtsverständnis hinaus, dessen letztes Wort der Verweis auf die pure Faktizität der Setzung und Durchsetzung der betreffenden Regelungen sei.
Eine jede Rechtsordnung erhebt Osterkamp zufolge den Anspruch, nicht nur eine faktisch geltende, sondern auch eine richtige Ordnung zu sein. Anders als ein beliebiger Befehl könne eine entwickelte Rechtsordnung, die auf generell-abstrakten Regelungen beruhe und zumindest mit einem Minimum an inhaltlicher Konsistenz einhergehe, nicht als reiner Machtspruch auftreten. "Schon der Erlaß allgemeiner Regelungen, die nicht von Fall zu Fall beliebig variiert werden, impliziert eine Selbstbindung der rechtssetzenden Instanz, die nur dann sinnvoll zu verstehen ist, wenn sie auch mit dem inhaltlichen Anspruch einhergeht, nicht willkürlich zu sein. Im Gegensatz zu einem reinen Willkürregime ist also bereits mit dem Medium des Rechts die Tatsache verbunden, daß man auch einem Anspruch auf Rechtfertigung hoheitlichen Handelns genügen will." Wer diesen Anspruch leugne und sich dennoch auf eine bereits bestehende Rechtsordnung bezieht, setze sich, wie Osterkamp in Anlehnung an Alexy resümiert, dem Vorwurf eines performativen Selbstwiderspruchs aus.
Der Verweis auf die Implikationen der generell-abstrakten Rechtsform ist zwar für sich genommen überzeugend, sein Begründungspotential ist jedoch erheblich beschränkter, als Osterkamp dies suggeriert. Es ergibt sich daraus lediglich die Anforderung, die einmal gegebene Ordnung konsequent anzuwenden. Über die moralische Qualität der einzelnen Normen dieser Ordnung wird damit nichts ausgesagt. Mit dieser Begründung ist somit jede Form der Entrechtung vereinbar, sofern sie nur konsequent durchgehalten wird. Ein darüber hinausgehender inhaltlicher Richtigkeitsanspruch läßt sich auf diesem Wege nicht nachweisen. Osterkamp selbst scheint dieses Defizit zu spüren. Jedenfalls beeilt er sich, ergänzend darauf hinzuweisen, daß sich zumindest für Rechtsordnungen, die in der Tradition eines neuzeitlichen Vernunftrechts stehen und daher auf den Prinzipien von menschenrechtlicher Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung aufbauen, grundlegende Gemeinsamkeiten feststellen ließen. Nach deren eigenem Selbstverständnis solle damit eine fundamentale Selbstverpflichtung zum Ausdruck gebracht werden: "Mit dem Erlaß allgemeiner, für alle in gleicher Weise gültiger Gesetze wird ein unparteilicher Standpunkt postuliert, von dem aus die gleichberechtigten Ansprüche von jedermann Berücksichtigung finden." Damit gibt Osterkamp indessen seinen ursprünglichen Begründungsanspruch stillschweigend preis. Statt grundlegende Implikationen der Rechtsform als solcher offenzulegen begnügt er sich nun mit einer Aussage über das faktische Selbstverständnis eines bestimmten Typs von Rechtsgemeinschaften.
