HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

August 2004
5. Jahrgang
PDF-Download

Schrifttum

Anusheh Rafi, Kriterien für ein gutes Urteil. Schriften zur Rechtstheorie, Heft 219. Duncker & Humblot, Berlin, 2004, 171 S., broch., ISBN 3-428-11334-9, EUR 52,80.

I. Ungeachtet des Postulats der Gesetzesbindung des Richters (im Allgemeinen sowie des speziellen strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips in Art. 103 II GG im Besonderen) besteht mittlerweile weitgehend Übereinstimmung darüber, dass die Entscheidung eines Rechtsfalls in den seltensten Fällen rein logisch-deduktiv aus dem Gesetzestext abgeleitet werden kann. Nimmt man die - leider vielfach noch zu sehr vernachlässigten - Erkenntnisse der modernen Sprachwissenschaft ernst, so muss man die Möglichkeit einer solchen Deduktion sogar für den Regelfall verneinen (was freilich auf der Grundlage der "pragmatischen Wende" in der Sprachphilosophie sowie in der modernen Argumentationstheorie keinesfalls zur vollkommenen Bindungslosigkeit des Rechtsanwenders führen muss). Gesteht man sich das ein, so besteht für den Richter ein wesentlich größerer Legitimationsbedarf als nach einem gesetzespositivistischen Modell (vgl. S. 16 ff.), so dass sich die Frage stellt, wie eine solche Legitimation (d.h. konkret: ein Legitimitätstransfer zwischen Normtext und gerichtlichem Tenor,

vgl. dazu bereits Christensen/Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, S. 20 ff.) erfolgen kann. Vor diesem Hintergrund ist der in einer am Frankfurter Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte bei Simon entstandenen Dissertation von Rafi unternommene Versuch zu verstehen, Hinweise für eine "verantwortungsvolle Ausführung" der Entscheidungsarbeit (und der damit notwendigerweise verbundenen Dezision) zu geben (vg. S. 12).

II. Zu Beginn seiner Arbeit (vgl. S. 19 ff.) skizziert Rafi wichtige frühere Ansätze zur Bestimmung der richtigen/guten "Rechtsfindung" bzw. "Rechtserkenntnis" und damit der "Kriterien für ein gutes Urteil". Er setzt sich dabei kritisch mit jeder Idee einer Rangfolge der Auslegungskanones, aber auch mit einer Berücksichtigung der materiellen Wertethik, der Anlehnung an aus dem Recht gewonnenen Werte sowie mit der Orientierung an einer aus Prinzipien gewonnenen Wertehierarchie auseinander. Auch modernere bzw. interdisziplinäre Ansätze wie die auf Habermas' Diskurstheorie zurückgehenden Konsensmodelle oder die ökonomische Theorie des Rechts werden im Wesentlichen verworfen. Stattdessen postuliert Rafi selbst einen "gebundenen Dezisionismus" (vgl. S. 41 f.), bei dem es ihm weniger um die Einengung des Entscheidungsspielraums des Richters als vielmehr um eine Erklärung geht, wie der Richter bei seiner Entscheidung vorzugehen habe. Dabei kündigt er an, dass seine Überlegungen gerade über den Gesetzestext und die gängige Dogmatik hinausgehen sollen. Ziel ist es, zum einen Wertungsgesichtspunkte bzw. Topoi für "ein gutes Urteil", zum anderen aber auch Bewertungsmaßstäbe für diese Güte an die Hand zu geben.

Für beides - Topoi ebenso wie die Bewertungsmaßstäbe - ist es nach Rafi wichtig, das "Ziel des Urteils", das in der Rechtsentscheidung und gerade nicht in der "Rechtsfindung" liegen soll, herauszufinden (Vgl. S. 43 ff.). Ein Urteil soll dabei "gut" sein, wenn es seine Funktion erfüllt. Klingt eine solche Beschreibung fast schon nach einem sokratischen Dialog (etwa nach dem Motto: "Was aber ist die Natur des Urteils, und ist es dann nicht richtig, dass es sich so oder so verhalten muss?"), so wird dieser Eindruck rasch relativiert, da Rafi betont, dass die Funktionen eines Urteils gerade nicht in einer - wie auch immer gearteten - "Natur der Sache" wurzeln, sondern diesem zugeschrieben werden.