In der Folge wechselt Osterkamp seine Begründungsstrategie ein weiteres Mal. Die These, wonach Rechtsdogmatik sich ohne die Einbeziehung moralischer Erwägungen nicht sinnvoll betreiben lasse, stützt er nunmehr auf die Erwägung, daß das Recht nur unter dieser Voraussetzung die ihm von seiner gesellschaftlichen Umwelt abverlangte Integrationsleistung erbringen könne. Das betreffende Argument gewinnt Osterkamp aus seiner Auseinandersetzung mit der Systemtheorie Niklas Luhmanns. Gegen diesen unterstreicht Osterkamp, die soziale Adäquanz juristischer Begriffsbildung bemesse sich nicht nur an dem Gesichtspunkt gesellschaftlicher Erwartungssicherheit. Diese Erwartungssicherheit ließe sich durch jede beliebige "Konsistenz des Entscheidens" herstellen. Es sei aber nicht zuletzt die Aufgabe des Rechts, dafür zu sorgen, daß die pluralistische Gesellschaft nicht in ihre ausdifferenzierten Teilsysteme auseinanderfalle. Dieses Auseinanderfallen der Gesellschaft könne nur verhindert werden, wenn die Entscheidungen des Rechts auch als sachgerecht akzeptiert würden. Auch die Rechtsdogmatik müsse das Recht daher in einer Weise bearbeiten, die der gesellschaftlichen Umwelt adäquat sei und ihr in diesem Sinne "gerecht" werde. Durch systeminterne Überlegungen allein lasse sich diese Aufgabe nicht bewältigen. Vielmehr könne die Rechtsdogmatik nur dann sachgerecht verfahren, wenn sie auch die gesellschaftliche Legitimation der eigenen Rechtsordnung in den Blick bekomme. "Die inhaltliche Rechtfertigung der geltenden Rechtsordnung impliziert dann bereits einen unparteilichen Standpunkt, von dem aus die maßgeblichen Gesichtspunkte gewichtet und aufeinander abgestimmt werden. Sie impliziert mit anderen Worten einen moralischen Standpunkt. Verfolgt die juristische Dogmatik das Ziel einer sachgerechten Entscheidung, so muß sie sich daher - ob sie nun will oder nicht - einlassen auf moralische Begründungsmuster, mit deren Hilfe die geltende Rechtsordnung erst als ein sinnvolles, der Gesellschaft adäquates Ganzes interpretiert werden kann."
Die These, daß eine Rechtsdogmatik auf die Dauer nur dann sozial erfolgreich sein kann, wenn sie auf die Akzeptabilität ihrer grundlegenden Wertungen für ihre gesellschaftliche Umwelt achtet, ist durchaus überzeugend. Diesem Befund könnte jedoch auch ein Rechtspositivist ohne weiteres zustimmen. Er verweist den Rechtsdogmatiker nämlich gerade nicht - was zu beweisen Osterkamps Absicht war - auf die Moralphilosophie, sondern - überspitzt gesagt - auf die Demoskopie. Dem Rechtswissenschaftler steht es danach nicht zu, seine eigenen moralischen Erwägungen einzubringen; er ist lediglich zur Feststellung und Berücksichtigung fremder moralischer Überzeugungen verpflichtet. Die Unparteilichkeit, die ihm abverlangt wird, ist deshalb entgegen der Darstellung Osterkamps nicht diejenige eines moralischen Subjekts, sondern diejenige eines außenstehenden Beobachters.
3. Wie eingangs dargelegt, macht Osterkamps Auseinandersetzung mit der Trennungsthese nur die Hälfte seines Projekts der Entwicklung einer Theorie juristischer Gerechtigkeit aus. Ebensowenig wie dem rechtspositivistischen möchte er sich dem naturrechtlichen Lager zurechnen lassen. Als "berechtigten Kern der Trennungsthese" erkennt er die Forderung an, daß moralische Maßstäbe im Rahmen juristischer Argumentation nicht in Widerspruch stehen dürfen zu den Maßstäben des geltenden, durch hoheitliche Setzung und soziale Wirksamkeit definierten und in diesem Sinne "positiven" Rechts. Das Kriterium moralischer Rechtfertigung müsse deshalb im Sinne eines "Überlegungsgleichgewichts" jeweils mit dem Kriterium juristischer Kohärenz, also der Übereinstimmung mit Gesetzestexten, etablierter Rechtsdogmatik und Gerichtsentscheidungen, vereinbart werden. Postulate einer vom Recht unabhängigen oder ihm gar widersprechenden Gerechtigkeit haben nach Osterkamps Überzeugung in einer juristischen Argumentation nichts zu suchen.