Als Funktionen des Urteils werden zunächst die Gerechtigkeit, die Wahrheit, die Rechtssicherheit, Schutz objektiver und subjektiver Rechte sowie die Effizienz diskutiert und (mit vielfach aus anderen Zusammenhängen bekannten Argumenten) abgelehnt. Als Funktion des Urteils erkennt Rafi vielmehr nur die Schaffung von Rechtsfrieden (vgl. ausführlich S. 62 ff.) an, welcher auch die anderen denkbaren Zwecke teilweise in sich vereinigt. Ein solches monistisches Begründungsmodell und die Fokussierung auf den Rechtsfrieden, welche Rafi für die von ihm explizit allein untersuchten Urteile in Zivilsachen postuliert, erinnert stark an ganz ähnliche Überlegungen, die Schmidhäuser schon vor Jahren für das Ziel des Strafverfahrens angestellt hat (vgl. dazu Eb.Schmidt-FS, S. 511 f.; eher krit. zu einem solchen monistischen Ansatz Kudlich, Strafprozess und allgemeines Missbrauchsverbot, S. 225 ff.).

Im anschließenden, ausführlichsten Teil seiner Untersuchung (vgl. S. 79 ff.) stellt Rafi eine Reihe von Kriterien dar, die dem Rechtsfrieden dienen können und deswegen für den Erlass eines guten Urteils, d.h. zum Treffen einer "guten" Entscheidung vom Richter berücksichtigt werden sollten:

Zunächst nennt Rafi die Bindung an den Wortlaut (S. 79 ff.), d.h. nach seinem Verständnis: an die Bedeutung, die dem juristischen Vorverständnis entspricht. Dabei kann es freilich - das versteht sich nach den einleitenden Bemerkungen in dem Buch von selbst - für Rafi nur um eine Wortlautgrenze im Sinne einer "semantischen Grenze der überzeugenden Interpretierbarkeit (...) als 'gewonnene Pragmatik'" gehen, die "zwar historisch gesehen kontingent ist und zukünftig veränderbar bleibt aber trotzdem gegenwärtig existiert" (vgl. S. 86). Die Bindung des Richters an diese Grenzen begründet Rafi demokratietheoretisch.

Des Weiteren soll eine Bindung an Folgeerwägungen bestehen (vgl. S. 91 ff.). Um diese zu operationalisieren greift Rafi auch auf ökonomische Modelle zurück, für die er ausgesprochen interessante und instruktive "Zahlenspielereien" liefert, deren Aussagekraft für das konkrete Problem einer juristischen Entscheidungsfindung freilich mehr oder weniger unklar bleibt. Sehr überzeugend ist gleichwohl die Zusammenfassung auf S. 98 f., wonach die Folgen einer gesetzgeberischen Entscheidung um so eher von einem Richter akzeptiert werden müssen, je deutlicher der Gesetzgeber diese getroffen bzw. vorhergesehen hat.

Auf S. 99 ff. behandelt Rafi die Bindung an die Dogmatik, welche bei ihm insbesondere in Gestalt der Bedeutung einer "h.M." sowie von "Präjudizien" eine Rolle spielt. Die Bedeutung gerade dieser beiden Punkte ist wenig erstaunlich, wenn man im Hinterkopf behält, welche Zweifel Rafi zumindest einleitend an der Aussagekraft des Gesetzestexts selbst geäußert hat.

Eine weitere Bindung soll an gesellschaftlichem Moralvorstellungen bestehen (vgl. S. 107 ff.), wobei hier nur "eklatante Widersprüche" vermieden werden sollen, da nur eine wirklich "Empörung" dem Rechtsfrieden schaden könne. Als Probleme einer Bindung an solche gesellschaftlichen Moralvorstellungen werden wohl die Frage nach dem angemessenen Minderheitenschutz wie auch die Messbarkeit der Moral zutreffend herausgearbeitet.

Hinsichtlich der "Bindung an die Zeit" (vgl. S. 117 f.) entwickelt Rafi zwar (knapp) den interessanten Gedanken, dass das Zeitmoment für die Transformation eines persönlichen in einen rechtlichen Konflikt eine gewisse Bedeutung haben soll; die Aussagekraft dieses Moments

für den Erlass eines guten Urteils wird freilich nicht näher erläutert.