Wie läßt sich diese strikte Bindung des Interpreten an die positiv-rechtlichen Vorgaben begründen? Zwei Argumentationsstrategien sind denkbar. Möglich ist zum einen die Berufung auf die typischen Rollenerwartungen an den Rechtsdogmatiker. Das vorgefundene Rechtsmaterial sei nun einmal so, wie es sei, und die Aufgabe des Interpreten erschöpfe sich darin, es auf der Basis der ihm immanenten Wertungsgrundlagen möglichst überzeugend zu deuten. Diese von MacCormick als "hermeneutic point of view" bezeichnete Untersuchungsperspektive ist positivistischer Natur. Der Dogmatiker hat sich danach gleichsam auf Gedeih und Verderb dem in einer bestimmten Rechtsgemeinschaft nun einmal maßgeblichen Wertungssystem anheimzugeben, mag dieses System auch solch perverse Formen wie die einer stalinistischen
oder nationalsozialistischen "Gerechtigkeit" angenommen haben. Die zweite Möglichkeit besteht darin, die Beachtlichkeit des positiven Rechtsstoffes ihrerseits normativ zu begründen: Nur so lasse sich den Ordnungsbedürfnissen moderner Gesellschaften Genüge tun. Das historische Vorbild für diese Argumentationsstrategie bietet Hobbes, dessen politische Philosophie Welzel als "naturrechtliche Begründung des Rechtspositivismus" kennzeichnet. Aber gleichgültig, welches dieser beiden Begründungsmuster man wählt: Man bewegt sich innerhalb des Alternativenpaares von Positivismus und Naturrecht, nicht jenseits seiner.
Osterkamp entgeht dem Eingeständnis dieses Umstandes lediglich dadurch, daß er nicht eindeutig zugunsten einer der genannten Argumentationsstrategien Stellung bezieht, sondern sich beider bedient. Einerseits betont er gut positivistisch, daß seinem Modell zufolge nur rechtsimmanente Prinzipien und darauf aufbauende rechtsimmanente Gerechtigkeitsvorstellungen rekonstruiert werden dürfen, nicht Prinzipien einer vom Recht unabhängigen Gerechtigkeit. "Dies wird aber dadurch erträglich gemacht, daß dies eben nur eine juristische Gerechtigkeitsvorstellung ist, die nach den Kriterien einer auf menschenrechtlicher Gleichheit beruhenden Moralvorstellung nicht befolgt werden muß." Andererseits aber unterstreicht er, die Idee einer juristischen Gerechtigkeit sei nur insoweit anwendbar, wie sich in einer gegebenen Rechtsordnung wenigstens fragmentarische Ansätze für eine Verbindung von juristischer und moralischer Argumentation böten. Ansonsten gehe sie gewissermaßen ins Leere. Eine Konzeption, die voraussetzt, daß hinreichende "inhaltliche Anknüpfungspunkte von juristischer Argumentation mit überlieferter Ethik" vorhanden sind, daß also die in Bezug genommene Rechtsordnung den Forderungen der traditionellen Ethik in einem gewissen Umfang entgegenkommt, kann ihre naturrechtlichen Implikationen nicht verleugnen. Ihre Befolgung ist demnach ein moralisches Gebot und keineswegs dem eigenen Gewissensurteil des Normadressaten anheimgestellt. Kurzum: Beide Lesarten sind unvereinbar miteinander, und der Umstand, daß Osterkamp sie dennoch nebeneinander vertritt, stellt eine zentrale Schwäche seiner Ausführungen dar.
So enttäuschend es in der Regel ist, sich zu herkömmlichen Auffassungen bekennen zu müssen: Der erhoffte "dritte Weg" bleibt auch nach der Veröffentlichung von Osterkamps eindrucksvollem Werk hinter einem Schleier des Nichtwissens verborgen. An der Notwendigkeit einer Positionierung innerhalb des Alternativenpaares "Positivismus oder Naturrecht" führt für den einzelnen Rechtstheoretiker auch in absehbarer Zukunft kein Weg vorbei.
Prof. Dr. Michael Pawlik, Univ. Regensburg, LLM (Cantab.)