Im Anschluss widmet sich Rafi der Bindung an die "Erzählung der Parteien" (vgl. S. 118 ff.). Er legt dabei dar, wie vor Gericht Sachverhalte "konstruiert" und dabei teilweise auch den Erzählungen der Parteien "zugeschrieben" werden. Wenigstens knappe (wenngleich innerhalb des Gesamtwerks m.E. wesentlich zu geringe) Erwähnung finden in diesem Zusammenhang auch die Bedeutung des rechtlichen Gehörs (vgl. Art. 103 I GG) sowie die Bindungen des Gerichts durch den Begründungszwang (vgl. dazu bereits ausführlich und eine Vielzahl der bei Rafi angestellten Überlegungen in diesem Kontext behandelnd Christensen/Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, passim). Ebenso instruktiv wie originell sind dabei die Überlegungen Rafis zur Bedeutung der "Plausibilität von Geschehensfortgängen", die den Richter bei der Konstruktion der Geschichte auf Grund der Erzählungen der Parteien bindet.

Eine weitere Bindung soll an die gesellschaftliche Praxis bestehen (vgl. S. 125 ff.), die selbst von Vertretern des Gesetzespositivismus und der Systemtheorie zumindest teilweise anerkannt werde. Als einen solchen Fall der Bindung an eine gesellschaftliche Praxis versteht Rafi letztlich das Gewohnheitsrecht.

Schließlich soll eine Bindung an die Logik (im Sinne einer Folgerichtigkeit bzw. Widerspruchsfreiheit, vgl. S. 132 ff.) sowie an die Verständlichkeit des Urteils (vgl. S. 135 ff.) bestehen. Dabei differenziert Rafi hinsichtlich des zweitgenannten Punktes zwischen der Verständlichkeit des Gesetzestextes, des Kommunikationsvorgangs sowie der Entscheidung, für welche auch stilistische Elemente eine Rolle spielen sollen und die Bedürfnisse des Adressatenkreises in ein angemessenes Verhältnis zur Genauigkeit des Urteils zu stellen seien.

Demgegenüber sei die Bindung an die Verfassung (vgl. S. 143 ff.) insoweit kein eigenständiges Kriterium, da dieses bereits in anderen Kriterien und insbesondere in der Bindung an den Gesetzeswortlaut zum Ausdruck komme. In diesem Zusammenhang befasst sich Rafi auch kurz mit den Besonderheiten des "Verfassungsgesetzes" bzw. der Verfassungsinterpretation.

III. All die genannten Kriterien seien zum Erlass eines "Urteils" heranzuziehen und mit Blick auf ihre jeweilige Bedeutung für die Urteilsfunktion "Rechtsfrieden" miteinander abzuwägen. Diese Handreichung bleibt halbwegs vage, wird jedoch durch ein sehr anschauliches Bild aus der Chaostheorie ergänzt, wonach das Chaos bestimmte Prognosemöglichkeiten nicht ausschließen soll; dies lasse sich in gewisser Hinsicht auch auf die nicht determinierte, aber eben "gebundene" Dezision des Richters übertragen. Des Weiteren soll sich nach Rafi auch "eine Analogie zur Linguistik" anbieten: "Eine konkrete Sprache" stelle "ein synchronisch festgelegtes System von Begriffen und grammatischen Regeln dar, während das Sprechen (...) der einzelnen Mitglieder der Sprachengemeinschaft nur diachronisch beschrieben werden" können und "sich der Festlegung" entziehe. Wirklich verwundern kann die Möglichkeit einer solchen Analogie freilich nicht, wenn man berücksichtigt, dass Rechtstexte letzten Endes in natürlicher Sprache verfasst sind und somit für ihr Verständnis selbstverständlich auf die Regeln der Sprachtheorie zurückgegriffen werden kann.

Das Buch schließt mit dem anschaulichen Fazit: "Deshalb ist der Richter gebunden und frei zugleich: Als Teil des Systems kann er dieses dezionistisch mit jedem Urteil verändern. In dem er sich am System orientiert und es insoweit als etwas ihm Entgegenstehendes betrachtet, bindet ihn das System jedoch auch an bestimmte Strukturen. So wird eine Rechtstheorie denkbar, die den Richter bei Anerkennung aller seiner Entscheidungsgewalt bindet und sich nicht anmaßt, ihm die Entscheidung abzunehmen."

Dieses Fazit ist - ebenso wie eine Vielzahl der dazu führenden Gedanken - zwar nicht durchgehend neu, aber in der Sache überzeugend. Der Wert der anschaulich geschriebenen und stets gut lesbaren Untersuchung liegt darüber hinaus aber darin, dass die von Rafi für wichtig gehaltenen "Kriterien für ein gutes Urteil" nicht nur zusammengetragen und im Zusammenhang abgehandelt, sondern zumeist auch in Beziehung zu der von ihm als zentral erachteten Urteilsfunktion der Schaffung von Rechtsfrieden gesetzt werden. Gerade weil die Lektüre des Buches wirklich Freude macht, bedauert man aus strafrechtlicher Sicht etwas, dass Rafi sich ausdrücklich auf zivilrechtliche Urteile beschränkt. Vieles, was er hierzu schreibt, mag auf das Strafrecht übertragbar sein; zur - freilich auch in anderen neueren Untersuchungen zum Thema offen gebliebenen (explizit dazu nun aber Demko, Zur "Relativität der Rechtsbegriffe" in strafrechtlichen Tatbeständen, vgl. dazu auch Gaede HRRS 2004, 213 ff.) - Frage, ob sich im Bereich des Strafrechts aus dem strengen Gesetzlichkeitsprinzips des Art. 103 II GG nicht gewisse Verschiebungen (etwa in Gestalt einer größeren Bedeutung des Wortlautarguments gegenüber Folgeerwägungen) ergeben, findet sich deshalb auch hier - ebenso verständlicher- wie aus der Sicht des Strafrechtlers bedauerlicherweise - kein weiterführender Hinweis.

Prof. Dr. Hans Kudlich, Bucerius Law School, Hamburg

***

Schmid, Niklaus: Strafprozessrecht - Eine Einführung auf der Grundlage des Strafprozessrechtes des Kantons Zürich und des Bundes; 4., ergänzte und verbesserte Aufl., Zürich 2004; 89,00 CHF; ISBN 3 7255 4697 5.

I. Bislang ist das schweizerische Strafprozessrecht durch seine Gliederung in 29 verschiedene Prozessordnungen für die schweizerische Wissenschaft und erst Recht für

den Nichtschweizer schwer zu erschließen. Mit der vierten Auflage seines bereits bestens eingeführten Lehrbuches zum zürcherischen Strafprozessrecht (3. Auflage 1997, Internetupdate 2001) legt Niklaus Schmid nun vor einem besonderen historischen Hintergrund eine der zentralen Publikationen zum schweizerischen Strafprozessrecht neu vor. Schmid erläutert in erster Linie das zürcherische Strafverfahrensrecht, in nicht geringem Umfang auch landesweit bedeutendes Strafprozessrecht. Da Schmid sein Lehrbuch nun zudem als Autor des Vorentwurfs zur anstehenden Erschaffung einer eidgenössischen Strafprozessordnung verfasst und die zürcherische Prozessordnung wohl als ausstrahlungskräftigste schweizerische Prozessordnung gelten darf, handelt es sich um eine nicht nur den Kanton Zürich betreffende Publikation. Sie ist vielmehr für die gesamte Schweiz aber auch für die rechtsvergleichende Betrachtung von Interesse.

II. Schmid stellt in seinem Lehrbuch, das sich erklärtermaßen sowohl an Studierende als auch an Praktiker richtet, in einem übersichtlichen Schriftbild das gesamte zürcherische Strafverfahren und in kürzerer Form auch das Strafprozessrecht des Bundes dar. Eingangs legt Schmid allgemeine Grundlagen und die Verfahrensmaximen des Strafprozessrechts nieder. Sodann werden die Strafverfolgungsbehörden, die Zuständigkeitsregelungen sowie die Verfahrensbeteiligten dem Leser näher gebracht. Auf Ausführungen zu den Prozessvoraussetzungen und den Prozesshandlungen folgt die Darstellung des Beweisrechts und der Zwangsmaßnahmen. Die Verfahrensstufen des Regelverfahrens und besondere Verfahrensarten werden darauf folgend näher dargestellt. Ausführungen zu den Rechtsmitteln und zum Kosten- und Entschädigungsrecht beschließen das Lehrbuch.

Die Einführung in das aktuelle zürcherische Prozessrecht gelingt Schmid auch in dieser Auflage. Der Leser spürt den hervorragenden Überblick Schmids unter anderem auch an der gelungenen Gewichtung der Ausführungen. Schmid dosiert sehr geschickt, betont besonders bedeutende Bereiche und informiert doch prägnant auch über wissenswerte aber kaum zentrale strafprozessuale Phänomene wie den "Zürcher Tieranwalt" (Rn. 507). Mit einem übersichtlichen Faltblatt am Ende des Buches stellt Schmid das Regelverfahren auf einen Blick auch graphisch gelungen dar. Schwerpunkte seiner Neubearbeitungen sind die Einarbeitung der zürcherischen Justizreform 2003 und die Einarbeitung aktueller Rechtsprechung. Die auch auf kantonaler Ebene geltenden jüngeren Strafprozessgesetze wie etwa das Bundesgesetz zur Überwachung des Fernmeldeverkehrs (BÜPF) oder das Bundesgesetz über die verdeckte Ermittlung (BVE) sind von Schmid ebenfalls umfassend eingearbeitet worden, was die Bedeutung des Lehrbuchs für die gesamte Schweiz belegt. Etwa auch die Ausführungen zum Bundesstrafverfahren, zu den Bundeskompetenzen, zur Einwirkung der Bundesverfassung und der EMRK auf das kantonale Recht oder die Gerichtsstandsregelungen betreffen nicht in erster Linie kantonales Recht. Vor allem aber arbeitet Schmid die bereits zahlreiche Vereinheitlichungen des schweizerischen Strafprozessrechts bedingende Rechtsprechung des Bundesgerichts (BGer) und des EGMR nicht nur zum zürcherischen Strafverfahren ein. Die eingehende Einarbeitung der EGMR-Rechtsprechung ist dabei für die Schweiz etwas heute Bekanntes. Aus deutscher Sicht bleibt sie bemerkenswert, zumal sich kein deutsches Lehrbuch zum Strafprozessrecht finden lässt, das die Rechtsprechung des BVerfG auf vergleichbare Art und Weise mit der prinzipiell selbständig neben die nationale Verfassungsauslegung tretenden EGMR-Judikatur ergänzt. Wenngleich auch Schmid nicht alle Ansätze der immer weiter ausgedehnten Rechtsprechung des EGMR erschließt, die heute als praktisch und wissenschaftlich im (schweizerischen) Strafprozessrecht bedeutungsvoll einzuschätzen sind, so stellt das Lehrbuch doch über die Schweiz hinaus eine lohnende Informationsquelle dar. Da die schweizerischen Gerichte überdies besonders im Kanton Zürich den deutschen Gerichten bei der Durchdringung und eigenständigen Aufnahme der Judikatur zur EMRK um Jahre voraus sind, ist insoweit schon der Nachweis der von der EMRK durchdrungenen Rechtsprechung etwa des BGer oder des Zürcher Kassationsgerichts selbst ein Gewinn.

Schmid berücksichtigt in der gesamten Neuauflage bereits durch Verweise auf den Vorentwurf, wohin sich die schweizerische rechtspolitische Diskussion derzeit bewegt. Schmid beruhigt dabei den zürcherischen Praktiker bzw. den heutigen Studenten mit der Ankündigung, dass sich auf dem Stand seines Entwurfs gegenüber dem heute geltenden zürcherischen Recht mit einer eidgenössischen Strafprozessordnung kaum fundamental etwas ändern wird. Außerhalb Zürichs wird man dies in der Schweiz vielleicht etwas kritisch lesen. Ob Schmid Recht behalten wird, bleibt abzuwarten, wenngleich er in der Sache gute Gründe für seine Auffassung anführen kann.

Vielleicht für den deutschen Rezensenten besonders erwähnenswert scheint der Umgang Schmids mit der prozesswissenschaftlichen Diskussion. Schmid schickt seinem Lehrbuch selbst die Ankündigung voran, dass das Schrifttum vergleichsweise zurückgenommen Eingang findet. Der Autor konzentriert sich auf die Rechtsprechung und verweist in den entsprechenden Fußnoten nur selten auf spezifisch einschlägige Literatur. Schmid nimmt im Wesentlichen lediglich zum Eingang der das Buch gliedernden Paragraphen kürzere Literaturübersichten auf, die sich überwiegend sofort als geeignete Auswahl erweisen, in denen man in Einzelfällen aber auch neuere und wichtige Publikationen vermisst (auf S. 38 wird nur auf die Altauflage des EMRK-Handbuches von Villiger verwiesen). Da Schmid selbst seinen insoweit reduzierten Anspruch offen legt, kann die Zurücksetzung des Schrifttums selbst kein Grund zur Kritik an der Umsetzung des Vorhabens sein. Jedenfalls an den Stellen, an denen Schmid selbst betont, dass Streit herrscht, ist es jedoch in einem so umfassenden Lehrbuch wie dem von Schmid bedauerlich, im Ergebnis nur die Meinung des Autors zu erfahren. Für den Studierenden aber auch für den Praktiker, dem die Offenlegung des Streits eine gewisse Unsicherheit bzw. Argumentationspotential signalisiert (vgl. etwa Rn. 598 zum Anwendungsbereich von

ne bis in idem), wären gerade hier nähere Verweise ein Gewinn, falls sich etwa die Studierenden auch aus dem durch das Lehrbuch gewonnenen Verständnis heraus für die Meinung des Autors entscheiden sollen. Erst recht dann, wenn Schmid Aussagen trifft, die jedenfalls in ihrer Weite nicht mit der Rechtsprechung etwa des EGMR vereinbar sind (vgl. Rn. 61 und die damit offenbar partiell konfligierenden Prinzipien der Entscheidung Coëme u.a. v. Belgien, Rep. 2000-VII, §§ 101 ff.), sollten Hinweise ergänzt werden, die dem Studierenden eine Nachprüfung der von Schmid aufgestellten These ermöglichen (vgl. etwa auch die Rn. 176 ff. zur eingeschränkten Unmittelbarkeit, bei denen sich für Studierende und Praktiker gleichermaßen z.B. ein Verweis auf Trechsel AJP 11 [2000], 1366, 1369 f. angeboten hätte, der anders als Schmid im Licht der EGMR-Rechtsprechung den zunächst zu überwindenden Grundsatz der Unmittelbarkeit betont). Wenn sich in der Vorgehensweise Schmids auch eine in der Schweiz offenbar verbreitete Lehrtradition niederschlägt, scheint sie doch bislang ein wenig dazu zu verführen, mit dem Buch Schmids so zu lernen, dass man die Position Schmids aufnimmt und repetiert. Wenn aber gerade das Strafprozessrecht von einem stets erneut zu bestimmenden Ausgleich von Individual- und Gemeinschaftsinteresse geprägt sein soll (vgl. so etwa Rn. 13), sollten sowohl der Student als auch der Praktiker hierfür ein Problembewusstsein entwickelt haben, das sie gerade davon abhält, abstrakten Lehrsätzen unkritisch gegenüberzustehen und das sie befähigt, ihre eigene Verantwortung für den stets eigenständig zu würdigenden neuen Fall wahrzunehmen. Es hat den Anschein, als könnte Schmid den Wert seines Buches noch weiter steigern, wenn er wohldosiert die argumentative Möglichkeit abweichender Auffassungen stärker auch durch eine hervorgehobene Bezugnahme auf das Schrifttum demonstrieren würde.

III. Ein Fazit ist schnell gefunden. Das Lehrbuch von Schmid verteidigt auch in der vierten Auflage seinen Platz in der schweizerischen Literatur zum Strafprozessrecht. Gerade auch durch Bezüge zur anstehenden Vereinheitlichung des schweizerischen Rechts, Darstellungen des neueren Bundesrechts und die Einarbeitung der stetig wachsenden BGer- und EGMR-Rechtsprechung baut Schmid die Bedeutung seines Werks noch weiter aus. Der Leser wird auf aktuellstem Stand über das zürcherische und das gesamtschweizerische Strafprozessrecht informiert. Dies macht die Publikation für eine gründliche Befassung mit dem zürcherischen Strafprozessrecht unverzichtbar. Für das landesweite schweizerische Strafprozessrecht ist sie ein bedeutender Beitrag. Für die rechtsvergleichende bzw. auch auf die EMRK abstellende prozessrechtliche Wissenschaft und Praxis etwa in Deutschland ist der Schmid eine Quelle, die rege Beachtung verdient.

Wiss. Ass. Karsten Gaede (Zürich)